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Full text of "Ethik des reinen Willens"

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I 


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^^ÄRAB\^" 


Cohen,  Ethik  des  reinen  Willens 


SYSTEM 


DER  PHILOSOPHIE 


ZWEITER  TEIL 


ETHIK  DES  REINEN  WILLENS 


VON 

HERMANN  COHEN 


BERLIN 
BKUNO  CASSIRER 

19(M 


ETHIK 

DES  REINEN  WILLENS 


HERMANN  COHEN 

i'KOKtSSOH  AX  UKIi  rMVKHSITÄT  .MAfiBt'R; 


BERLIN 

BRUNO  CASSIRER 

1904 


Vorrede. 

Die  Logik  der  reinen  Erkenntniss  hatte  als  erster  Teil  eines 
Systems  der  Philosophie  nicht  nur  auf  den  zweiten  Teil  hinge- 
wiesen, sondern  auch  m  ihrer  Anlage  und  in  ihren  Ausführungen 
zugleich  für  die  Geisteswissenschaften  eine  grundlegende  Vorsorge 
getroffen.  Die  specielle  Fürsorge  fallt  der  Ethik  zu;  sie  wird  zur 
positiven  Logik  der  Geisteswissenschaften. 

Die  Logik  der  reinen  Erkenntniss  war  ferner  auf  die  Mathe- 
matik begründet  worden,  um  sich  mit  dieser  für  den  Aufbau 
der  Naturwissenschaft  zu  verbinden.  In  analoger  Weise  wird 
hier  der  Versuch  gemacht,  die  Ethik  auf  die  Rechtswissen- 
schaft zu  orientieren.  Diese  ist  die  Mathematik  der  Geistes- 
wissenschaften. Die  Methodik  ihrer  exakten  Begriffe  hat  die 
Ethik  für  ihre  Probleme  der  Persönlichkeit  und  der  Handlung 
kritisch  zu  belauschen.  Die  Methode  der  Reinheit  hat  sich  in 
dieser  Richtung  auf  die  Erschliessung  eines  wissenschaftlichen 
Inhalts  zu  bewähren.  Die  Ethik  des  reinen  Willens  muss  dem- 
zufolge zur  Prinzipienlehre  der  Philosophie  von  Recht 
und  Staat  werden.  Die  Grundlinien  zu  einer  solchen  sind  hier 
gezogen^  Ausbau  und  Durchführung  müssen  wiederum  einem 
zweiten  Bande  vorbehalten  werden. 

Die  Beachtung  und  die  Kritik  der  religiösen  Probleme  und 
Begriffe  dürfte  darüber  nicht  zu  kurz  gekommen  sein.    Aber  ob- 


VI  Vorrede. 

zwar  der  Streit  und  der  Krieg  in  den  politischen  und  den  reli- 
giösen Ansichten  noch  immer  mit  verteilten  und  vertauschten  Rollen 
geführt  wird,  so  kommt  es  über  Einen  Punkt  doch  allmählich  zur 
Klarheit,  nämlich  darüber,  dass  die  Religion  und  die  Politik 
innerlichst  verbunden  sind;  verbündet  ebenso  oft  zu  ihrer  eigenen 
Zerfleischung,  wie  schliesslich  doch  auch  zu  ihrer  lebendigen  und 
wahrhaftigen  Fortentwickelung. 

Endlich  noch  ein  persönliches  Wort  über  dieses  Buch; 
nicht  zwar  über  das,  was  es  leisten  mag,  aber  über  das,  was  es 
anstrebt.  Wenn  einer  eine  Ethik  schreibt,  so  setzt  er  sich  in  ein 
Glashaus.  Der  bekannte  Ausspruch  ist  freilich  cynisch :  dass  der 
Ethiker  ebensowenig  ein  guter  Mensch  zu  sein  brauche,  wie  der 
Maler  ein  schöner.  Vielleicht  aber  entspringt  er  nicht  sowohl 
einer  absichtlichen  Verletzung  des  Schamgefühls  als  vielmehr 
einer  gewissen  Verschämtheit,  die  einen  überkommt,  wenn  man 
bei  Lebzeiten  eine  Ethik  herausgibt.  Und  der  Vergleich  selbst 
enthält  die  Correktur  in  sich. 

Ein  schöner  Mensch  braucht  freilich  der  Maler  nicht  zu 
sein;  wohl  aber  muss  die  Idee  des  Schönen  hell  und  klar  in 
seinem  Geiste  leuchten.  Und  von  diesem  Lichte  wird  wohl  auch 
ein  Strahl  in  seine  arme  Seele  fallen.  Der  Ethiker  an  seinem 
Teile  hat  der  Idee  des  Guten  nachzuspüren.  Die  Sittlichkeit 
muss  ihm  zuvörderst  lediglich  ein  Problem  der  Erkenntniss 
werden,  in  aller  der  Genauigkeit  und  Nüchternheit  und  Sachlich- 
keit, welche  jedes  theoretische  Problem  erfordert.  Die  metho- 
dische Arbeit  befreit  ihn  allgemach  von  den  Skrupeln  über  seine 
persönliche  Sufficienz  gegenüber  diesen  höchsten  und  zartesten 
Anliegen  des  Menschengeschlechts.  Aber  die  methodische  Arbeit 
erhöht  zugleich  sein  sittliches  Selbstbewusstsein,  indem  sie  es 
in  einer  unaufhörlichen  Selbstprüfung  rege  erhält. 

Diese  methodische  Arbeit  hat  alle  Ethik,  welche  nach 
Classicität  der  Grundlegung  strebte,  als  ein  Suchen  gedacht  und 
gehandhabt.  Dieses  Suchen  aber  ist  und  bleibt  nicht  ausschliesslich 
ein  theoretisches,  ein  Untersuchen,  sondern  es  ist  zugleich  ein 
Verlangentragen  nach  der  Enthüllung  und  Ausgrabung  desje- 
nigen Schatzes  und  wie  ein  Werben  um  ihn,  den  der  Geist  als 
den  höchsten,  als  den  einzigen  Wert  des  menschlichen  Daseins 
anerkennt:  die  Menschheit  in  allen  Völkern  und  in  jedem  Menschen. 


Vorrede.  VII 

Mag  die  Realität  des  Sittlichen  in  der  empirischen  Menschen- 
welt noch  so  arg  verschleiert,  verlästert  und  verschränkt  werden, 
der  sittliche  Geist  kann  an  ihrem  unverlierbaren  Besitze  nicht 
verzweifeln.  Die  Ethik  aber  hat  keine  andere  Aufgabe,  als  gegen 
das  Irrewerden  und  gegen  das  Irremachen  der  sittlichen  Kultur 
an  sich  selber,  an  ihrer  Wahrheit  und  Wahrhaftigkeit,  sowie  an 
dem  unvergleichlichen  Werte  ihres  höchsten  Gutes  die  Mensch- 
heit zu  verwahren. 


Inhalts  -  Verzeichniss. 


Seite 

Vorrede I 

Einleitung 1 

Ethik  die  Lehre  vom  Menschen  —  Ethik  die  Lehre  vom  Be- 
griffe des  Menschen  —  Mehrheit  und  Allheit   der  Menschen 

—  Der  Sokratische  Begriff  des  Menschen  —  Der  Platonische 
Begriff  der  Menschenseele  —  Die  Allheit  das  Prinzip  des 
Menschen  —  Das  Individuum  in  der  Anthropologie  —  Ver- 
hAltniss  zwischen  Ethik  und  Psychologie  —  Verhftltniss  der 
Psychologie  zur  Physiologie  —  Der  psychologische  Natura- 
lismus des  Inviduums  —  Sein  und  Sollen  —  Kant  und  Piaton 

—  Die  Stoa  und  Spinoza  —  Der  Fehler  des  Pantheismus 
für  die  Ethik  —  Verbältniss  zwischen  Denken  und  Wollen  — 


Wille  und  Intellekt  nicht  in  einander  aufzuheben  —  Psycho- 
logie im  Dienste  der  Metaphysik  —  Der  absolute  Wille  — 
Protestantismus  als  Ethiko-Tbeologie  —  Der  Wille  als  Wert 
der  Wahrheit  —  Die  Logik  und  die  Wahrheit  —  Idee  und 
Ding  an  sich  —  Idee  und  allgemeine  Naturgesetze  —  Die 
Idee  in  der  Ethik  —  Der  Seinswert  des  Sollens  —  Ethik  des 
reinen  Willens  —  Die  Geschichte  —  Das  Ideal  des  Weisen 
Christus  als  Individuum  —  Christus  als  einziges  Individuum 
Volk  und  Staat  —  Die  Personen  und  die  Tatsachen  —  Die 
materialistische  Geschichtsansicht  —  Die  sittlichen  Ideen  und 
die  Kttlturmflchte  —  Die  Logik  Voraussetzung,  nicht  selbst 
Ethik  —  Die  Welueschichte  des  Geistes  —  Das  Individuum 
der  Idee  —  Die  Sociologie  und  die  Ent Wickelung  —  Das 
Normalsebild  —  Die  dialektische  Bewegung  —  Die  angeb- 
liche   Identität   von   Logik    und    Ethik    -  -    Der   Fehler   des 


Inhalts-Verzeichniss 


Pantheismus  —  Das  Schicksal  des  Individuums  —  Das 
Interesse  der  praktischen  Vernunft  —  Glauben  und  Wissen 
—  Die  ethische  Kultur  —  Die  Selbstverständlichkeit  des 
Sittlichen  —  Woher  und  Wohin?  —  Ethik  und  Religion  — 
Die  Ideen  und  die  Individuen  —  Die  Propheten  —  Die 
Transscendenz  Gottes  —  Verhältniss  von  Religion  und  Kunst 

-  Das  Uebersinnliche  —  Die  sogenannten  sozialen  Kunst- 
werke -  Religion  und  Politik  —  Der  Particularismus  der 
Religion  -  -  Staat  oder  Kirche?  —  Verhältniss  der  Ethik  zur 
Rechtslehre  —  Die  Handlung  --  Ethik  die  Logik  der  Geistes- 
wissenschaften —  Die  Rechtswissenschaft  das  Analogon  der 
Mathematik  —  Das  Naturrecht  —  Völkerrecht;  göttliches 
Recht;  Vemunftrecht  —  Ethik  und  Rechtswissenschaft  — 
Der  Wille  in  der  Rechtswissenschaft  —  Der  Wille  und  die 
Handlung  --  Die  Einheit  der  Handlung  —  Die  Einheit  des 
Rechtssubjektes   —   Die  Associationen   —  Die  Gemeinschaft 

-  Die  Allheit  und  die  juristische  Person  —  Die  Allheit  und 
der  Staat  —  Das  Staatsrecht  und  die  Ethik  —  Die  Einheit 
des  Menschen  —  Der  reine  Wille  —  Staat  und  Menschheit. 

Erstes  Kapitel. 

Das  Grundgesetz  der  Wahrheit 79 

Die  Summe  der  Logik    -  -  Die  Grundlagen  als  Grundlegungen 
—  Wahrheit  und  die  Idee  des  Guten  — -  Zusammenhang  der 
Ethik   mit   der  Logik  Die  Religion  und  Prometheus 

Wahrheit  in  der  Verbindung  von  Logik  und  Ethik  —  Lessings 
Parabel  Die  Sittlichkeit  in    Wissenschaft    und  Recht  — 

Die  Methode  der  Reinheit     -     Das  Ding  und  die  Sache  - 
Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein        -   Subjekt  und  Person 

-  Die  Zweideutigkeit  des  Gesetzes  —  Das  Sichere  der 
Hypothesis  --  Psyche  und  Ethos  -  Die  Hypothesis  das 
Werkzeujg  der  Wahrheit  —  Der  Trieb  -  Anwendbarkeit 
der  Continuit&t  Der  Begriff  des  Willens  —  Der  Wille 
und  die  Handlung  —  Bewegung  und  Bewusstsein  —  Pro- 
jektion des  Voreinander  -       Bewegung  im  Denken  und  Wollen 

Das  logische  und  das  ethische  Problem. 

Zweites  Kapitel. 

Die  Grundlegung  des  reinen  Willens 104 

Die  Tragödie  und  das  Problem  des  Willens  -  Der  göttliche 
Wille  und  der  Logos  -  Der  reine  Wille  der  Sittlichkeit 
Begehrung  und  Vorstellung  -  Piatons  Terminologie  --  Rat 
und  Vernunft  -  Der  Affekt  —  Die  Gesinnung  -  -  Die 
Polemik  gegen  das  Gesetz  —  Die  Schranke  in  der  Beurteilung 
des  Willens  -  Die  Absicht  -  Der  Vorsatz  —  Impulsus 
und  propensione  —  Affectus  und  Affectio  —  Bewegung  und 
Bewusstsein  -  Die  centripetale  und  die  centrif ugale  Bewegung 
—  Der  Uebergang  von  Denken  in  Bewegung  -  Die  Unter- 
scheidung  der  sensibelen    und   der   motorischen  Centren 


Inhalts-Verzeichniss.  XI 


Die  Centren  nar  negative  Bedingungen  —  Die  Reinheit  der 
Bewegung  —  Der  Seelenbegriff  der  griechischen  Kultur  — 
Die  Selbstbewegung  —  Die  Tendenz  —  Die  Tendenz  und 
der  Inhalt  —  Das  Aeussere  und  das  Innere  im  Problem  des 
Inhalts  —  Die  Mehrheit  von  Tendenzen  —  Unterschied  der 
Mehrheit  im  Denken  und  im  Wollen  -  -  Die  Tendenz  und  die 
Sonderung  —  Die  Mehrheit  der  Tendenzen  im  Begriffe  der 
Tendenz  —  Die  Tendenz  und  die  Continuität  —  Die  Tendenz 
und  die  Realität  —  Der  Gegensatz  zum  Gegebenen  —  Die 
Aufgabe  —  Das  Gefühl  von  Lust  und  Unlust  -  Der  Eudae- 
monismus  und  die  Sophistik  —  Die  soziale  Menschheit  - 
Der  Zusammenhang  von  Lust  und  Unlust[mit  dem  Individuum 
^  Die  Geschlechtsliebe  und  die  Kunst  —  Die  Totalität  des 
Lebensgeffihls  —  Unterschied  von  Lust  und  Affekt  Der 
Mischungscharakter  von  Lust  und  Unlust  — -  Verhältniss  der 
Ethik  zur  Psychologie  —  Consequenzen  der  betonten  Em- 
pfindung —  Lust  und  Unlust  als  Urbewusstsein  Die  „not- 
wendigen Vorbegriffe"  Johannes  Müllers  —  Die  doppelte 
Qualität  des  Gefühls  und  die  Bewusstheit  -  Zusammenhang 
dieser  Frage  mit  dem  Hedonismus  -  Lust  und  Unlust  als 
Wächter  —  Verbindung  mit  Zweck  und  Wert  -  Aristo- 
phanes  — -  Wertmesser  und  Würdemesser. 

Drittes  Kapitel. 

Der  reine  Wille  in  der  Handlung 156 

Der  Inhalt  des  Affekts  und  der  Gegenstand  des  Willens 
Trieb  und  Gedanke  —  Vermittelung  zwischen  Beiden  durch 
einen  Begriff  —  Aristoteles*  praktische  Vernunft  —  Die  Kritik 
der  praktischen  Vernunft  und  Fichte  —  Der  Begriff  und  die 
Aufgabe  —  Die  Aufgabe  und  die  Handlung  -  Vorurteile  der 
Psychologie  - —  Unterschied  der  Handlung  im  Denken  und 
Wollen  —  Unterschied  des  Gegenstands  im  Denken  und  im 
Wollen  —  Die  Aufgabe  und  die  Verinnerlichung  —  Die 
Aufgabe  und  der  Sinn  —  Der  Vorsatz  der  Aufgabe  -  Ver- 
hältniss der  Rechtsphilosophie  zu  Logik  und  Ethik  ~-  Die  Be- 
dingung Grundbegriff  des  Rechts  -  Die  Voraussetzung  zweier 
Rechtssubjekte  —  Das  Problem  des  zukünftigen  Willens 
Einheit,  Einzelheit  und  Allheit  —  Die  Einheit  der  Rechts- 
handlung —  Der  bedingte  Wille  —  Die  Handlung  als  Be- 
dingung --  Der  absolute  Gegenstand  Die  persönliche 
Einheit  —  Das  Subjekt  und  die  Allheit  Gesang  und 
Sprache  —  Wort  und  Satz  —  Die  Ausgestaltung  des  Begriffs 
und  des  Affekts  —  Die  Rechtsformeln  --  Die  Sprachhandlung 
—  Der  Gefühlsannex  und  das  Gefühlssuffix  -  Das  Willens- 
gefühl -  Das  Willens-Sprachgefühl  Der  Affekt  als  Willens- 
gefühl —  Der  Motor  und  das  Motiv. 

Viertes  Kapitel. 

Das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens 191 

Der  Unterschied  zwischen  Willen  und  Denken      -  Das  Selbst- 
bewusstsein und  die  systematische  Philosophie    ---  Die  Einheit 


XII  Inhalts-Verzeichoiss. 


des  Bewusstseins  bei  Kant  —  Einheit  und  Selbst  —  Affekt 
nicht  Grund  des  Selbst      -  Wir  und  Ich  —  Ich  und  Nicht-Ich 

—  Woher  der  Nebenmensch?  —  Die  Idee  des  Menschen  — 
Der  Andere  der  Ursprung  des  Ich  —  Die  Correlation  der 
beiden  Subjekte  —  Die  Religion  und  der  E^ismus  —  Der 
Fremdling  und  der  Mensch  —  Die  Liebe  —  Amor  intellec- 
tualis  —  Der  Nftchste  —  Die  relativen  Gemeinschaften  — 
Die  Nftchstenliebe  und  die  aesthetische  Liebe  —  Die  mystische 
Metaphysik  —  Das  sinnliche  Individuum  —  Die  religiöse  und 
die  juristische  Fassung  des  Selbstbewusstseins  —  Die  juristische 
Person  —  Das  methodische  Verhftltniss  von  Ethik  und  Rechts- 
wissenschaft —  Der  Mangel  in  der  Disposition  der  transscen- 
dentalen  Methode  —  Das  Problem  einer  Kritik  der  reinen 
praktischen  Vernunft  —  Die  Stiftungen  und  die  Genossen- 
schaften —  Die  Gesamtheit  der  Willen  —  Die  juristische 
Person  eine  Fiktion?  —  Die  Discussion  zwischen  Heusler  und 
Gierke  —  Die  Einheit  der  Allheit  —  Das  Vorurteil  der 
Einzelheit  —  Die  juristische  Person  und  die  Affekte  —  Die 
juristische  Person  als  die  moralische  —  Die  Gemeinschaft 
und  die  Natur  —  Die  natürlichen  Gemeinschaften  —  Der 
Gentilbegriff  —  Der  Staat  —  Rousseaus  volonte  universelle 

—  Die  Allheit  des  Staatswillens  —  Der  Doppelsinn  im 
Anarchismus  —  Das  Selbstbewusstsein  des  Staates  —  Der 
Geist  —  Der  Vertrag  —  Ich  und  Du  —  Der  Unterschied 
von  Staat  und  Volk  —  Die  rechtshistorische  Theorie  vom 
Volksgeist  —  Hesels  allgemeiner  Geist  —  Lassalles  Ver- 
tauschung von  Logik  und  Ethik  —  Der  Begriff  des  Sozialismus 

—  Die  nationale  Idee  —   Das  politische  Selbstbewusstsein 

—  Chamisso. 

Fünftes  Kapitel. 

Das  Gesetz  des  Selbstbev/usstseins 244 

Der  Wille  zum  Selbst  —  IMe  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins 
im  Staate  —  Pas  Gesetz  und  das  Sollen  —  Die  Satzimg  tmd 
die  tmgeschriebenen  Gesetze  —  Die  einzelnen  Gesetze  —  Der 
Opfertod  des  Sokrates  —  Die  Paradozie  im  Gesetze  —  Das 
sittliche   Gesetz   nicht  Naturgesetz  —  Legalitftt  und  Moralität 

—  Die  Form  des  Gesetzes  —  Der  Zwang  —  Die  Normen  — 
Die  Normen  nicht  Urteile  —  Die  Modalität  für  die  Rechts- 
norm —  Die  Notwendigkeit  als  Allgemeinheit  —  Kants  Form 
des  allgemeinen  Gesetzes  —  Der  Uebergang  der  Form  in 
den  Inhalt  —  Das  Gesetz  hat  keine  LQcke  —  Modaler  Unter- 
schied  von   den  Natureesetzen  —  Der  Begriff  der  Zukunft 

—  Die  rückwirkende  Kraft  des  Gesetzes  —  Die  Romantik 
für  die  Vergangenheit  —  Die  Bedeutung  der  Zukunft  fOr 
das  Selbstbewusstsein  —  Fiktion  und  Hypothesis  —  Der 
Idealismus  des  Selbstbewusstseins. 

Sechstes  Kapitel. 

Die  Freiheit  des  Willens 270 

Die  Freiheit  des  Geistes  —  Gott  Centralbegriff  der  Kultur  - 


Inhalts- Verzeichniss.  XIII 


Die  Freiheit  des  Glaubens  —  Die  Moralstatistik  —  Die 
Causalitftt  —  Der  Zusammenhang  von  Statistik  und  Politik 
—  Die  Eudaemonie  —  Lust  als  Werden  oder  Sein  —  Die 
Magenfrage  —  Der  politische  Optimismus  —  Die  Kirche 


Die  SQnde  —  Die  Erlösung  —  Die  politische  Entstehung  des 
Christentums  —  Luther  —  Der  Fehler  Rousseaus  —  Das 
radicale  Böse  —  Der  Gottmensch  —  Das  Leiden  —  Das 
tragische  Problem  —  Die  Reformation  —  Territorium  und 
Staat  —  Der  Doppelbegriff  der  Gesellschaft  —  Qu6telet  — 
Die  Voraussetzung  für   das  Ziel   der  Moralstatistik  —  Marx 

—  Produkt  und  Faktor  —  Die  Freiheit  als  Kraft  —  Die 
Antimonie  —  Der  Charakter  —  Die  Idee  als  Zweck  —  Die 
Autonomie  —  Der  Endzweck  als  Selbstzweck  —  Der  neue 
Sinn  der  Freiheit  —  Der  Marktpreis  und  die  Person  —  Die 
Freiheit  durch  die  Autonomie  nicht  erledigt. 

Siebentes  Kapitel. 

Die  Autonomie  des  Selbstbewusstseins 307 

Gesetz  und  Selbst. 

1.  Die  Selbstgesetzgebung 309 

Heteronomie  als  Pathok>gie  —  Das  Grundgesetz  der  Wahr- 
heit —  Religion  und  PoHtik  —  Rousseau  —  Aesthetik  und 
Metaphysik  — -  Hegels  Fehler  —  Die  Offenbarung  —  Das 
Wort  Gottes  - —  Die  Religiosität  der  literarischen  Humanität 

—  Schiller  —  Die  religiöse  Literatur  —  Der  Pietismus  — 
Der  Fehler  in  Kants  Autonomie  —  Die  Gesetzgebung  und 
das  Selbst  —  Der  intelligible  Charakter  —  Die  politische 
Freiheit  —  Die  aesthische  Freiheit  —  Der  Unterschied 
zwischen  Gesetzgebung  und  Gesetz  —  Die  einzelne  Handlung 
und  der  einzelne  Inhalt. 

?.  Die  Selbstbestimmung 327 

Der  Vorsatz  —  Die  Bestimmtheit  —  Gesinnung  und  Charakter 

—  Der  neue  Anfang  —  Die  Stufe  der  Selbstverwirklichung  — 
Causalität  und  Selbstbestimmung  —  Die  Freiheit  des  causalen 
Denkens  —  Der  Vorsatz  und  die  Dynamitniaschine  —  Das 
Selbstbewusstsein  subjektiv  und  objektiv  —  Die  Bestimmung 
des   Menschengeschlechts  —   Die   Hemmung   des  Vorsatzes. 

B.  Die  Selbstverantwortung 333 

Der  Anteil  des  Affektes  —  Die  Normalität  des  causalen 
Denkens  —  Der  Zusammenhang  des  theoretischen  und  des 
ethischen  Skepticismus  —  Die  Frage  nach  dem  Ursprung  des 
Bösen  —  Das  Schicksal  und  die  Schuld  —  Das  Geschlecht 
und  das  Individuum  —  Die  Tragödie  —  Die  Sünde  ohne 
Wissen  —  Die  Schuldfrage  im  Rechte  —  Der  Vorsatz  nicht 
deich  dem  Denken  der  Causalität  —  Die  Schuld  vor  dem 
Richter  und  für  den  Verbrecher  —  Die  Eigenart  der  Ethik 
in  der  Frage  der  Zurechnung  —  Die  Vererbung  —  Die 
Selbstverantwortung  als  Selbsterkenntniss. 

4.  Die  Selbsterhaltung 352 


XIV  Inhahs-Verzeichniss. 


Der  lo^sche  Zusammenhang  zwischen  Verbrechen  und  Strafe 
-  -  Die  Teilung  zwischen  Strafe  und  Schuld  —  Der  Sinn 
der  Strafe  fOr  den  Verbrecher  —  Die  Strafe  als  rechtliche 
Anerkennung  —  Die  Austilgung  des  Schuldbewusstseins  — 
Der  Antritt  der  Strafe  —  Der  Mord  und  die  Vergeltung  — 
Die  Vernichtung  eines  sittlichen  Wesens  —  Die  Selbsterhaltung 
als  Grenze  der  Strafe  —  Das  Prinzip  der  Besserung  —  Die 
Selbstwiedererzeugung  —  Der  Doppelsinn  in  dem  Punkte  der 
Menschenwürde  —  Der  Schutz  der  Gesellschaft  —  Die 
Selbständigkeit  der  Ethik  gegenüber  Religion  und  Recht  — 
Die  Voraussetzung  d^r  theoretischen  Bildung. 

Achtes  Kapitel. 

Das  Ideal 368 

Der  Mensch  und  die  Wirklichkeit  —  Die  Anwendung  und  die 
Umwendung  —  Die  Typik  der  praktischen  Vernunft  —  Das 
Reich  der  zwecke  —  Die  CoUision  der  Ethik  mit  der  Religion 

—  Ueberelnstimmune  und  Unterscheidung  zwischen  Wissen 
und  Willen  —  Der  Wille  und  der  Raum  —  Der  Wille  und 
die  Zeit  —  Die  Zukunft  —  Raum  und  Zeit  im  Verhältniss 
zur  Allheit  —  Der  Betriff  der  Ewigkeit  —  Die  Sittlichkeit 
des  Mythos  —  Die  Religion  der  Propheten  —  Der  Fremdling 

—  Der  Krieg  —  Der  Messianismus  —  Der  Weltfrieden  — 
Die  Ewigkeit  —  Der  Gegensatz  zur  Zeit  —  Die  Ewigkeit  als 
Blickpunkt  der  sittlichen  Arbeit  —  Die  Aufgabe  der  Ewiekeit 

—  Das  Selbstbewusstsein  der  Ewigkeit  —  Die  Unsterblich- 
keit  ein   theoretisches  Problem  —  Die  Gefahr  für  die  Ethik 

—  Der  Fortschritt  in  der  Reinheit  —  Die  Hypothesis  der 
Sitdicbkeit  —  Die  Transscendenz  des  Guten  —  Das  Ideal  — 
Das  Kunstwerk  —  Das  Ideal  der  Ethik  vorbehalten  —  Das 
ethische  Problem  der  Wirklichkeit  —  Das  Musterbild  der 
Vollkommenheit  —  Das  Unvollkommene  der  Vervollkomm- 
nung —  Der  Anteil  der  Ethik  am  Idealismus  —  Der  Kampf 
ums  Dasein  —  Die  Gesinnung  des  Ideals 

Neuntes  Kapitel. 

Die  Idee  Gottes 405 

Das  Absolute  —  Der  Nus  des  Anaxagoras  —  Die  Metaphysik 
als  Material  der  Ethik  —  Das  Desiderat  der  Wirklichkeit  — 
Die  Orientierung  auf  Recht  und  Staat  —  Der  ethische  Staats- 
begriff —  Das  Ideal  und  die  Unsterblichkeit  —  Die  Vor- 
bedingungen der  Reinheit  —  Der  Idealismus  des  Bewusst- 
scins  —  Die  Wirklichkeit  und  Dauer  der  Natur  —  Die 
logische  Disposition  der  Gottesidee  —  Gott  als  modaler  Begriff 
der  Wahrheit  —  Das  DoppelverhAltniss  zwischen  Ethik  und 
Logik  —  Die  Anpassung  —  Die  falsche  Einheitlichkeit  der 
Erkenntniss  —  Gott  als  Wahrheit  —  Der  Bestand  der  Natur 
und  die  Ewigkeit  —  Die  Deutungen  der  Trinit&t  —  Das 
Problem   der  Schöpfung     —  Die  Vorsehung  —  Pessimismus 


Inhahs-Verzeichniss.  XV 


und  Quietismus  —  Das  Problem  der  Theodicce  —  Der  Sieg 
des  (Juten  —  Die  Frage  der  Person  —  Die  zwei  ver- 
schiedenen Begriffe  der  Person  —  Wissen  und  Glauben  — 
Der  Pantheismus  —  Spinoza  —  Recht  gleich  Macht  —  Die 
aesthetische  Identitätsphilosophie  —  Die  Vereinigung  als 
Harmonisierung  —  Einheit  nicht  Identität  —  Die  Trans- 
scendenz  Gottes  —  Gegen  zwei  Irrtümer  —  Nicht  Trans- 
scendenz  zwischen  Natur  und  Sittenlehre. 

Zehntes  Kapitel. 
Der  Begriff  der  Tugend 442 

Die  Pflicht  —  Das  Gute  und  die  Güter  —  Die  Einheit  der 
Tagend  —  Die  Gesinnung  und  die  Betätigung  —  Die  Weg- 
weiser der  Stetigkeit  —  Die  Beständigkeit  —  Das  System 
der  Tugenden  —  Die  Einteilongsgründe  der  Tugendarten  — 
Die  Classification  durch  den  Affekt  —  Das  aesthetische  Gefühl 

—  Affekt  und  Inhalt  —  Die  Liebe  —  Der  Eros  —  Grazie  und 
Gunst  —  Die  Nächstenliebe  —  Die  Sondergemeinschaft  — 
Die  relativen  Gemeinschaften   und   die  Allheit  —   Die  zwei 
Grade   der  Tugend   —   Das  Mittlere;   die  ethischen  und  die 
Denktugenden  —  Die  Denkgefühle  und  die  Bewegungsgefühle 

—  Der  Affekt  der  Ehre  —  Der  religiöse  und  der  juristische 
Begriff  der  Ehre  —  Falstaff  —  Der  Grundgedanke  der 
Civilisation  —  Die  falsche  Ehre  —  Shylock  —  Der  Jude 
und  der  Staat  —  Ehre  Affekt  für  die  Tugenden  ersten  Grades. 

Elftes  Kapitel. 
Die  Wahrhaftigkeit 471 

Der  Begriff  und  dieSeele — DieSelbsterkcnntniss  —  DieSelbst- 
Prüfung  —  Der  Unterricht  in  der  Sittlichkeit  —  Die  aesthe- 
tische Erziehung  —  Der  Unterschied  geistiger  und  sittlicher 
Bildung  —  Die  Differenz  der  Anlagen  —  Die  Differenz  der 
geistigen  und  materiellen  Kultur  —  Der  Fortschritt  in  der 
Geschichte  —  Der  Zusammenhang  von  Poesie  und  Philosophie 

—  Die  Voraussetzungen  der  Wissenschaft  —  Hellenismus 
und  Humanismus   —   Grundlegung   und   Rechenschaftlegung 

—  Aristoteles'  Denken  des  Denkens  —  Die  systematische 
Theologie.  Die  Politik  —  Die  protestantische  Staatsidee  — 
Die  souveräne  Sittlichkeit  des  Staates  —  Die  Persönlichkeit 
des  Staates  —  Das  allgemeine  Wahlrecht  —  Die  Identität 
und  die  Negation  —  Gegensätze  und  Veränderungen  — 
Die  Besonnenheit  —  Der  Eid  —  Die  Zeugenaussage  — 
Der  religiöse  Eid  —  Die  Notlüge  —  Die  zwei  Anderen  — 
Die  Colhsionen  bei  jeder  Tugend  —  Der  Zusammenhang  der 
Tugendgrade. 

Zwölftes  Kapitel. 

Die  Bescheidenheit -^1 

Die  Gescheidtheit   —   Der  Affekt  der  Liebe       -   Der  Sitten- 


XVI  Inhalts-Verzeichniss 


lichter  —  Die  Gefahr  in  der  geistigen  Arbeit  —  Der  Apho- 
rismus —  Der  Humor  —  Der  Roman  und  das  Epos  —  Die 
Kunst  und  das  Forum  der  Ethik  —  Die  Heroen  und  die 
Modegenies  —  Die  Vollkommenheit  —  Der  Carlyle-Stil  — 
Die  auserw&hlten  Individaen  und  Rassen  —  Die  Nervosität 
des  Egoismus  —  Die  Handlung  und  die  Tat  —  Demut. 
Discretion  —  Abtrennung  der  Sache  von  der  Person  —  Der 
Hass  und  der  Neid  —  Unterschied  von  der  Demut  —  Die 
Selbstachtung  —  Selbsterkenntniss  und  Ironie. 

Dreizehntes  Kapitel. 
Die  Tapferkeit 522 

Die  Sinnlichkeit  bei  Piaton  —  Das  Vorurteil  gegen  die  Natur 

—  Der  Aeschyleische  Prometheus  —  Das  Menschenlos  des 
Leidens  —  Goethes  Faust  —  Die  politische  Tugend  —  Die 
politische  Tapferkeit  —  Der  Mythos  in  der  Geschichte  —  Der 
Uebermensch  und  der  Untermensch  —  Don  Juan  —  Das 
Problem  von  Mann  und  Weib  —  Die  Dressur  der  Herrsch- 
sucht —  Die  Grausamkeit  —  Die  romantische  Liebe  —  Die 
Kriegskunst  und  die  Politik. 

Vierzehntes  Kapitel. 

Die  Treue 538 

Die  Beharrlichkeit  —  Die  Treue  und  die  Pflicht  —  Die  Con- 
tinuität   der  persönlichen   Entwicklung  —  Die  Freundschaft 

—  Die  Sehnsucht  —  Die  Vereinsamung  —  Gegen  die  Zweifel- 
sucht —  Die   Geselligkeit  —  Die  Wollust  —  Die   Ehre  — 
Die  Entwickelungsformcn   der  Urgesellschaft  —  Milton  — 
Liebe  und  Geschlechtsliebe   —   Gottfried  Keller.    Die  Utopie 

—  Die  Liebe  und  die  Ehe  —  Goethes  Wahlverwandtschaften 

—  Die  Religion  und  die  Ethik  —  Die  Familie  —  Volk  und 
Staat  —  Staat  und  Nationalität  nicht  identisch. 

Fünfzehntes  Kapitel. 
Die  Gerechtigkeit 559 

Die  Controle  der  Wirklichkeit  —  Die  beiden  Richtungen  der 
menschlichen  Tätigkeit  —  Die  Müsse  und  das  Negotium  — 
Die  Arbeit  —  Natur  und  Wirtschaft  —  Recht  und  Gerechtig- 
keit —  Die  Skepsis  an  Recht  und  Staat  —  Naturrecht,  Rechts- 
wissenschaft und  Rechtsphilosophie  —  Der  Doppelbegriff  des 
Menschen  —  Der  Zweck  des  Rechtes  —  Das  Problem  der 
Einteilung  der  Rechte  —  Das  Problem  des  Verhältnisses 
zwischen  Einzelheit  und  Person  —  Der  EigentQmer  einer 
isolierten  Handlung  —  Die  Person  und  die  Sache  —  Der 
Wert  und  die  Teilung  der  Arbeit  —  Der  Handel  und  die 
Ware  —  Das  Geld  und  das  Kapital  —  Arbeitsprodukt  und 
Arbeitsertrag  —  Die  Erlösung  der  arbeitenden  Person  — 
Das  Problem  des  Eigentums  —  Die  Association  —  Der  Col- 


Inhalits-Verzeichniss.  XVII 


lektivismus  —  Das  Eigentum  wird  Adiaphoron         Der  Glaube 
an  eine  neue  Welt. 

Sechzehntes  Kapitel. 

Die  Hunnanität 584 

Die   Billigkeit   —  Die   Wirklichkeit    und   das   Besondere 


Jurisprudenz  und  Mathematik  —  Die  Gleichheit  —  Hamlet 
-   -  Das  Mittlere  zwischen  Extremen  —  Das  Mitleid  Kant 

und  Schiller  —  Die  Güte  —  Die  Freundlichkeit-  Staat 
und  Volk  und  Menschheit  —  Die  Staatsraison  —  Die  Rück- 
sicht —  Die  Naivetät  —  Die  Harmonie  —  Der  Natur- 
zustand —  Die  aesthetische  Erziehung  Die  Kunst  der 
Menschheit  und  der  Völker  —  Die  Einheit  des  Kultur- 
Bcwusslseins. 


Einleitung. 


Von  allen  Problemen,  welche  den  Inhalt  der  Philosophie 
bilden,  dürfte  die  Ethik  als  ihr  eigenstes  gelten:  das  ihr  daher 
auch  von  keiner  Wissenschaft  bestritten  wird,  sofern  sie  über- 
haupt das  Recht  der  Philosophie  anerkennt.  Dieses  Verhältnis 
zwischen  der  Ethik  und  dem  Gesamtgebiete  der  Philosophie  voll- 
zieht sich  schon  bei  der  ersten  Errichtung  der  Ethik.  Als 
Sokrates  sie  erdachte,  da  fand  er  zugleich  den  Mittelpunkt  für 
alle  Philosophie  in  ihr.  Bis  dahin  waren  die  Philosophen  ebenso 
auch  Mathematiker  und  Naturforscher,  wieviel  sie  immer  über 
die  menschlichen  Dinge  insbesondere  dachten.  Sokrates  dagegen 
redet  wie  ein  Nazarener  von  der  Natur:  die  Bäume  können  mich 
nicht  belehren,  wohl  aber  die  Menschen  in  der  Stadt.  Erst  rück- 
w^ärts  vom  Menschen  führt  der  Weg  wieder  zur  Natur.  Die 
Ethik,  als  die  Lehre  vom  Menschen,  wird  das  Centrum 
der  Philosophie.  Und  erst  in  diesem  Centrum  gewinnt  die 
Philosophie  Selbständigkeil  und  Eigenart  und  alsbald  auch 
Einheit. 

Diese  centrale  Bedeutung,  welche  der  Ethik  innerhalb  der 
Philosophie  zukommt,  hat  sich  in  der  ganzen  Geschichte  der- 
selben behauptet.  Alle  grossen  Bewegungen  spiegeln  sich  nicht 
nur  in  ihr,  sondern  sie  haben  in  ihr  ihren  tiefsten  Quellengrund. 
Daher  ist  der  Streit  nicht  vielseitiger,  noch  verschlungener  um 
die  Logik  als  um  die  Ethik.  Lst  doch  das  Interesse  an  ihr  noch 
ausgebreiteter,  sodass  ihr  Wert  auch  unmittelbarer  einleuchtet. 
Aber  so  verschiedenartig  demgemäss  die  Ausgänge  und  die  An- 
knüpfungen   sind,    welche    in   den   verschiedenen  Zeitaltern   die 

1 


2  Ethik  die  Lehre  vom  Menschen. 

verschiedenen  Kulturfragen  mit  der  Ethik  verbinden:  der  eine 
Gedanke,  in  welchem  Sokrates  die  Ethik  erschaffen  hat,  ist  allen 
den  verschiedenen  Richtungen  erhalten  geblieben.  Nicht  alle 
und  nicht  immer  mögen  sie  alle  das  klare  Bewusstsein  davon  in 
sich  getragen  haben;  dennoch  hat  sich  die  Kraft  und  die  Wahr- 
hfsit  des  Gedankens  auch  an  ihnen  bewährt:  der  Gegenstand 
der  Ethik  ist  der  Mensch.  Was  immer  sonst  noch  in  das 
Interesse  der  Ethik  hineinzuziehen  sein  mag,  es  kann  nur  an  den 
Menschen  sich  anschliessen,  durch  das  Verhältnis  zu  ihm  eine 
Stelle  finden. 

Indem  nun  die  Ethik  zum  Mittelpunkte  der  Philosophie 
wird,  wird  somit  zugleich  der  Mensch  zum  Mittelpunkt  aller 
Inhalte  und  Gegenstände  derselben.  So  erlangt  die  Philosophie 
durch  die  Ethik  im  Menschen  ihren  Schwerpunkt;  die  Wurzel 
ihres  Daseins  und  den  Quell  ihres  Rechts,  den  ewigen  Quell  ihres 
ewigen  Rechts.  Welche  Wissenschaft  und  welche  Art  von 
Wissenschaft  könnte  ihr  dieses  Problem  des  Menschen  abnehmen 
wollen,  um  es  sich  selbst  aufzulegen?  Gibt  es  eine  Theorie, 
welche  die  einheitliche  Behandlung  dieses  Problems,  das  als  ein 
centrales,  Aielmehr  als  das  centrale  Problem  einheitliche  Behand- 
lung fordert,  auf  sich  zu  nehmen  vermöchte?  Von  allen  Seiten 
hat  man  zu  allen  Zeiten  den  Wert  der  Philosophie  bestritten, 
aber  von  keiner  Wissenschaft  hat  man  ihr  die  Ethik  abgestritten. 

An  keinem  Punkte  dürfte  sich  vorteilhafter  und  zugleich 
verhängnissvoller  die  Theologie  von  der  naiven  Religion  unter- 
scheiden als  an  diesem  Verhältnis  zur  Ethik.  Die  Religion  wiegt 
sich  in  die  Einbildung  ein,  ^Is  ob  sie  die  Ethik  entbehren  könnte; 
niemals  aber,  ausser  im  bittern  Kampfe  und  in  dem  Stichwort 
eines  solchen,  die  Theologie.  Sie  kann  die  Ethik  verbessern  und 
ergänzen  wollen,  immer  aber  will  sie  sich  auf  sie  berufen;  wie 
stark  und  wie  blind  die  Vorwürfe  sein  mögen,  mit  denen  sie  sie 
verfolgt,  so  weit  verirrt  sie  sich  doch  niemals,  dass  sie  die 
menschliche  Weisheit  vom  Wesen  des  Menschen,  die  menschliche 
Lehre  vom  Menschen  gänzlich-  beseitigen  wollte.  Und  wenn 
sogar  die  Theologie  die  Ethik,  wenn  auch  nur  als  ein  mögliches 
Problem  anerkennt,  welche  andere  Wissenschaft  könnte  dann 
ein  gegründetes  Interesse  daran  haben,  der  Philosophie  die  Ethik 
abzustreiten? 


Ethik  die  Lehre  vom  Begriffe  des  Menschen.  3 

Hiernach  könnte  es  scheinen,  als  ob  der  Ethik  ein  sicherer, 
scharf  abgegrenzter  Bezirk  im  Gesamtgebiete  der  Philosophie  zu 
teil  geworden,  und  dass  sie  demzufolge  auch  als  ein  klar 
begründetes  und  genau  bestimmtes  Problem  anerkannt  wäre. 
Welcher  Inhalt  scheint  deutlicher  und  genauer  zu  sein  als 
der  Mensch? 

Diese  Ansicht  aber  beruht  auf  einer  gründlichen  Illusion. 
Entbehren  will  man  voil  keiner  Seite  aus  die  Ethik,  für  über- 
flüssig gilt  sie  nirgends.  Aber  daraus  folgt  nicht,  dass  man  das- 
selbe Problem  oder  auch  nur  dasselbe  Interesse  unter  ihr  ver- 
stände. Man  könnte  denken,  dass  der  Begrifif  oder  auch  nur  die 
Ansicht  vom  Menschen  ein  gleiches  Interesse  aufzwingen,  und 
zum  gleichen  Problem  hinleiten  müsste;  jedoch  auch  diese 
Meinung  entspringt  aus  einem  grundsätzlichen  Irrtum.  Wenn  es 
nämlich  erst  die  Ethik  ist,  welche  die  Lehre  vom  Menschen  ent- 
wirft, so  kann  auch  sie  erst  den  Begriff  des  Menschen  entdecken. 
Wie  könnte  aber  eine  Ansicht  vom  Menschen  allgemein  und 
unzweifelhaft  geworden  sein,  wenn  sie  nicht  im  Begriffe  des 
Menschen  ihre  Voraussetzung  und  ihren  Grund  hat?  Weit  gefehlt 
also,  dass  die  Ethik  von  einer  einheitlichen  Ansicht  vom  Menschen 
ausgehen  könnte,  ist  eine  solche  vielmehr  erst  ihr  Ziel  und  ihr 
eigentlicher  Inhalt. 

Als  die  Lehre  vom  Menschen  ist  die  Ethik  die  Lehre 
vom  Begriffe  des  Menschen.  Indem  Sokrates  im  Menschen 
die  Ethik  erdachte,  entdeckte  er  zugleich  den  Begriff.  Im  Begriffe 
des  Menschen  entdeckte  er  den  Begriff.  Vor  der  Ethik  und 
ausserhalb  ihrer  gibt  es  keinen  Begriff  des  Menschen;  wie  es  vor 
ihr  überhaupt  keinen  Begriff  gab.  Diese  grosse  Konsequenz 
ergibt  sich  aus  dem  Zusammenhang  der  drei  Entdeckungen:  des 
Begriffs,  des  Menschen,  der  Ethik.  Wie  die  di'ei  Begriffe  einander 
fordern,  oder  wenigstens  in  der  gegenseitigen  Forderung  entstanden 
sind,  so  ist  der  Begriff  des  Menschen  mit  dem  Begriffe  der  Ethik 
verknüpft. 

Steht  nun  aber  diese  Konsequenz  auf  dieser  Haaresschärfe, 
so  lässt  es  sich  verstehen,  dass  sie  den  Besitzstand  der  Ethik  in 
Streitigkeiten  verwickeln,  und  ihren  Inhalt  und  ihr  Problem 
zweideutig  machen  konnte.  So  lange  es  sich  ohne  nähere  Be- 
stimmungen  um   den   Menschen   zu  handeln  scheint,   bleibt  die 


4  Mehrheit  und  Allheit  der  Menschen. 

Ethik  unangeibcliten.  Tragi  dieser  ihr  Inhalt  jedoch  den  An- 
spruch in  sich,  den  BegrifT  des  Menschen  zum  Alleinbesitz  der 
Ethik  zu  machen,  so  melden  sich  von  allen  Seiten  die  Mit- 
bewerber. In  der  Tat  enthielt  schon  der  Ausdruck  Mensch  eine 
ofFenbarc  Zweideutigkeit:  bedeutet  er  den  Singular  oder  den 
Plural?  Und  wenn  auch  den  Plural,  so  sind  die  Fragen  damit 
nicht  erschöpft,  auch  für  die  Bedeutung  der  Mehrheit  nicht. 
Vielmehr  entsteht  die  Furage,  ob  die  Mehrheit  eine  neue  Art  von 
Einheit  zu  ergeben  vermag. 

Das  ist  die  doppelte  Zweideutigkeit,  mit  der  von  vornherein 
der  Ausdruck  Mensch  behaftet  ist,  dass  einmal  der  Einzelmensch 
in  Frage  steht,  sodann  aber  die  Bedeutung  übergeht  auf  eine 
Mehrheit  von  Menschen.  Und  hinwiederum  bleibt  es  nicht  bei 
dieser  Mehrheit,  sondern  sie  selbst  soll  wieder  eine  neue  Einheit 
werden.  Es  ist  dies  der  allgemeine  Prozess,  der  an  dem  Urteil 
sich  vollzieht;  nur  dass,  wie  wir  in  der  Logik  der  reinen  Er- 
kenntniss  gesehen  haben,  die  Einheit  als  eine  besondere  Kate- 
gorie ausfallt. 

Die  Mehrheit  aber  geht  in  die  Allheit  über.  Und  damit 
entsteht  die  neue  Zweideutigkeit,  welche  an  den  Ausdruck  Mensch 
sich  anheftet.  Die  erste  liegt,  logisch  ausgedrückt,  nicht  sowohl 
in  dem  Gegensatze  der  Einheit  und  der  Mehrheit,  als  vielmehr 
in  dem  .scheinbaren  Gegensatze  der  Einzelheit  und  der  Mehrheit. 
Dieser  Gegensatz  hat  keinen  Bestand  im  Denken;  er  rührt  nur 
von  einem  Schein  des  populären  Bewusstseins  her.  Der  Einzelne 
ist  an  sich  ein  Einzelner  der  Mehrheit;  er  bildet  keineswegs  eine 
selbständige  Einheit,  so  sehr  auch  der  gemeine  Schein  dafür 
spricht. 

Aber  die  zweite  Zweideutigkeit  hat  in  der  Tat  logischen 
Grund.  Die  Mehrheit  geht  in  die  Allheit  über.  So  sagten  wir. 
Das  soll  jedoch  nicht  heissen,  dass  die  Mehrheit  sich  in  die 
Allheit  verwandeln  und  in  ihr  untergehen  müsste.  Vielmehr 
bleibt  die  Mehrheit,  wie  sie  logisch  eine  eigene  Kategorie  bildet, 
so  auch  für  den  Menschen  bestehen.  Die  Mehrheit  der  Menschen 
bleibt  ein  wertvoller,  notwendiger  Begriff.  Aber  ihr  zur  Seite 
tritt,  als  ein  Begriff  von  eigenem  Werte,  die  Allheit  der  Mensi'hen. 
Das  ist  die  grosse  Steigerung,  zu  welcher  die  Zweideutigkeit  im 
Au.sdrucke  Mensch  sich  erhebt.  Mehrheit  und  Allheit  der  Menschen; 


Der  Sokratische  Begriff  des  Menschen.  5 

dagegen  tritt  der  Unterschied  des  Einzelnen  und  der  Mehrheit 
wie  belanglos  zurück.  Und  dass  man  nur  ja  nicht  glaube,  in 
der  Anzahl  liege  der  Unterschied.  Lässt  sich  doch  ohnehin  die 
Allheit  nicht  auszählen;  in  dem  Mehr  oder  Weniger  kann  also 
der  Unterschied  nfcht  liegen.  Die  Allheit  bedeutet  nach  der 
Logik  der  reinen  Erkenntniss  eine  unendliche  Zusammenfassung, 
die  selbst  wieder  verschiedene  Grade  zulässt.  Die  Allheit  der 
Menschen  bildet  bald  die  Universität  einer  Stadt,  bald  die  eines 
Staates,  bald  endlich  die  der  Menschheit. 

So  lässt  es  sich  begreifen,  und  es  ist  gewiss  mehr  als  in- 
teressant, dass  es  sich  von  hier  aus  ergiebt:  dass  der  BegriiT  im 
Begriffe  des  Menschen  zur  Entdeckung  gelangt.  Die  Einheit, 
welche  der  BegrilT  vollzieht,  weist  immerfoii  über  sich  selbst 
hinaus.  Bei  dem  Einzelnen  stehen  zu  bleiben,  das  wäre  unver- 
besserliche Kurzsichtigkeit.  Aber  wie  sehr  immer  die  Einzelnen 
in  der  Mehrheit  zusammenwachsen,  und  von  ihr  gehalten  werden, 
dennoch  bildet  auch  sie  nur  eine  Zwischenstufe  in  dem  Wandel 
des  Begriffs,  der  in  der  Allheit  erst  seinen  Lauf  abschliesst,  seine 
Einheitbildung  zur  Vollendung  bringt. 

Es  ist  lehrreich  und  bedeutsam,  wie  So  k  rat  es  diese  Be- 
deutungen im  Begriffe  des  Menschen,  wie  daher  auch  des  Begriffs 
überhaupt,  nur  teilweise,  gleichsam  wie  ein  Anfänger  aufhellt. 
Allerdings  sucht  er  die  Menschen  in  der  Stadt  auf,  um  sie  über 
ihre  Triebe  und  ihr  Treiben  auszufragen  und  zur  Rede  zu  stellen. 
Er  ist  kein  Einsiedler,  und  wendet  sich  nicht  an  Einsiedler.  Er 
geht  auch  nicht  nur  zu  den  Vornehmen  und  zu  den  Gebildeten, 
noch  allein  etwa  gar  zu  den  Ungebildeten.  Ihn  interessieren  alle 
Berufsarten  seiner  Mitbürger  in  gleicher  Weise;  nicht  nur  in 
demselben  logischen  Interesse,  sondern  auch,  weil  sie  als  Menschen 
gleich  nahe  seinem  Herzen  stehen.  Indessen  wie  vielseitig  daher 
auch  sein  Interesse  am  Menschen  ist,  wie  weit  sein  Blick  und 
wie  breit  sein  Horizont  bereits  ist,  dennoch  bleibt  seine  Mehr- 
heit der  Menschenein  Bild  von  Einzelnen.  Freilich  ist  dieses 
Bild  ein  Begrifl;  al>er  es  ist  nur  der  Anfang  des  Begriffs. 

Das  Bild  des  Menschen,  welches  die  Mehrheit  bildet,  die 
Sokrates  in  seinem  Begriffe  des  Menschen  vereinigte,  dieses  Bild 
stellt  doch  nur  den  Menschen  als  ein  Einzelwesen  dar.  Steuer- 
mann,   oder   Feldherr,    Arzt   oder   Gerber,   es  ist  und  bleibt  der 


6  Der  Platonische  Begriff  der  Mcnschenscele. 

Mensch  des  Handwerks,  der  Lebensbetatigung,  der,  wie  immer 
auch  er  auf  das  Ganze  hingewiesen  wird,  dem  er  zuzustreben 
habe,  in  diesem  Ganzen  selbst  doch  nur  ein  Einzelner  bleibt. 
Für  sich  selbst  hat  er  zu  sorgen,  auf  dass  sein  Leben  seinen 
Zweck  erfülle.  Das  höhere  Ganze  ist  nicht  in  jedem  Sinne  von 
höherem  Werte  als  sein  eigenes  einzelnes  Wesen,  sondern  es  ist 
nur  der  Wegweiser,  der  letztlich  immer  nur  ihn  selbst  auf  den 
rechten  Weg  bringt.  Sokrates  trinkt  den  Giftbecher  nicht,  um 
sich  selbst  für  den  Staat  zu  opfern,  sondern  weil  er  in  dem  Gesetz 
des  Staates  die  Richtschnur  für  sein  Handeln,  gleichsam  ein 
anderes  Daemonion  mit  erweiterter  Befugnis  zu  vernehmen 
glaubt.  Es  ist  und  bleibt  das  Individuum,  welches  seinen 
Begriff  vom  Menschen  ausfüllt. 

Anders  von  vornherein  Plato.  Man  weiSvS,  wie  er  in  seiner 
Republik,  welche  seine  Ethik  enthält,  nicht  von  der  Seele  des 
Einzelmenschen  ausgehen  will,  sondern  von  derjenigen  Seele  des 
Menschen,  welche  der  Staat  darstellt,  welche  im  Staate  ihr  Leben 
vollführt.  Zum  Begriffe  des  Menschen  tritt  jetzt  der  Be- 
griff der  Seele  hinzu.  Und  während  bisher,  etwa  insbesondere 
nach  Pj^hagoreischer  Ansicht  nur  die  Weltseele  zur  Mensclien- 
seele  hinzutrat,  so  denkt  Plato  die  Staatsseele  als  eine  neue  Art 
von  Weltscele;  und  sie  tritt  jetzt  als  eine  neue  Art  auch  der 
Menschenseele  auf. 

In  dieser  neuen  Art  von  Men.schenseele  tritt  der  Mensch 
aus  den  Schranken  der  Mehrheit  heraus  und  in  das  Zeichen  der 
Allheit  ein.  Und  damit  erst  vollendet  sich,  damit  erst  vollzieht 
sich  der  BegritT  des  Menschen.  Jetzt  ist  der  Mensch  nicht  mehr 
ein  Einzelner;  weder  ein  Einziger,  noch  ein  Einzelner  einer 
Mehrheit,  sondern  er  gehört  nunmehr  einer  Allheit  an.  Und  in 
dieser  Allheit  erst  erlangt  er  eine  Seele.  Plato  sagt  zwai*  nur, 
man  könne  ^\e  Seele  des  Menschen  besser  im  Staate  erkennen 
als  in  dem  Einzelwesen;  aber  darin  liegt  doch  wohl  zugleich  der 
Hinweis  auf  die  genauere  und  gediegenere  Ausprägung  des  Seelen- 
begriffes in  der  Allheit  als  im  isolierten  Wesen. 

So  sehen  wir  denn,  wie  bei  der  Entstehung  der  Ethik  im 
Begriffe  des  Menschen  Zweideutigkeiten  auftauchen,  die  \ielmehr 
als  Wandelungen  und  Stufen  in  der  Entwickelung  des  Menschen- 
begriffs sich  erkennbar  machen.    Von  Anfang  an  sehen  wir  das 


Die  Allheit  das  Princip  des  Menschen.  7 

Individuum  auftrelen,  dem  als  eine  scheinbare  Erweiterung  ein 
Nachbar  und  eine  Sammlung  von  solchen  zur  Seile  tritt.  Die 
Sammlung  steigert  und  verdichtet  sich;  immer  aber  bleibt  sie 
das  Kollektivum  einer  Mehrheil.  Und  indem  sie  entsteht,  ver- 
sinkt nicht  etwa  das  Individuum,  das  ihr  angehört,  imd  das 
doch  nur  in  ihr  bei  aller  seiner  Selbständigkeit  seine  Stelle  hat; 
sondern  es  bleibt  bestehen,  wie  immer  der  Zusammenhang  mit 
der  Mehrheit  für  seinen  Wert  massgebend  bleibt.  Und  wie  sehr 
andererseits  die  Mehrheit  ihren  eigenen  Wert  behauptet,  so  muss 
sie  doch  durch  die  Allheit  Einschränkung  erfahren.  Ohne  die 
Allheit,  ja  ohne  mit  der  Allheit  anzufangen,  lässt  sich 
der  Begriff  des  Menschen  nicht  nur  nicht  vollenden, 
sondern  schlechterdings  nicht  entwickeln  und  nicht 
bilden.  Die  Allheit  bildet  nicht  nur  das  glückliche  Ende, 
sondern  sie  ist  auch  der  rechte  Anfang. 

Das  ist  also  das  komplizierte  Bild,  welches  der  Begrifl  des 
Menschen  darstellt:  Einzelheit  und  Mehrheit,  das  ist  Besonderheit, 
und  —  Allheit.  Und  Alles  zugleich.  Alles  in  Einem.  Denn  das 
ist  doch  der  Sinn  der  Methode,  welche  Plato  mit  der  Staatsseele 
des  Menschen  in  die  Ethik  einführt:  dass  das  Ende  vielmehr  der 
Anfang  sei.  Ende  und  Anfang  sind  weder  methodisch,  noch 
sachlich  von  einander  geschieden.  Die  drei  Wege,  für  welche 
der  Begriff  des  Menschen  den  Wegweiser  bildet,  das  Einzelw^esen, 
die  partikulare  Mehrheit  und  die  Allheit,  sie  sind  nicht  Kreuz- 
wege; sondern  auf  jedem  Schritte  der  Bahn  müssen  sie  zusammen- 
gehen;  nur   in   ihrer  Vereinigung   liegt  der  Weg  des  Menschen. 

Wir  hatten  gesagt,  dass  von  keiner  Wissenschaft  der  Ethik 
ihr  Sonderrecht  bestritten  werde;  jetzt  zeigt  sich  ein  Grund  dafür. 
Freilich  müssen  alle  Wissenschaften,  sofern  der  Mensch  ihr 
Gegenstand  ist,  in  diesen  drei  Richtungen  ihn  auch  zur  Be- 
trachtung bringen;  dieweil  der  Begriff  des  Menschen  in  diesen 
drei  Richtungen  sich  vollzieht.  Aber  es  lässt  sich  vermuten,  und 
es  wird  zu  zeigen  sein,  dass  die  Prägnanz  der  Einheit  dieser  drei 
Richtungen,  welche  diese  nicht  nur  fordern,  sondern  zugleich 
auch  finden,  in  keiner  Wissenschaft  so  deutlich  und  so  eindring- 
lich wird,  also  wohl  auch  in  keiner  so  genau  sich  vollzieht,  wie 
in  der  Ethik.  Sie  allein  enthüllt  das  Wesen  des  Menschen,  um 
mit  diesem  Worte   einmal   den    trockenen   logischen  Begriff  auf 


8  Das  Individuum  in  der  Anthropologie. 


einen  Moment  zu  vertauschen,  in  der  Wechselwirkung,  in  der 
Durchdringung  der  Einzelheit,  der  Besonderheit  und  der  Allheit. 

Ein  Individuum  wäre  der  Mensch'?  Keineswegs  ist  er  dies 
allein;  sondern  in  einer  Mehrheit,  vielmehr  in  mancherlei  Mehr- 
heiten steht  er  in  Reih  und  Glied.  Und  doch  ist  er  nicht  dies 
allein;  sondern  in  der  Allheit  erst  vollendet  er  die  Kreise  seines 
Daseins.  Und  auch  diese  Allheit  hat  mancherlei  Grade  und 
Stufen,  bis  sie  in  einer  wahrhaften  Einheit,  in  der  Menschheit 
nämlich  ihren  Abschluss  findet,  der  aber  auch  vielmehr  ein  ewig 
neuer  Anfang  ist. 

Diese  Ansicht  sol  1  der  Leitgedanke  unseres  A  ufbaus 
der  Ethik  werden.  Sie  ist  nicht  allen  Lehrgebäuden  der  Ethik  in 
gleicher  Bedeutung  eigen;  sie  ist  am  wenigsten  allen  Vorstellungen 
vom  Sinne  des  Menschen  gemeinsam.  Daher  lassen  sich  die 
Unterschiede  und  Differenzen  in  der  Entwickelung  der  Ethik, 
und  in  dem  Verhältnis  der  Wissenschaften  zur  Ethik  von  hier 
aus  verstehen.  Es  lässt  sich  so  auch  verstehen,  wie  die  Dar- 
stellungen der  Ethik  zu  den  einzelnen  Wissenschaften  eine  nähere 
Wahlverwandtschaft  zu  erkennen  glauben. 

Vor  Allem  führt  das  Moment  des  Individuums  zur  An- 
thropologie, und  von  da  aus  zur  P.sychologie.  Die  Anthro- 
pologie ist  in  erster  Linie  biologisch.  Und  die  Biologie  ist  das 
legitime  Gebiet,  in  dem  der  BegrifT  seine  Induktion  beschreibt. 
Wer  wollte  den  BegrifT  des  Menschen  zu  finden  liofTen,  der  sich 
über  die  biologische  Natur  des  Menschen  hinwegsetzen  zu  dürfen 
meinte?  Die  Probleme  und  die  Ergebnisse,  welche  die  biologische 
Anthropologie  je  nach  den  Stufen  ihrer  Entwickelung  zu  erzielen 
vermag,  sie  dürfen  nimmermehr  und  an  keiner  Stelle  vernach- 
lässigt werden,  oder  auch  nur  ausser  Betracht  bleiben,  wenn 
anders  die  Ethik  die  Lehre  vom  Menschen  sein  will.  Aber  damit 
ist  keineswegs  gesagt,  dass  der  biologische  Begriff  des  Menschen 
den  Ausgang  bilden  müsste  für  diejenige  Ermittelung  des  Begriffs 
vom  Menschen,  die  der  Ethik  obliegt.  Was  nicht  ignoriert 
werden  darf,  und  was  immerfort  beachtet  werden  muss,  dem 
braucht  darum  keineswegs  auch  die  methodische  Leitung  zuzu- 
stehen. So  wenig  der  BegrifT  des  Menschen  in  dem  biologischen 
Begrifte  des  Menschen  aufgeht,   so  wenig  darf  dem  letztern  die 


Verhältnis  zwischen  Ethik  und  Psychologie.  9 

methoilische  Führung  der  Untersuchung^  zuerkannt  werden.  Schon 
die  Allheit  warnt  davor. 

Und  wenn  dies  schon  von  der  Biologie  gilt,  so  gilt  es  nicht 
minder  auch  von  der  Psychologie.  Wir  sahen  ja,  dass  gerade 
am  Seelenbegrifl'e  Plato  den  Scheideweg  der  Ethik  bestimmte. 
Und  an  diesem  Scheidewege  schuf  er  nicht  nur  die  Ethik,  sondern 
zugleich  und  vorzugweise  in  ihr  auch  die  Psychologie.  Dass 
vor  ihm  keine  Psychologie  in  methodischer  Zusammenfassung 
vorhanden  war,  daraufsei  hier  nur  hingewiesen.  Plato  ist  der 
eigentliche  Urheber  der  Psychologie.  Aber  wenngleich 
<lie  grundlegenden  Untersuchungen,  in  denen  er  die  Logik  erschuf, 
die  Erörterungen  über  das  Denken,  als  das  Denken  der  Erkennt- 
niss,  im  Unterschiede  von  der  Wahrnehmung  und  Vorstellung, 
einen  ebenso  wichtigen,  einen  unumgänglichen  Anlass  für  die 
Entstehung  der  Psychologie  darboten,  so  darf  man  vielleicht  doch 
wohl  das  Verhältnis  zwischen  der  Ethik  und  der  Psychologie 
bei  Piaton  als  noch  unmittelbarer  und  durchgreifender  bezeichnen. 

Denn  mit  der  Wahrnehmung  verschlingt  sich  die  Begehrung; 
also  kompliziert  sich  das  ethische  Interesse  mit  dem  logischen. 
Und  so  geht  es  weiter  und  tiefer.  Liegt  doch  ebenso  die  Seele 
des  Menschen  nicht  in  dem  Netzwerk  ihrer  individuellen  Be- 
tätigung, sondern  gleichsam  jenseits  seiner  selbst,  in  einer  Ver- 
grösserung  und  Erweiterung  seines  Selbst.  Wie  dieser  makro- 
kosmische SeelenbegrifT  in  der  Ethik  entsprang,  so  konnte  die 
Psychologie  aus  der  Ethik  ihre  Direktive  erhalten,  und  auch 
die  makroskopische  Darstellung  ihres  Objekts;  nicht  aber  konnte 
umgekehrt  die  Psychologie  die  Leitung  beanspruchen  wollen  für 
die  Ethik,  welche  ihrerseits  erst  den  richtigen  SeelenbegrifT  zur 
Entdeckung  bringt. 

Dennoch  besteht  noch  heute  Unklarheit  und  Streit  über 
dieses  natürliche  Verhältnis  zwischen  Ethik  und  Psvcho- 
logie.  Wenn  es  sich  nur  um  die  Methode  der  Ethik  dabei 
handelte,  .so  wäre  der  Streit  verhängnisvoll  genug.  Aber  auch 
die  Psychologie  wird,  wie  von  einem  Schicksal,  von  dieser 
Meinung  befallen.  Denn  es  handelt  sich  nicht  allein  um  die 
Methodik  der  Psychologie  dabei,  sondern  schlechterdings  um  den 
ganzen  Inhalt,  Stoß*  und  Gegenstand  derselben.  Der  Torso,  den 
man  heutzutage  Psychologie  nennt,  stellt  ein  erschreckendes  Bild 


10  Verhältnis  der  Psychologie  zur  Physiologie. 

davon  bloss.  Die  Tierpsychologie  wird  nicht  mehr  ausdrücklich 
kultiviert,  obwohl  sie  doch  sehr  nützlich  und  wichtig  wäre.  Aber 
was  man  heule  als  Psychologie  zumeist  traktiert,  ist  doch  im 
besten  Sinne  hauptsächlich  Tierpsychologie.  Indessen,  wxnn  die 
Psychologie  Menschen-Psychologie  werden  soll  —  und  sie  muss 
dies  in  einer  eminenten  Bedeutung  des  MenschenbegrüTs  werden — , 
dann  muss  eben  der  Seelenbegriff  der  Ethik  nach  Piatons  An- 
weisung und  nach  seinem  fruchtbaren  Muster  ihr  voraufgehen. 
Unsere  Ausführungen  werden  die  Richtigkeit  dieses  Satzes  zu 
erweisen  haben.     Hier  nur  noch  eine  kurze  Vorbetrachtung. 

Der  wissenschaftliche  Wert  der  Psychologie  besteht  trotz 
aller  ihrer  Selbstüberschätzung,  als  wäre  sie  eine  grundlegende 
Disziplin  der  philosophischen  Erkenntniss,  nichtsdestoweniger 
doch  in  ihrem  Anschluss  an  die  Physiologie.  Nimmermehr  kann 
man  auf  die  Einsichten  verzichten,  welche  aus  diesem  Zusammen- 
hang erwachsen.  Uebrigens  hat  man  auch  niemals  in  der  ernst- 
haften Philosophie,  geschweige  bei  den  Klassikern,  es  unterlassen, 
diesem  Zusammenhange  nachzugehen  und  diese  Einsichten  zu 
fördern.  Man  beachtet  es  zu  wenig,  dass  Malebranche  und 
Berkeley  die  Begründer  der  physiologischen  Optik  sind,  und 
dass  Descartes  seinen  grossen  Einfluss  auch  nach  dieser  Seite 
hin  ausgeübt  hat.  Daran  also  kann  kein  verständiger  Zweifel 
aufkommen,  dass  das  Grenzgebiet  von  Physiologie  lind  Psycho- 
logie auch  für  die  letztere  unentbehrliche  Aufschlüsse  enthält. 
Nur  darauf  bezieht  sich  der  Widerspruch  gegen  diese  moderne 
Psychologie,  dass  sie  an  sich  und  auf  Grund  dieser  der  Physio- 
logie angehörigen  Methode  Psychologie  sei;  und  zumal  dass  sie  als 
solche  die  Grundlage  der  Philosophie  bilde.  Einem  schätzbaren 
Material  giebt  man  den  Wert  eines  methodischen  Fundaments. 
Darin  besteht  die  Verirrung.  Die  Fragen  und  Interessen  der 
Psychologie  gehen  dagegen  über  jenes  Material  in  seiner  grössten 
Vervollständigung  und  Verfeinerung  prinzipiell  hinaus.  Daher 
müssen  die  Prinzipien  eigene,  selbständige  sein,  andere  als  die 
eines  Appendix  der  Physiologie. 

Weil  dem  aber  so  ist,  wie  wir  es  in  der  Logik  in  mehr- 
facher Hinsicht  erwogen  haben,  so  darf  sich  die  Ethik  nicht 
von  der  Psychologie  die  Direktive  erteilen  lassen.  Würde  diese 
doch  eben  von  der  Physiologie  ausgehen;  wie  es  zur  Festlegung 


Der  psychologische  Naturalismus  des  Inviduums.  11 

gesicherten  Materials  geschehen  müsste.  Daher  kann  die  Psycho- 
logie den  Seelenhegriflf  des  Menschen  trotz  allen  Versuchen,  die 
weiter  streben,  dennoch  nicht  über  den  des  Individuums  hinaus- 
führen. Was  sich  über  mehr  oder  weniger  geistreiche  An- 
regungen hinaus  in  methodisch  angreifbarer  Forschung  unter 
der  Flagge  der  Volker-Psychologie  ausrichten  lässt,  das  be- 
schrankt sich  eben  auf  die  Sprache  und  die  Sitte. 

hl  den  anderen  Richtungen  der  Kultur  gehen  die  Völker 
die  gemeinschaftlichen  Wege  der  Menschheit;  und  trotz  aller 
Besonderung  in  Poesie,  Kunst  und  Recht  stellen  sie  doch  in 
ähnlicher  Gleichförmigkeit,  wie  sie  in  der  Wissenschaft  als  selbst- 
verständlich gilt,  die  allgemeine  Individualität  des  Menschen  dar. 
Das  Individuum  ist  und  bleibt  der  Kernbegriff  des 
Menschen  der  Psychologie.  Darin  liegt  der  Hemmschuh, 
den  die  Psychologie  für  die  Ethik  bilden  müsste,  wenn  sie  sie 
führen  dürfte. 

Die  Ethik  geht,  wie  wir  es  uns  vorsetzen,  auf  die  Durch- 
dringung des  Individuums  mit  der  Besonderheit  und  mit  der 
Allheit.  Wenn  die  Psychologie  in  der  Individualität  der  Völker 
allenfalls  noch  eine  Besonderheit  darzustellen  vermöchte,  so 
liegt  doch  die  Allheit  gänzlich  ausserhalb  ihrer  Grenzen.  Mit 
dem  Staate  z.  B.  weiss  sie  Nichts  anzufangen;  und  der  Einheit 
der  Menschheit  steht  sie  ratlos  gegenüber,  wenn  sie  von  den 
Schädelmessungen  in  Stich  gelassen  wird.  Der  Begriff  des  In- 
dividuums, den  sie  mit  ihren  Mitteln  zu  geben  vermag,  ist  daher 
ebenso  unvollständig,  wie  er  für  die  Ethik  unzulänglich  und 
irreführend  ist. 

Das  Erbteil  der  Psychologie  nach  ihrem  notwendigen  me- 
thodischen Zusammenhange  mit  der  Physiologie  ist  der  Natura- 
lismus, der  Todfeind  der  Ethik.  Das  Individuum  der  Psvcho- 
logie  würde  für  die  Ethik  das  Fundament  des  Individualismus, 
des  Egoismus,  des  Solipsismus  bilden.  Und  wenn  man  noch  so 
eifrig  darauf  ausginge,  die  Einseitigkeiten  dieser  Begriffe  abzu- 
stumpfen und  das  Individuum  weitherzig  zu  machen  und  von 
seinen  natürlichen  Engen  zu  befreien,  so  dass  es  die  anderen 
Momente  in  sich  aufzunehmen  scheinen  könnte,  so  würde  dennoch 
der  Naturalismus  das  Selbstische  festbannen;  so  würde  vor 
Allem   der  Naturalismus   selbst   festgewurzelt    bleiben.     Und  in 


12  Sein  und  Sollen. 

liem  Naturalismus  allein  schon,  abgesehen  von  seinem  Be- 
grille  des  Individuums,  liegt  die  methodische  Grundgefahr 
der  Ethik. 

Wenn  wir  hier  den  Naturalismus  in  Anspruch  nehmen,  so 
wäre  es  ganz  verkehrt,  zu  meinen,  als  ob  wir  hiermit  die  übliche 
Predigt  gegen  den  Materialismus  eröffnen  wollten.  Die  Abwehr 
des  Naturalismus  aller  Art  für  die  Grundlegung  der  Ethik  betrifft 
kein  erbauliches  Ornament,  sondern  alle  konstruktiven  Elemente 
imd  das  Fundament.  Dahin  geht  der  tiefwurzelnde  und  tief- 
greifende Sinn  der  Unterscheidung,  die  Kant  zwischen  Sein 
und  Sollen  machte.  Das  Sein,  welches  er  dadurch  von  der 
Ethik  abschied,  ist  keinesw^egs  allein  das  gewöhnlich  so  genannte 
sinnliche  Sein,  welches  in  dem  Eludaemonismus  seinen  ent- 
sprechenden Ausdruck  erlangt;  sondern  es  ist  das  Sein  der 
Natur  überhaupt,  selbst  in  ihrer  geistigsten  AulTassung.  Darauf 
beruht  der  unausgleichbare  Gegensatz  zum  Eudaemonismus,  weil 
dieser  eben  unlösbar  mit  dem  Naturalismus  zusammenhängt,  und 
garnicht  etwa  allein  mit  einer  schlüpfrigen  Auffassung  desselben. 
Die  Natur  selbst  bildet  den  Widerpart.  Die  Natur  selbst  in  aller 
ihrer  Reinheit  und  fc^rhabenheit,  sie  darf  nicht  als  das  Asvl  be- 
trachtet  werden,  auf  das  der  ethische  (ieist  hinsteuert.  Daher 
konnte  Kant  die  ganze  Rou.sseau-Stimmung  aus  dem  Felde 
schlagen,  weil  ein  rüstiger,  lebensvoller,  schairensfreudiger,  wahr- 
haftiger Geist  der  schöpferischen  Sittlichkeit  in  ihm  athmete, 
der  jene  Sehnsucht  nach  Einsamkeit  bezwang.  Die  beschauliche 
Natureinfalt  mag  für  die  Kunst  passen;  die  Ethik  dagegen  will 
nicht  in  erster  Linie  von  den  Bäumen  lernen,  sondern  von  den 
Menschen  in  der  Stadt.  Und  der  Horizont  war  inzwischen  weiter 
geworden;  er  umschloss  die  Menschen  in  der  Welt. 

Darum  konnten  alle  die  Romantiker  diesen  Grundsatz  nicht 
verstehen  und  nicht  vertragen.  Und  das  ist  das  Verdienst 
Fichtes,  dass  er  in  diesem  (irundgedanken  von  ihnen  allen 
sich  unterschied.  Es  war  nicht  allein  sein  geschichtlicher  Sinn, 
noch  sein  Herz  für  das  deutsche  Vaterland,  das  er  in  dessen 
(ieisteswelt  als  eine  Wirklichkeit  besass,  und  an  dessen  Verfall  er 
daher  und  deshalb  nicht  zu  glauben  vermochte,  noch  auch  war 
es  sein  Herz  allein  für  die  Elenden  im  Volke,  die  der  nationalen 
Kultur   und    Erziehung   noch    nicht  teilhaft  geworden  waren:  es 


Kant  und  Piaton.  13 

war  ebensosehr  seine  philosophische  Kraft,  die  von  diesem 
neuen  Worte,  diesem  Schiboleth  einer  neuen  Lehre  und  einer 
neuen  Weltansicht  ergriffen  und  erleuchtet  wurde.  Alle  Psycho- 
logie nicht  nur,  alle  Philosophie  selbst  hat  es  sonst  mit  dem 
Sein  zu  tun,  mit  dem  Sein  der  Natur  und  ihren  Gesetzen:  die 
Ethik  allein  hat  ein  anderes  Sein  zu  ihrem  Vorwurf;  andere 
Gesetze  als  die  der  Natur  zu  suchen. 

Was  das  Sollen  selbst  bedeutet,  das  betrachten  wir  jetzt 
nicht;  es  handelt  sich  jetzt  nur  um  den  Gegensatz  zur  Natur. 
Den  bezeichnet  die  Unterscheidung  vom  Sein.  Und  wenngleich 
das  Sollen  freilich  auch  auf  eine  Ali  von  Sein  ausgehen  muss, 
so  ist  dieses  Sein  doch  von  so  grundverschiedener  Art,  dass  vor 
Allem  durch  den  Gegensalz  zum  Sein  der  Natur  das  neue  Sein, 
das  Sein  des  Sollens  zur  Formulierung  kommen  sollte. 

Es  mag  hier  nur  darauf  hingedeutet  werden,  dass  allerdings 
diese  Formulierung  nicht  einwandfrei  ist;  dass  sie  vielmehr  mit 
Ausführungen  der  terminologischen  Grundlagen  zusammenhängt, 
deren  Berichtigung  wir  uns  zur  Aufgabe  machen,  während  wir 
die  Tendenz  und  den  weltgeschichtlichen  Sinn  dieser  Unter- 
scheidung als  ein  ewiges  Verdienst  Kants  verehren. 

In  dieser  Parole  kommt  Kant  mit  Piaton  überein. 
Es  ist  der  Weg  des  Idealismus,  der  von  dem  Gängelband  der 
Natur  und  von  der  Tyrannei  der  Erfahrung  sich  frei  macht.  Das 
absterbende  Altertum  hat  für  diesen  Idealismus  keinen  Atem 
gehabt.  Daher  ist  es  so  ausserordentlich  lehrreich,  dass  die 
Stoa,  wie  Epikur,  immer  nur  das  Individuum  predigen,  und 
die  Aufgabe  der  Ethik  im  Ideal  des  Weisen  zu  erkennen 
glauben.  Sie  träumen  ahnungsvoll  von  einer  Allheit;  sie  ver- 
steigen sich,  wie  ja  der  kosmopolitische  Gedanke  dem  griechischen 
Philosophen  im  Blute  liegt,  zu  dem  Gedanken  der  Menschheit. 
Aber  solche  Gedanken  bilden  nur  Ausschmückungen  und  allen- 
falls Konsequenzen;  Mittelpunkt  bleibt  trotz  alledem  das  Indi- 
viduum. Sie  vermögen  ihre  Art  von  Allheit  nicht  in  Verhältnis, 
nicht  in  Wechselwirkung  zu  setzen  mit  dem  Individuum.  Es 
gelingt  ihnen  nicht  einmal  mit  der  Besonderung  und  ihren  Arten; 
und  sie  gehen  auch  darauf  nicht  aus;  geschweige  mit  der  Durch- 
dringung des  Individuums  mit  der  Allheit,  auf  die  sie  allerdings 
in  geschichtlicher  Fernsicht  hinzielen. 


14  Die  Stoa  und  Spinoza. 

Dieser  stoische  Zug,  der  das  Ideal  in  das  Individuum  legt, 
ist  allem  bisherigen  Weltalter  eigen  geworden  und  eigen  geblieben, 
weil  das  in  derselben  Zeit  entstehende  Christentum  ihn  sich 
zu  eigen  gemacht  hat.  Und  wenngleich  das  letztere  vom  Mutter- 
mal des  Naturalismus  sich  ablöste,  so  musste  es  doch,  indem  es 
die  Gottheit  mit  einem  menschlichen  Individuum  vereinigte, 
diesen  stoischen  Grundzug  beibehalten.  Um  so  leichter  wurde 
es  wegen  dieser  Innern  Verwandtschaft  des  Christentums  mit 
dem  Stoicismus  der  neuern  Welt,  durch  den  letzteren  sich  zu 
regenerieren,  während  es  von  der  Allgewalt  des  ersteren  sich 
loszureissen  suchte.  Da  man  aber  in  dieser  allgemeinen  Tendenz 
der  Renaissance  auf  die  Natur  zurückging,  so  fand  man  auch 
dafür  in  der  Stoa  verwandte  Stichworte.  So  verbinden  sich  in 
der  Renaissance  die  Natur  und  das  Individuum  in  der  Sehnsucht 
nach  einer  neuen  Moral.  Konnte  aber  auch  eine  neue  Ethik, 
eine  Ethik,  die  in  die  Spuren  des  Platonischen  Idealismus  ein- 
lenkte, auf  diese  Weise  entstehen? 

Spinoza  hat  dem  Hauptwerke  seiner  Philosophie  und  damit 
dieser  selbst  den  Namen  der  Ethik  gegeben.  Und  keiner  Ethik, 
die  in  den  neueren  Zeiten  vor  Kant  auftrat,  dürfte  es  gelungen 
sein,  ihre  Grundstimmung  einem  ganzen  Zeitalter  so  allgemein 
aufeudrücken,  und  zwar  den  mächtigsten  Geistern  desselben.  Und 
dennoch  hat  auch  Spinoza  die  Folgen  des  Zusammenhangs  nicht 
überwinden  können,  in  dem  er  mit  der  Stoa  steht.  Nicht  der 
Naturalismus  ist  eigentlich  abstossend  an  ihm,  den  Herbart 
nicht  ohne  einen  Anflug  von  Antipathie  hervorzukehren  beflissen 
ist;  denn  dieser  liegt  häufig  nur  in  den  Schwingen  der  Termino- 
logie. Aber  die  Abneigung,  die  Kant  gegen  ihn  mehr  als  gegen 
jeden  andern  Philosophen  deutlich  erkennen  lässt,  sie  entspringt 
aus  einem  sachlichen,  grundsätzlichen  Gegensatz.  Spinoza  be- 
zaubert den  Leser  durch  die  Ruhe  und  die  Erhabenheit  über 
Vorurteile  und  herrschende  Ansichten,  durch  die  er  den  Anschein 
einer  antiken  Nacktheit  annimmt,  indem  er  die  menschlichen 
Leidenschaften  und  auch  die  Handlungen  auf  ein  Niveau  mit  den 
mathematischen  Figuren  setzte.  Solche  Gesinnung  ist  aller  Ehren 
wert,  wenn  es  sich  um  ein  Urteil  handelt  in  dem  Kampf  der 
Meinungen  und  der  Parteien;  sie  widerspricht  jedoch  der  Mög- 
lichkeit einer  Ethik,  wie  sie  Plato  geschatTen  hat. 


Der  Fehler  des  Pantheismus  für  die  Ethik.  15 

Wenn  die  Handlungen  der  Menschen  zu  betrachten  wären, 
als  wären  sie  Linien,  Flächen  und  Körper,  wie  Spinoza  dies  aus- 
zusprechen wagte,  so  wären  nicht  nur  die  Handlungen  der 
Menschen,  sondern  die  Menschen  selbst  mathematische  Figuren. 
In  diesen  mathematischen  Figuren  liegt  bei  Spinoza  der 
Grundfehler  seines  Naturalismus.  Die  Menschen  sind  nicht 
Naturkörper.  Das  bleiben  sie  aber  auch  als  mathematische 
Figuren.  Wer  konstruiert  denn  diese  geometrischen  Figuren  auf 
dem  Schachbrett  der  Natur? 

Man  sieht  bei  dieser  Frage,  dass  diese  Ethik  nicht  ihren 
letzten  Grund  in  den  mathematischen  Figuren,  wie  auch  nicht 
in  den  Individuen  der  Menschen  hat.  Sie  beruht  auf  einer 
Metaphysik,  in  deren  Lehre  von  der  Substanz  der  Natur  das 
Individuum  erst  seine  mehr  als  bescheidene  Stellung  finden  kann. 
Innerhalb  der  Ethik  selbst  kann  es  sich  nicht  verantworten  lassen, 
dass  die  Menschen  mathematische  Gebilde  seien.  Daher  durfte 
Kant  seinen  AngriiT  gegen  diesen  Grundsatz  richten.  Bei  dem 
Zirkel  darf  ich  nicht  fragen,  was  er  sein  soll ;  sondern  allein,  was 
er  ist.  In  seinem  Sein  liegt  sein  Gesetz.  Dagegen  liegt  das  Gesetz 
des  Menschen   nicht   in   seinem  Sein,   sondern  in  seinem  Sollen. 

Nirgend  vielleicht  kann  man  die  zwingende  innere  Konse- 
quenz eines  Grundgedankens  so  deutlich  erkennen,  wie  in  der 
Abhängigkeit  der  philosophischen  Romantik  von  Spinoza. 
Sehe  Hing,  wie  Hegel,  und  trotz  mancher  Abweichung  auch 
Schleiermacher,  sie  sind  alle  im  Pantheismus  befangen.  Die 
Gefahr  des  Pantheismus  liegt  aber  nicht  ursprünglich  in  der 
Bedrohung  der  Gottesidee;  diese  betriffl  nur  die  Konsequenz.  Der 
Fehler  des  pantheistischen  Fundaments  und  Prinzips  bezieht  sich 
auf  den  BegriiT  des  Menschen  und  daher  auf  das  Problem  der 
Ethik.  Wenn  Gott  und  Natur  Dasselbe  sind,  so  sind  zum 
mindesten  Mensch  und  Natur  Dasselbe.  Und  so  geht  der  Unter- 
schied zwischen  Sein  und  Sollen  zu  nichte. 

Es  ist  doch  gewiss  nicht  von  Ungefähr  geschehen,  dass 
weder  Schelling  noch  Hegel  eine  Ethik  in  eigener  Verfassung  und 
unter  besonderem  Titel  geschrieben  haben.  Und  Schleiermacher 
richtet  sich  vor  Allem  in  einer  grundsätzlichen  Abhandlung  gegen 
diese  Unterscheidung.  Alle  Identitäts-Philosophie  ist  Pantheismus, 
wenn   sie  nicht  im  Begriffe  des  Denkens  selbst   den  Unterschied 


16  Verhältnis  zwischen  Denken  und  Wollen. 

ansetzt,  der  zur  Unterscheidung  von  Sein  und  Sollen  hinführt. 
Der  Fehler  im  System  der  Identität  liegt  daher  begründet  in  einem 
doppelten  Fehler  im  Begriffe  der  Identität:  nämlich  ei*stens  in 
einer  falschen  Identität  im  Denken,  und  demzufolge  in  einer 
solchen  im  Sein.  Hier  aber  stossen  wir  auf  einen  andern  Fehler 
der  Psychologie,  in  der  wir  allgemein  die  Grundlage  dieser  Art 
von  Ethik,  welche  sich  in  der  Identitäts-Philosophie  der  Romantik 
fortsetzt,  gefunden  haben. 

Die  Psychologie  geht  vom  Individuum  und  auf  das  Indi- 
viduum aus.  Auch  die  Handlungen  des  Menschen  fallen  für  sie 
unter  den  Gesichtspunkt  des  Individuums.  Wenn  aber  dies  von 
den  Handlungen  gilt,  wie\iel  mehr  muss  es  von  den  Begehrungen 
und  Strebungen  gelten.  Eine  alte  Streitfrage  bildet  daher  das 
Verhältnis  zwischen  Denken  und  Wollen. 

Die  Frage  ist  in  der  beginnenden  christlichen  Philosophie 
mit  den  Grundfragen  der  christlichen  Dogmatik  kompliziert;  der 
W^ille  muss,  um  es  für  den  vorliegenden  Gesichtspunkt  einseitig 
auszudrücken,  schon  des  Bösen  wegen,  das  er  schaffen  muss,  in 
besondere  Kraft  und  Geltung  treten.  Ebenso  freilich  aber  auch 
für  die  Liebe  zu  Gott  und  den  Menschen.  Der  Gesichtspunkt 
des  Sokrates,  dass  Tugend  Wessen  sei,  musste  daher  zurück- 
gedrängt werden.  Dennoch  aber  musste  schon  das  Willensmotiv 
in  der  religiösen  Liebe  es  verhindern,  dass  das  intellektuelle 
Motiv  im  Willen  gänzlich  hätte  ausgeschaltet  werden  können. 
Ohnehin  war  es  ja  für  die  Freiheit  des  WM.Ilens,  soweit  man  sie 
brauchte  und  anerkannte,  unentbehrlich. 

Auch  im  Rechte  spielt  diese  Frage  in  der  neueren  Zeit 
eine  typische  Rolle.  Leibniz  bleibt  sich  konsequent,  indem  er 
gegen  die  Ueberspannung  des  Willens  im  Rechte  eintritt.  Aber 
freilich  darf  andererseits  auch  das  intellektuelle  Moment  für  den 
BegrilT  der  Handlung  nicht  allein  ausschlaggebend  werden.  Die 
Strafrechts-Theorie  verlallt  sonst  dem  Fehler  einer  einseitigen 
Gesinnungs-Ethik,  für  welche,  bei  günstigster  Auffassung,  der  Wert 
und  der  Prüfstein  der  Gesinnung  in  der  Genauigkeit  des 
Denkens  besteht. 

W^o  liegt  nun  die  methodische  Richtschnur  für  alle  diese 
und  die  vielen  ähnlichen  Fragen,  die  mit  ihnen  zusammen- 
hängen?   Liegt  sie  etwa  in  der  Psychologie?    Gibt   es  eine  Psy- 


Wille  und  Intellekt  nicht  in  einander  aufzuheben.  17 

« 

chologie,  welche  solchen  Schwierigkeiten  gegenüber  auf  eigenen 
Füssen  stände,  um  von  ihrem  eigenen,  selbständigen  Boden  aus 
jene  Fragen  lösen  zu  können?  Ist  nicht  vielmehr  die  Psycho- 
logie in  jene  Fragen  selbst  verwickelt;  und  nicht  allein  mit 
diesen  sachlichen,  wissenschaftlichen  Problemen,  sondern  zugleich 
mit  den  Grundannahmen  über  die  tierische  Natur  des  Menschen, 
mit  denen  sie  daher  jene  wissenschaftlichen  Fragen  in  eine  neue, 
gesteigerte  Komplikation  bringt? 

Bei  keinem  seelischen  Vorgang  kann  man  es  so  deutlich 
beobachten,  wie  beim  Willen,  dass  die  Psychologie  von  den 
sachlichen  Problemen  beeinflusst  ist,  und  dass  sie  von  ihnen  aus  zu 
ihren  Problemen  und  zu  ihrem  Material  erst  gelangt.  Der  Wille 
war  bei  Piaton  noch  nicht  vorhanden;  erst  seine  Ethik  bringt 
ihn  hervor,  ohne  ihn  noch  zu  einem  bündigen  psychologischen 
Ausdruck  zu  bringen.  Er  hat  noch  die  verbale  Formulierung; 
er  heisst  das  Wollen  oder  die  Wollung  (ßoüXYjatg;  die  seelische 
Potenz  steckt  noch  im  Actus.  Aber  die  Vorstufe  des  Willens, 
die  Begehrung,  sie  ist  als  eine  mächtige  und  eigenartige  seelische 
Kraft  erkannt  und  anerkannt.  Sie  bleibt  auch  in  der  höhern 
Stufe  erhalten,  in  welcher  sich  der  neue  Wille  emporringt.  Und 
darauf  kommt  es  an,  dass  das  Moment  der  Strebung  bei  aller 
Läuterung,  deren  der  Wille  fähig  gemacht  wird,  dennoch  nicht 
ausgelöscht  und  nicht  verdunkelt  werde. 

Das  Verhältnis  von  Wille  und  Denken  darf  nämlich 
durchaus  nicht  so  zur  Bestimmung  kommen,  dass  entweder  der 
Wille  den  Intellekt,  oder  der  Intellekt  den  Willen  ausspannt. 
Beide  müssen  erhalten  bleiben;  keines  dieser  beiden  Motive  darf 
auch  nur  das  l^ebergewicht  über  das  andere  in  der  wissenschaft- 
lichen Bestimmung  erlangen.  Vor  dieser  Forderung  entsteht 
die  InsufTicienz  der  Psychologie  bei  dieser  Grundfrage.  Und  diese 
Schwäche  wird  durch  den  allgemeinen  Umstand  gesteigert,  dass 
die  Psychologie  nach  ihrer  besten,  nämlich  physiologischen 
Fundamentierung  naturalistisch  bedingt  ist.  Für  sie  niuss 
unumgänglich  der  Wille  seinen  Ursprung  im  Triebe  haben  und 
behalten.  Es  kommt  daher  zu  der  lehrreichen  Alternative,  welche 
die  neuere  Psychologie  darstellt,  dass  nach  der  einen  Ansicht 
der  Wille  nur  ein  vom  Denken  angekränkelter,  in  seiner  natür- 
lichen Sicherheit    daher   verlangsamter   Trieb    sei;    während    er 


18  Psychologie  im  Dienste  der  Metaphysik. 


nach  der  andern  Theorie  mit  der  bangen  Wahl  anfangt,  aber 
die  Chance  der  Karriere  hat,  zum  Reflex-Willen  sich  abstumpfen 
zu  können.  So  zeigt  sich  die  Psychologie  direktionslos  gegenüber 
dieser  Grundfrage;  wie  sollte  es  daher  denkbar  sein,  dass  sie  die 
Ethik  dirigiren  könnte? 

Es  ist  auch  nur  äusserlicher,  wenngleich  wissenschaftlich 
übertünchter  Schein,  dass  die  Psychologie  selbst  die  Leitung  in 
der  Behandlung  dieses  Problems  übernähme.  Die  Psycho- 
logie stellt  sich  dabei  vielmehr  in  den  Dienst  der  Meta- 
physik. Man  kennt  ja  sattsam  diese  Art  von  Metaphysik;  sie 
hat  Jahrzehnte  lang  fast  das  Interesse  für  Philosophie  überhaupt 
verschlungen.  Der  Wille  sei  das  Absolute,  das  Ding  an  sich, 
während  def  Intellekt  nur  die  Erscheinung  zu  trefi*en  vermöge. 
Diese  Metaphysik  Schopenhauers  trennt  somit  die  beiden 
Momente  des  Intellekts  und  des  Willens  so  schroff  von  einander, 
dass  sie  sie  in  zwei  Welten  von  verschiedenem  Werte  abteilt; 
das  eine  in  die  Welt  des  Scheins  verweist,  das  andere  allein  der 
Welt  der  Wahrheit  zuerteilt. 

Wenn  diese  Metaphysik  Ethik  sein  wollte  oder  sollte,  so 
müssten  wir  stutzig  werden;  geschweige  wenn  sie  Psychologie 
sein  soll.  Denn  wir  haben  unbezwinglichen  Verdacht  gegen  eine 
Wahrheit,  die  auf  anderen  Gerechtsamen  beruht  als  auf  denen 
der  erkennenden  Vernunft.  Kein  Wille,  wenn  er  dem  Intellekt 
entgegengesetzt  wird,  kann  eine  Welt  der  Wahrheit  bedeuten, 
oder  gar  verbürgen  dürfen,  während  der  Intellekt  zum  Urheber 
der  Erscheinung  wird.  Es  ist  eine  Konsequenz,  wie  die  des 
Hexen-Einmal-Eins,  dass  in  dieser  Metaphysik  an  die  Stelle  der 
Philosophie  die  Musik  tritt.  Wenn  die  Rätsel  der  Welt  dem 
Willen  überantwortet  werden,  dann  muss  die  Kunst  an  die  Stelle 
der  Wissenschaft  treten;  und  unter  den  Künsten  alsdann  die- 
jenige, welche  den  Affekt  zum  mächtigsten  Leben  bringt. 

Was  diese  Art  von  Metaphysik  in  ihrem  letzten  Grunde 
anstrebt,  das  ersieht  man  nur  indirekt  an  dieser  Zeiterscheinung, 
insofern  sie  die  Philosophie  und  die  Wissenschaft  an  die  angeb- 
liche Kunst  preisgibt  Das  ist  jedoch  nicht  der  letzte  Grund,  von 
dem  sie  getrieben  wird.  Die  wahrhafte,  die  ewige  Kunst  ver- 
dankt ihren  Ursprung  nicht  falschen,  geschweige  verfälschten 
Richtimgen   der  Vernunft.    Für   sie*  gibt   es   keinen  Widerstreit 


Der  absolute  Wille.  19 


zwischen  Intellekt  und  Willen,  zwischen  theoretischer  und 
ethischer  Vernunft.  Die  Metaphysik,  welche  eine  solche  der 
Wissenschaft  und  Philosophie  sich  überordnende  und  identi- 
ficirende  Kunst  hervorbringt,  hat  einen  andern,  eigenen  Zielpunkt, 
neben  welchem  die  Kunst  nur  einen  Seitenweg  und  einen 
Nebenertrag  bildet.  Die  Tendenz  einer  sogenannten  Metaphysik, 
welche  den  Willen  auf  Kosten  des  Intellekts  offenbart,  ist  der 
Skeptizismus  oder,  wie  man  es  heute  wieder  zu  benennen  pflegt, 
der  Agnostizismus.  Der  Intellekt  kann  nur  die  Erscheinung 
erreichen;  das  An  sich,  das  Wesen  der  Dinge  bleibt  ihm  ver- 
borgen. Verachte  nur  Vernunft  und  Wissenschaft,  des  Menschen 
allerhöchste  Kraft. 

Ueber  das  Diabolische  einer  solchen  Offenbarung  lassen  sich 
die  Menschen  hinwegtäuschen,  indem  sie  um  so  dringlicher  nach 
der  andern  Quelle  Verlangen  tragen,  von  der  ihnen  Wahrheit 
soll  zufliessen  können.  Wille  wird  diese  Quelle  genannt.  So 
liegt  sie  innerhalb  des  Menschen,  also  doch  auch  innerhalb  der 
Vernunft.  Also  ist  es  auch  noch  immer  Philosophie  und  Wissen- 
schaft, was  bei  dieser  Quelle  in  Gebrauch  und  Geltung  bleibt.' 
So  scheint  es,  und  so  soll  es  scheinen.  Denn  Nichts  soll  vor- 
sichtiger vermieden  werden  als  der  Schein,  als  ob  die  menschliche 
Souveränität,  und  zwar  insbesondere  dieWillkür  des  offenbarenden 
spekulativen  Genies  abgesetzt  würde.  Dennoch  ist  der  Prunk  mit 
dieser  seelischen  Macht  des  Menschen  nur  Schein,  der  sogar  in 
gewisser  Weise  selbst  aufgelöst  wird;  denn  der  Wille  ist  ja  keines- 
wegs der  des  Menschen  allein,  sondern  der  der  gesamten 
lebendigen  und  scheinbar  toten  Natur.  So  bleibt  der  Gegensatz 
zum  Menschen  in  dem  absoluten  Willen,  in  dem  An  sich  des 
Willens  stecken. 

Die  berückende  Gefahr,  welche  diese  Art  von  Metaphysik  alle 
Zeit  bildet,  besteht  in  ihrer  Verschwörung  mit  allen  Abarten  der 
Religion,  deren  eigentliches,  inneres  Leben  die  Feindschaft  gegen 
die  selbständige  menschliche  Vernunft  ausmacht.  Diese  Religions- 
Metaphysik  ist  der  Sinn  und  das  Ziel,  der  Kampfpreis  und  das 
Kampfmittel  dieser  Metaphysik  des  Agnostizismus.  Wenn  es  aber 
der  menschlichen  Vernunft  versagt  sein  sollte,  den  Begriff  des 
Menschen  nach  seiner  Wahrheit  zu  erkennen,  so  könnte  es  auch 
keine   Ethik   geben.    Also   widerstrebt  der  Agnostizismus   einer 


20  Protestantismus  als  Ethiko-Theologie. 

selbständigen  Ethik;  einer  Ethik,  die  auf  Grund  eigener  Methodik 
sich  einrichtet  und  sich  aufbaut. 

Wenn  wir  nun  aber  gesehen  haben,  dass  die  Theorie  von 
der  übergreifenden,  absoluten  Selbständigkeit  des  Willens  keines- 
wegs Psychologie,  sondern  vielmehr  Metaphysik  ist;  und  ferner, 
dass  die  Metaphysik,  als  die  des  Agnostizismus,  zur  Aufhebung 
der  Ethik,  als  einer  Lehre  mit  eigener  Begründung,  führt,  so  hat 
sich  dadurch  die  Psychologie  als  ungeeignet  erwiesen,  die  Leitung 
für  die  Ethik  zu  übernehmen.  Auch  der  Schein  des  Willens  ist 
beseitigt;  denn  dieser  Wille  bildet  einen  Gegensatz  zum  Intellekt. 

Das  ist  der  liefe,  der  keusche  Sinn  in  der  dem  Ausdruck 
nach  freilich  nicht  ganz  klaren  Formel  von  dem  Unterschiede 
zwischen  Sein  und  Sollen:  dass  das  Problem  der  Ethik  selb- 
ständig gemacht,  von  dem  der  theoretischen  Vernunft  unter- 
schieden werde,  und  doch  nichtsdestoweniger  als  ein  Problem  der 
Vernunft  anerkannt  bleibe. 

Nicht  an  die  Religion  in  irgend  welcher  verlarvten  Form 
darf  die  Ethik  abgetreten  werden.  Auch  darf  jener  der  Vortritt 
nicht  eingeräumt  werden.  Was  Ethik  sei,  hat  die  Philosophie 
nach  ihren  Methoden  zu  ermitteln  und  zu  ergründen  und  also 
auch  erst  festzustellen.  Was  in  der  Religion  Sittlichkeit  sei, 
das  hat  die  Religion  selbst  erst  von  der  Ethik  zu  lernen.  Die 
Theologie  muss  Etliiko-Theologie  werden. 

Das  war  die  grosse  Erneuerung  des  Protestantismus, 
welche  Kant  für  die  sittliche  Welt  vollzog.  Der  Gedanke  ist 
nicht  auszudenken,  dass  diese  Signatur  der  Ethik  ihr  jemals 
wieder  verloren  gehen  könnte,  wenn  anders  die  Menschheit  in 
der  geschichtlichen  Tendenz  des  Protestantismus  fortschreitet. 
Wenn  heutzutage  gegen  diesen  innersten  Lebenskern  des  Kantischen 
Geistes  ein  gehässiger,  hämischer  Widerstand  sich  hervorwagt, 
so  ist  er  eben  mit  den  bösen  rückläufigen  Bewegungen  dieser 
Zeit  verwachsen,  und  ist  durch  diesen  Zusammenhang  gekenn- 
zeichnet und  gerichtet. 

Der  Unterschied  von  Sein  und  Sollen  besagt  nicht,  dass 
wir  das  Sein  zwar  von  der  Wissenschaft,  das  Sollen  dagegen  von 
etwas  Anderem  als  Wissenschaft  zu  erlernen  und  zu  bestimmen 
hätten;    sondern    er   bedeutet,    kurz   zusammengefasst,   die  Selb- 


Der  Wille  als  Werth  der  Wahrheit.  21 

ständigkeit  der  Ethik  neben  der  Logik  und  demzufolge  neben 
der  Naturwissenschaft. 

Wenn  aber  die  Ethik  sogar  neben  der  Logik  Selbständigkeit 
behauptet,  wie  viel  mehr  muss  dies  dann  gegenüber  der  Psycho- 
logie der  Fall  sein.  Das  ist  der  erweiterte  Sinn,  den  jene  grund- 
legende Unterscheidung  annimmt.  Die  Psychologie  darf  in  keiner 
Weise  den  Ausgang  bilden.  Nicht  nur,  weil  sie  nicht  die  Methode 
der  Ethik  leiten  kann,  da  sie  ja  vielmehr,  wie  wir  sahen,  in 
ihrem  Material  von  der  Ethik  abhängig  ist;  sondern  auch  deshalb 
darf  nicht  von  ihr  ausgegangen  werden,  weil  sie  für  den  Begriff 
des  Menschen  die  richtige  Perspektive  nicht  eröffnet;  weil  sie 
den  moralischen  Horizont  verengt.  Ihr  ist  der  Mensch  der  sinn- 
liche, der  physiologische,  also  der  tierische  Mensch;  das  ist  er 
ihr  im  Anfang,  und  im  Grunde  bleibt  er  ihr  das  immer.  Die 
Devise:  Sein  und  Sollen  hebt  über  diesen  Anfang  hinweg,  und 
nicht  nur  über  den  Anfang.  Der  Begriff  des  Menschen  soll  nicht 
haften  bleiben  an  diesem  MenschenbegrifT  der  Psychologie,  wenn 
anders  Ethik  möglich  werden  soll. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  alte  scholastische  Kontroverse  über 
den  Willen  und  den  Intellekt  dahin  erneuert  worden,  dass  man 
in  den  Willen  die  Bestimmung  des  Wertes  der  Wahrheit 
gelegt  hat.  Dem  Intellekt  an  sich  soll^demnach  diese  Bestimmung 
des  Wertes,  von  der  sein  eigener  Wert,  sollte  man  meinen, 
gänzlich  abhängt,  dennoch  nicht  beiwohnen.  Der  Intellekt  hat 
also  nicht  die  Selbsterkenntniss  seines  Wertes  als  Wahrheit;  erst 
der  Wille  verleihe  dem  Intellekt  diese  Beglaubigung.  Der  Wert 
des  Willens  steigt  freilich  dadurch  sehr  in  die  Höhe;  sinkt  nicht 
aber  demgemäss  der  Intellekt?  Doch  vor  Allem  haben  wir  hier 
darauf  zu  sehen,  dass  diese  ganze  Richtung  der  Charakteristik, 
die  doch  eine  häusliche  Angelegenheit  der  Psychologie  im  strengsten 
Sinne  sein  sollte,  durchaus  von  allgemeinen  systematischen  Mo- 
tiven geleitet  wird.  Und  so  bestätigt  sich  auch  hier,  dass  die 
Psychologie  dieser  systematischen  Motive  sich  schlechterdings 
nicht  erwehren  kann. 

Dieser  neuerlichen  Ansicht  gegenüber,  welche  im  Grunde 
den  Gedanken  des  amor  intellectualis  wieder  aufleben  lässt, 
können  wir  die  Kantische  Formel  mit  derselben  Schärfe  ent- 
gegenhalten.   Sein  und  Sollen,  das  heisst:  nicht  Sollen  und 


22  Die  Logik  und  die  Wahrheit. 

Sein.  Das  Interesse  an  der  Ethik  mag  noch  so  hochgestellt 
werden,  wie  es  ja  der  Kantische  Ausdruck  des  Primates  der 
praktischen  Vernunft  in  der  Tat  an  die  Spitze  stellt,  dennoch 
aber  darf  darüber  die  methodische  Reihenfolge  nicht  umgekehrt 
werden.  Es  mag  immerhin  die  Spitze  bilden;  den  Anfang  da- 
gegen und  das  Fundament  bildet  die  Ethik  nicht.  Die  Ethik 
aber  würde  zum  Fundament  unweigerlich  gemacht  werden, 
wenn  ihr,  wenn  dem  Willen  die  Prägung  des  Wahrheitswertes 
aufgetragen  wird. 

Auch  diese  Ansicht  begünstigt  die  Metaphysik,  wenngleich 
nur  in  der  Ueberspannung,  welche  den  Standpunkt  Fichtes 
bildet.  Auch  dieser  vollzieht  eine  Umkehrung  der  Methode. 
Er  leitet  die  Wahrheit  im  letzten  Grunde  von  der  Ethik  ab. 
Ethik  entsetzt  daher  die  Logik,  deren  methodisches  Recht  viel- 
mehr es  bleiben  muss,  den  Wert  der  Wahrheit  zu  bestimmen. 
Wo  daher  die  Logik  umgangen,  wo  ihre  erste  Instanz  verleugnet 
wird,  da  ist  man  unrettbar  der  Metaphysik  verfallen;  ihren  Zwei- 
deutigkeiten, ihren  Verschlingungen,  ihren  Verwirrungen,  ihren 
UnWahrhaftigkeiten. 

Wenn  die  Logik  für  die  Bürgschaft  der  Wahrheit  ver- 
worfen wird,  so  entsteht  der  Verdacht,  dass  derjenige  Sinn  der 
Wahrheit,  den  sie  zu  verbürgen  vermag,  verworfen  und  ver- 
achtet wird.  Jedenfalls  wird  er  als  nicht  zureichend  erächtet. 
Dieses  Urteil  darf  nicht  als  ein  Vorurteil  erscheinen;  vielmehr 
beruht  es  auf  der  Unterscheidung  von  Sein  und  Sollen.  Ein 
Anderes  aber  ist  es,  die  logische  Wahrheit  als  nicht  zureichend 
zu  erkennen  für  den  ethischen  Anspruch;  ein  Anderes  hin- 
gegen, die  erstere  darum  für  die  letztere  preiszugeben,  und  die 
letztere  ausser  Zusammenhang  zu  setzen  mit  der  ersteren.  Diese 
Wendung  allein  bezeichnet  die  Tendenz  der  Metaphysik,  und  sie 
ist  es,  gegen  welche  wir  hier  die  Aufmerksamkeit  erregen. 
Wenn  derjenige  \Vert  der  Wahrheit,  den  die  Logik  zu  bieten 
vermag,  hintangestellt,  verdächtigt  und  verworfen  wird,  so  muss 
die  Frage  entstehen:  ob  es  eine  andere  Wahrheit  als  die  der 
Logik  geben  könne;  eine  andere  als  die,  welche  auf  dem  Grunde 
der  Logik  beruht  und  von  diesem  Grunde  prinzipiell  und 
methodisch  nicht  abweicht? 


Idee  und  Ding  an  sich.  23 

Von  welcher  Art  könnte  eine  andere  Art  von  Wahrheit  sein? 
Ihr  Inhalt  muss  doch  der  Mensch  bleiben.  Welches  Problem 
des  Menschen,  welches  Interesse  am  Menschen  kann  und  darf 
ein  neues  Problem  der  Wahrheit  erwecken,  nachdem  der  Wert 
der  Wahrheit,  den  das  Denken  der  menschlichen  Wissenschaft 
ausmacht,  in  Zweifel  gezogen  ist?  Muss  nicht  der  Verdacht  ent- 
stehen, dass  an  Stelle  wissenschaftlicher  Begrifle  und  Erkennt- 
nisse Wahngebilde  der  Mythologie  treten  könnten?  Und  muss 
nicht  vor  Allem  der  Verdacht  entstehen,  dass  die  Arten  und 
die  Grade  der  Gewissheit,  welche  die  Logik  unterscheiden 
lehrt,  auf  diesem  Wege  nivelliert  und  beseitigt  werden? 

Hier  müssen  wir  nun  auf  einen  verhängnisvollen  Mangel 
in  der  Formel  von  Sein  und  Sollen,  wie  in  ihrer  Durch- 
führung, hinweisen.  Wir  sagten  schon  oben,  das  Sollen  müsse 
doch  auch  ein  Sein  bedeuten.  Die  Unterscheidung  vom  Sein  darf 
nimmermehr  dem  Sollen  den  Wert  des  Seins  benehmen,  das 
Sollen  vom  Sein  ausseht iessen.  Nur  das  Sein  der  Natur,  als  der 
Natur  der  Naturwissenschaft,  soll  hier  das  Sein  bedeuten,  und 
von  diesem  Sein  soll  das  Sollen  unterschieden  w^erden.  Was 
bleibt  ihm  dann  aber  für  eine  andere  Art  von  Sein?  Unsere 
Frage  geht  hier  nicht  auf  den  Inhalt  dieses  Seins  —  auf  den 
soll  sie  später  gerichtet  werden,  —  sondern  auf  den  methodischen 
Wert  dieses  Seins.  Welcher  Wert  der  Wahrheit  ist  ihm  zuzu- 
sprechen? 

Hier  kommen  wir  auf  eine  tiefste  Schwierigkeit  in  Kants 
Terminologie,  nämlich  auf  das  Verhältnis  der  Idee  zum 
Ding  an  sich.  Gerade  hier  hat  Fichte  eingesetzt,  und  hier 
konnte  er  zu  der  Einbildung  kommen,  dass  er  Kant  zu  ver- 
bessern berufen  sei.  Wir  wissen  von  der  Logik  her,  dass  das 
Problem  des  Dinges  an  sich  von  Kant  nicht  vollständig 
aufgelöst  worden  ist,  und  dass  es  von  ihm  nicht  auf- 
gelöst werden  konnte,  weil  er  die  BegritTe  der  Realität  und  der 
Wirklichkeit  nicht  zu  voller  Klarheit  und  Sicherheit  gebracht 
hat  Hier  haben  w4r  nun  zu  sehen,  wie  dieser  Grundmangel 
auch  mit  einem  solchen  in  der  Bestimmung  der  Idee  zusammen- 
hängt. Wenn  wir  jedoch  den  Mangel  in  der  Idee  betrachten, 
müssen  wir  vorerst  ihren  Vorzug  uns  vergegenwärtigen. 


24  Ideen  und  allgemeine  Naturgesetze. 

Der  Wei:t  des  Terminus  der  Idee  liegt  in  der  Unter- 
scheidung von  Sein  und  Sollen.  Kant  hat  den  Tiefblick  gehabt, 
der  ihm  das  Geheimnis  der  platonischen  Idee  enthüllte.  Die 
Idee  sei  in  den  neueren  Sprachen  in  Missbrauch  gekommen;-  ihr 
Sinn  sei  schwankend,  ihr  Vorzugswert  sei  hiniallig  geworden. 
Die  Idee  sei  keineswegs  mit  der  Vorstellung  gleichzusetzen.  Aber 
freilich  dürfte  sie  auch  mit  der  Erkenntniss  nicht  gleichgesetzt 
werden.  Diesen  Fehler  habe  Plato  begangen;  er  habe  eben 
Sein  und  Sollen  nicht  unterschieden.  Auch  ihm  sei  daher 
das  Schicksal  der  Metaphysik  beschieden  gewesen;  auch  ihm  sei 
es  gegangen  wie  der  Taube,  die  den  Widerstand  der  Luft  nicht 
abgeschätzt,  die  im  luftleeren  Räume  habe  fliegen  wollen.  Daher 
beschränkt  Kant  den  Gebrauch  der  Idee,  abgesehen  von  dem 
regulativen  Gebrauche  in  den  biologischen  Erfahrungs Wissen- 
schaften, auf  den  praktischen  Vernunftgebrauch,  auf  das  Sollen 
der  Ethik. 

Sicherlich  wäre  jedes  Misstrauen  gegen  die  Absicht  Kants 
in  Bezug  auf  die  Ausprägung  dieses  Wertes  der  Idee  völlig  un- 
begründet; dagegen  spricht  allein  schon  der  dithyrambische 
Preis  der  Idee  und  ihre  Auszeichnung  für  das  grosse  Gebiet  der 
Ethik,  das  er  mit  ihr  und  kraft  ihrer  aufrichten  wollte.  Aber 
bei  rückhaltlosester  Anerkennung  dieser  mächtigen  Wurfkraft 
in  der  Idee  müssen  wir  dennoch  auf  das  Verhältnis  achten,  in 
welchem  sie  zum  Ding  an  sich  steht.  Diese  F'rage  tritt  bei  ihr 
bedrohlicher  und  verlanglicher  auf,  als  bei  dem  Naturgesetze  und 
seinem  Prototyp,  dem  synthetischen  Grundsatz.  Denn  bei  dem 
letztern  lässt  es  sich  leichter  einsehen,  dass  das  Ding  an  sich 
ihm  gegenüber  nur  ein  (iebild  des  unwissenschaftlichen,  des 
dogmatischen  Aberglaubens  sei.  Man  hat  das  Naturgesetz  in 
Händen;  man  konstatiert  in  ihm  die  Naturkraft,  und  in  dieser 
das  Sein  und  Wirken  der  Natur,  und  man  fragt  noch  nach  dem 
Ding  an  sich.  Man  hat  sich  zu  der  kritischen  Einsicht  erhoben, 
dass  die  Dinge  der  Natur  die  Objekte  unserer  Wissenschaft,  also 
mit  dem  alten  platonischen  Worte  Erscheinungen  seien;  und 
jetzt  versteigt  man  sich  zu  der  scheinbar  kritischen  Skepsis,  dass 
sie  nur  Erscheinungen  seien.    So  wird  das  Brot  in  Stein  verwandelt. 

Wie  war  denn    der  Ausdruck    bei  Piaton   entstanden?    Bei 
ihm  bedeutete  er  das  Ding,  sofern  es  durch   das  wahrhafte  Sein 


Die  Idee  in  der  Ethik.  25 

der  Idee  noch  nicht  beglauhigt  wai\  In  dem  Umfang  dieser  Be- 
glaubigungen war  Plato  in  Fehlern  befangen  geblieben.  Es 
konnte  scheinen,  als  ob  nur  und  ausschliesslich  die  Idee  des 
Guten  den  wahren  und  vollen  Wert  des  Seins  zu  gewährleisten 
vermöchte;  dass  dagegen  die  anderen  Ideen,  die  mathematischen^ 
den  Schleier  der  Erscheinung  noch  über  den  Dingen  ausbreiteten. 
Jetzt  aber  ist  ja  dieses  Misstrauen  von  der  Erscheinung  genommen; 
jetzt  hat  die  Erscheinung  in  dem  Naturgesetze  ihr  wahrhaftes 
Sein  erlangt;  jeder  Anflug  des  Scheins  ist  von  der  Erscheiniuig 
entfernt:  wie  kann  man  noch  zweifeln,  dass  das  Ding  an  sich 
sich  schlechterdings  auflöst  in  den  Wert  einer  methodologischen 
Formel,  in  der  ja  auch  allein  ihr  Wert  bestimmt  und  beschrieben 
wird,  als  einer  regulativen  und  heuristischen  Maxime? 

Im  theoretischen  Vernunftgebrauche  also  darf  es  keine  Frage 
bleiben,  dass  es  Kants  klare  Absicht  war,  diesem  Terminus  der 
alten  Metaphysik,  mit  dem  diese  den  Hausfrieden  der  Vernunft 
zu  stören  und  aufs  schwerste  in  ihrem  Hesitzrechte  sie  zu  ver- 
letzen pflegte,  den  Garaus  zu  machen;  wenngleich  er  allerdings 
seine  Auseinandersetzungen  nicht  mit  dem  ruhigen,  klaren  Satze 
beschlossen  hat,  da.<is  das  Ding  an  sich  nichts  Anderes  im 
theoretischen  Vernunftgebrauche  zu  bedeuten  habe,  als  was  die 
regulative  Idee  zu  leisten  hat. 

Anders  aber  steht  es  um  die  Flthik.  Wenn  hier  das  Ver- 
hältnis der  Idee  zum  Ding  an  sich  nicht  vollständig  klargestellt 
ist,  so  wird  der  Seinswert  des  Sollens  dadurch  in  eine  gewisse 
Fraglichkeit  gerückt.  Es  entsteht  dann  nämlich  der  Verdacht, 
als  ob  die  Idee  doch  nur  eine  Idee  wäre,  der  gegenüber  und 
hinter  der  im  Ding  an  sich  der  eigentliche  und  gediegene  Vorrat 
des  Seins  sich  eröflnete,  oder  vielmehr  verberge  oder  verschlösse. 
Dieser  Verdacht  beschleicht  dann  auch  die  Formel,  als  ob  sie  in 
diesem  Sinne  vom  Sein  das  Sollen  abtrennte;  als  ob  das  Sollen, 
wenn  zwar  nicht  einen  Katechismus  von  Geboten,  so  doch  ein 
Phantasiegebiet  frommer  HotTnungen  zu  bezeichnen  hätte. 

Das  ist  die  grosse  Gefahr,  welche  allezeit  für  die  menschliche 
Sittlichkeit  besteht;  die  grösste  Gefahr,  welche  die  wissenschaft- 
liche Ethik  zu  bestehen  hat.  Denn  diesen  Gesichtspunkt,  der  als 
solcher  schon  nicht  unbedenklich  ist,  höhlt  der  Aberglaube  und 
die   populäre   Missgunst   gegen   die   Vernunft,    welche    von    der 


26  Der  Scinswerth  des  Soilens. 

sogenannten  Metaphysik  beschönigt  und  unterstützt  wird,  zu  der 
grossen  Lücke  aus,  welche  das  Stückwerk  aller  menschlichen 
Wissenschaft  offen  lasse.  Und  diese  Lücke  gelte  es  auszufüllen; 
auszufüllen  mit  Wahrheiten,  die  nicht  wissenschaftliche  Wahr- 
heiten sein  dürfen.  Hier  also  muss  jede'  Spur  einer  Lücke,  jeder 
Schlupfwinkel  sorgfältig  beseitigt  werden,  damit  die  Mächte  der 
Finsternis  die  Redlichkeit  und  die  Rechtlichkeit  des  menschlichen 
Wahrheitseifers  nicht  anschwärzen  und  nicht  ankränkeln  können. 

Daher  muss  die  Idee  restlos  in  dem  Sollen  aufgehen. 
Es  darf  für  sie  kein  Ding  an  sich  im  Hintergrunde  stehen  bleiben. 
Die  Idee  ist  das  Sollen.  Die  Ideen  bedeuten  nichts  Anderes  als 
Vorschriften  des  praktischen  Vernunftgebrauchs,  welche  im 
Sollen  zusammengefasst  werden.  In  diesem  Sollen  liegt  der 
Seinswert  der  Ethik.  Dieses  Sollen  beschreibt  und  bestimmt 
das  Wollen,  welches  den  Inhalt  der  Ethik  bildet.  Nichts  Anderes 
bedeutet  das  Sollen  als  das  gesetzmässige  W^ ollen;  das  Wollen 
gemäss  den  Vorschriften,  den  Gesetzen  der  Ethik,  welche  die 
Ethik  zur  Ethik  machen;  welche  daher  auch  das  Wollen  selbst 
bedingen  und  ermöglichen.  Denn  nur  im  Sollen  besteht  das 
Wollen.  Ohne  Sollen  gäbe  es  kein  Wollen,  sondern  nur  Be- 
gehren. Aber  durch  das  Sollen  vollzieht  und  erobert  das  Wollen 
ein  wahrhaftes  Sein. 

Ein  solches  wahrhaftes  Sein  dem  Inhalt  des  sitt- 
lichen Wollens  sicherzustellen,  wird  ein  Hauptaugen- 
merk der  vorliegenden  Ethik  sein.  Darauf  wird  sie  ihr 
dringlichstes  Interesse  richten,  und  dai'in  wird  sie  die  Selb- 
ständigkeit und  die  Eigenart  der  Ethik  zu  begründen  suchen. 
Es  darf  kein  Zweifel  bleiben,  dass  die  Ethik  es  nimmermehr  mit 
einer  transscendenten  Schäfervvelt  zu  tun  habe,  dieweil  Realität 
doch  nur  die  der  sinnlichen  Natur  sei.  Es  muss  durchdringende 
Klarheit  und  genaue  Sicherheit  über  den  Seinswert  geschaffen 
werden,  welcher  den  Schöpfungen  des  Sittlichen  beiwohnt 

Daher  muss  die  Ethik  von  der  Psychologie,  sofern  die- 
selbe die  Grundlegung  der  Ethik  beansprucht,  durchaus  abgetrennt 
werden.  Denn  diese  Leitung  kommt  unentrinnbar  entweder 
dem  Naturalismus  oder  dem  Supranatural ismus,  nicht  selten  auch 
und  nicht  zufälligerweise  Beiden  zugleich  zu  Gute.  Beide  aber 
werden  dem  Eigenwert  des  sittlichen  Seins  nicht  gerecht.    Daher 


Ethik  des  reinen  Willens.  27 

pflegen  sie  sich  zu  verbünden,  um  ihre  beiderseitigen  Mängel 
zu  ergänzen.  Der  naturalistische  Mensch  erscheint  den  An- 
wandelungen  des  Sittlichen  gegenüber  als  ein  Untermensch.  Da 
verschmäht  man  es  denn  nicht,  ihn  supranaturalistisch  zu  einer 
Art  von  Uebermensch  hinaufzuschnellen. 

Die  Mjihologie  mit  ihrer  Transscendenz  und  ihren  Schatten- 
bildern menschlicher  Wesen  ist  nicht  ausgestorben,  in  der  Reli- 
gion lebt  sie  fort.  Und  dass  diese  Art  eines  angeblich  sittlichen 
Seins  vor  der  Abfertigung  geschützt  werde,  dass  sie  mythologische 
Scheinwesen  darstellte,  dafür  soll  eben  die  Assekuranz  bei  der 
Metaphysik  sorgen,  welche  dem  Intellekt  überhaupt  den  Wert 
der  Wahrheit  abspricht,  um  ihn  scheinbar  unverfänglich  dem 
Willen  zu  überantworten.  Schärfstes  Misstrauen  verdient  eine 
Ansicht  vom  W^illen,  welche  diesen  auf  Kosten  des  Intellekts 
grosszieht.  Der  methodische  Verdacht  gegen  die  Psychologie, 
als  Grundlegung  der  Ethik,  rechtfertigt  sich  bis  zu  populärer 
Deutlichkeit  an  dieser  wieder  modern  gewordenen  Abirrung. 

Unsere  Ethik  definiert  sich  als  Ethik  des  reinen 
Willens.  Nicht  schlechthin  mit  dem  Willen  hat  es  die  Ethik 
zu  tun;  einen  solchen  gibt  es  nicht.  Nur  die  Ethik  vermag  zu 
entscheiden,  ob  es  einen  Willen  gibt  oder  nicht  gibt.  Und  nur 
von  ihr  erst  kann  die  Psychologie  es  lernen,  ob  es  einen  Willen 
geben  darf  und  kann.  Aber  da  die  Ethik  nur  den  reinen  Willen 
als  Willen  anerkennt,  so  wird  auch  sie  darin  von  der  Logik 
abhängen.  Denn  nur  die  Logik  bestimmt  den  ßegrilT  der  Rein- 
heit. Die  Reinheit  ist  der  platonische  Ausdruck,  welcher  den 
methodologischen  (irundcharakter  der  Erkenntniss  bezeichnet. 
W^enn  anders  nun  die  Ethik  eine  Lehre  vom  reinen  Willen  ist, 
so  muss  sie,  als  Lehre  und  auf  Reinheit  bezogen,  eine  Art  von 
Erkenntniss  sein.  Die  Bestimmung  dieser  Art  hängt  von  der 
Anwendung  ab,  welche  dem  Begrifl'e  der  Reinheit  in  Bezug  auf 
den  Willen  zukommt.  So  wird  der  Ethik  die  zweite  Stelle 
im  System  der  Philosophie  zugewiesen;  die  zweite  nach 
der  ersten,  welche  der  Logik  gebührt;  der  Logik,  nicht  aber  der 
Psychologie. 

Der  Schein,  dass  die  Ethik  auf  die  Psychologie  gegründet 
werden  müsse,  könnte  aber  in  dem  Problem  des  reinen 
Wollten s    eine   neue  Bestärkung   gewinnen.     Und   diesen  Schein 


28  Die  Geschichte. 

glauben  wir  betrachten  zu  müssen,  bevor  wir  den  Begriff  der 
Reinheit,  wie  die  Logik  ihn  feststellt,  von  dorther  entlehnen,  um 
ihn  für  das  Problem  des  Willens  zur  Verwendung  zu  bringen. 
Dem  Reinen  stellt  man  das  Unreine  entgegen,  das  Gemischte. , 
Die  Empirie  aller  Art  enthält  die  Mischungen  der  Elemente, 
w^elche  die  Logik,  und  demzufolge  die  Ethik  zu  sondern  hat,  um 
die  Grundlage  als  das  Reine  von  den  Nebenbestimmungen  zu 
unterscheiden.  Unausweichlich  ist  es  daher,  dass  eine  Erfahrung 
gegeben  sein  und  aufgesucht  w^erden  müsse,  an  welcher  diese 
Untersuchung  auf  Reinheit  zu  vollziehen  ist.  Diese  Erfahrung 
wird  nun  eben  doch  wieder  die  des  menschlichen  Seelenlebens 
sein  müssen,  die  aber  unvermeidlich  das  Gebiet  der  Psychologie 
bildet.  Wir  brauchen  nun  die  vorigen  Erwägungen  nicht  etwa 
zu  wiederholen;  alier  wir  können  sie  auf  einen  andern  Schau- 
platz dieses  Seelenlebens  übertragen,  von  dem  aus  das  psycho- 
logische Vorurteil  eine  neue  Gefahr  für  die  Ethik  bildet. 

Diesen  neuen  Schauplatz  bildet  die  Geschichte.  Handelt 
es  sich  wirklich  in  der  (ieschichte  um  eine  neue  Form  des 
psychologischen  Vorurteils?  Wir  haben  das  psychologische  Vor- 
urteil bereits  in  zwei  mächtigen  Grundformen  erw^ogen:  in  der 
Korrelation  von  Individuum,  Besonderheit  und  Allheit;  und  zu- 
letzt in  dem  Problem  des  Willens.  Bei  der  Geschichte  kommen 
diese  beiden  Momente  in  Frage.  In  allen  Kontroversen,  w^elche 
den  Wert  der  Geschichte  als  Wissenschaft  betrelTen,  bildet  das 
erste,  wie  das  zweite  Moment,  den  eigentlichen  Kern  der  Streit- 
frage; denn  beide  Momente  treten  dabei  zusammen. 

Im  letzten  Grunde  handelt  es  sich  bei  allen  Fragen  über 
den  Wert  einer  Wissenschaft  umdenBegrifi  des  Gesetzes.  Nur 
w^o  es  Gesetze  gibt,  gibt  es  Kräfte;  denn  Kräfte  sind  Nichts  als 
objektivierte  Gesetze.  Worin  liegt  die  bewegende  Kraft  der  Ge- 
schichte? Man  sage  nicht,  in  welchem  Gesetze;  denn  in  der  Kraft 
ist  das  Gesetz  schon  vorweggenommen.  Die  Frage  bezieht  sich 
unmittelbar  auf  die  seelische  Kraft,  auf  das  Bewnisstsein  und 
seine  Art;  wenn  anders  sowohl  die  Naturkraft,  wie  eine  m>iho- 
logische,  die  nur  von  Aussen  stiesse,  ausgeschlossen  ist.  Mithin 
handelt  es  sich  nur  um  den  Menschen,  und  um  welche  Potenzen 
und  Richtungen  in  seinem  Bewusstsein? 


Das  Ideal  des  Weisen.  29 

Beachten  wir  zunächst  den  Streit  der  Gesichtspunkte  in  den 
Begriffen  des  Individuums  und  der  Besonderheit.  Der  Heroen- 
kultus hat  nicht  nur  die  Religion  beeinflusst  und  gefördert, 
sondern  auch  die  Politik.  Nach  einer  neuern  Ansicht  soll  die 
Polis  hauptsächlich  auf  ihm  und  durch  ihn  begründet  sein.  Der 
Heros  ist  über  die  Mythologie  hinaus  im  Individuum  als  die 
treibende  Kraft  der  Geschichte  in  Geltung  geblieben.  Alle  Ge- 
schichte ist  nur  der  Herren  eigener  Geist,  in  dem  die  Zeiten  sich 
bespiegeln.  Die  Geschichte  ist  nur  die  Spiegelung,  der  Reflex; 
die  Lichtquelle  liegt  einzig  und  allein  im  Individuum.  Das  ist 
der  Grundgedanke  derStoa;  der  Gedanke,  welcher  selbst  nur  die 
Konsequenz  ihres  Naturalismus  ist.  Wenn  die  Natur  das  letzte 
Gesetz  der  Sittlichkeit  enthalt,,  so  wird  dabei  die  Korrektur  mit- 
gedacht: dass  die  Natur  das  Richtige  darstelle,  die  richtige  Natur 
sei.  Diese  richtige  Natur  aber  kann  sich  im  Menschen  nur  in 
seltenen  Exemplaren  darstellen.  Daher  entsteht  der  Begriff  vom 
Ideal  des  Weisen. 

Der  Weise  stellt  die  Natur  dar.  ?>  bleibt  aber  nicht  ledig- 
lich Ideal;  er  wird  Natur;  er  ist  Natur.  Aber  nur  im  auserwählten 
Individum  tritt  diese  Natur  in  die  Wirklichkeit.  Die  sonstige 
Wirklichkeit  ist  nicht  nur  von  ihr  verschieden,  sondern  sie  steht 
im  Widerspruch  zu  ihr.  Der  Sinn  und  Zweck  der  Wirklichkeit 
des  Ideals  ist  es,  Vorbild  zu  sein  für  die  von  ihr  verschiedene, 
eigentliche  Wirklichkeit.  W^arum  wird  nun  aber  in  dieser  Welt- 
ansicht dennoch  der  W^eise  als  Natur  bezeichnet? 

Hierin  liegt  ein  tiefer  Widerspruch,  wie  er  durch  das  ganze 
System  der  Stoa  hindurchgeht.  Ideal  und  Natur;  Beides  soll 
zugleich  bestehen;  Beides  aber  schränkt  einander  ein  und  verletzt 
einander.  Dieser  Stoizismus  ist  in  das  Christentum  über- 
gegangen. Gott  ist  Individuum  geworden.  Wir  sehen  hier  von 
dem  Problem  des  Monotheismus  gänzlich  ab,  und  achten  nur 
auf  die  ideale  Bedeutung,  welche  Christus  als  Individuum  für  die 
Menschheit  hat.  Seine  Bedeutung  als  Gott  denken  wir  nur  und 
ausschliesslich  unter  dem  Gesichtspunkte  seiner  Bedeutung  als 
Mensch,  also  lediglich  für  die  menschliche  Konstituierung  der 
Sittlichkeit.  Im  Grunde  ist  dies  auch  aliein  die  tiefste  W^urzel 
der  Ansicht  für  die  Gottheit  Christi;  zwar  nicht  bei  Paulus;  viel- 
leicht  auch    noch    nicht   bei  Johannes;   aber  schon  ganz  unver- 


30  Christus  als  Individuum. 


kennbar  bei  den  griechischen  Vätern.  Und  so  wirkt  sie  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  weiter.  Christus  ist  das  Ideal  des 
Menschengeschlechts  bei  dem  frommen  Malebranche  und  bei 
Leibniz.  Von  dieser  undogmatischen,  idealsten  Auffassung 
aus  müssen  wir  hier  das  Individuum  des  Gottmenschen  in  An- 
spruch nehmen. 

Man  wende  nicht  ein,  dass  man  den  Begriff  des  Ideals  ver- 
nichte, wenn  man  das  Individuum  beseitigt;  denn  das  eben  ist 
die  Frage,  die  wir  hier  erwägen:  ob  das  Ideal,  ob  die  Sittlichkeit 
in  einem  Individuum  darstellbar  sei.  Es  wäre  verkehrt,  zu  sagen, 
dass  darum  eben  Christus  Gott  sei;  denn  nicht  um  Gott  handelt 
es  sich  hier,  sondern  um  den  Menschen;  nicht  um  die  Heiligkeit^ 
sondern  um  die  Sittlichkeit. 

Man  sage  auch  nicht,  dass  die  Geschichte  das  Ideal  des 
Individuums  zur  Voraussetzung  habe  für  ihre  Entwickelung  und 
ihren  Fortschritt;  denn  auch  das  ist  hier  die  Frage,  deren  Ent- 
scheidung nicht  vorweggenommen  werden  darf:  ob  das  Individuum 
die  alleinige  oder  überhaupt  die  echte  bewegende  Kraft  der  Ge- 
schichte sei.  Und  die  Präokkupation  wird  in  Christus  nur  um  so  ver- 
wickelter und  erschwerender,  als  er  zugleich  Gott  und  Mensch^ 
also  nicht  allein  Mensch  ist,  dennoch  aber  bei  idealster  Auffassung 
das  Ideal  des  Menschen  bedeuten  soll. 

Das  ist  der  grosse  Gedanke  der  freien  sittlichen  Kritik, 
durch  welche  Lessin'g  die  Emanzipation  von  der  historischen 
Religion  errungen  hat:  dass  er  die  Nachahmung  Christi  als  den 
tiefen  Schaden  der  christlichen  Sittlichkeit  erkannt  hat.  Und 
für  das  wissenschaftliche  Interesse  der  Ethik  wenigstens  wird 
dieser  Schaden  dadurch  nicht  gebessert,  dass  er  den  Trost  hinzu- 
fügt: wohl  ihnen,  dass  er  ein  so  guter  Mensch  noch  war.  Ob 
dieser  Umstand  für  den  Fortschritt  der  Geschichte  von  ent- 
scheidendem Einfluss  gewesen  ist,  auch  das  darf  hier  nicht  vor- 
weggenommen werden:  es  ist  und  bleibt  vielmehr  die  Frage:  ob 
der  Begriff  der  Geschichte  durch  den  Begriff  des  Individuums 
erfüllt  wird. 

Noch  eine  Schwierigkeit  muss  in  dem  Begriffe  des  Individuums 
Christi  hervorgehoben  werden,  durch  welche  die  des  stoischen 
Ideals  gesteigert  wird.  Das  Ideal  des  Weisen  soll  doch  nicht 
nur  in  Einem    Individuum   wirklich   werden;   Christus  aber  ist. 


Christus  als  einziges  Individuum.  31 

als  der  Gottmensch,  der  Einzige.  In  ihm  bildet  das  Individuum 
nicht  nur  einen  Gegensatz,  sondern  einen  Widerspruch  zur  Be- 
sonderheit. Daher  ist  diese  Ketzerei  am  meisten  esoterisch  ge- 
blieben, welche  das  ewige  Evangelium  und  den  ewigen  Christus, 
die  Analogie  von  Christus  und  Adam  erahnte.  Diese  geschichts- 
philosophische  Ansicht  hängt  innerlichst  mit  der  sozialistischen 
Triebkraft  der  Geschichte  zusammen;  sie  wurde  in  ihrer  Bluts- 
gemeinschaft mit  der  Politik  erfasst  und  ausgerottet. 

Darin  aber  besteht  der  schwere  Anstoss,  den  Christus  als 
Individuum  bildet:  dass  er  als  das  einzige  Individuum  gedacht 
werden  muss.  Schon  für  alle  geistige  Kultur  besteht  dieser  An- 
stoss; denn  das  Reich  der  Vernunft  ist  das  Reich  der  Geister. 
Die  Mehrheit  von  Individuen  wird  für  die  Ausgiessung  des 
heiligen  Geistes  gefordert.  So  unerschöpflich  das  Individuum  ist, 
so  unerschöpft)ar  ist  der  Geist  diurch  ein  einziges  Individuum. 
Und  so  unerschöpflich  der  Inhalt  der  Sittlichkeit  ist,  so  wenig 
kann  ein  Individuum  zulänglich  sein,  ihn  zu  erfüllen. 

Der  stoisch-christliche  Gedanke  von  der  idealen  Macht  des 
Individuums,  wie  er  in  der  Stoa  wenigstens  im  Naturalismus 
wurzelte,  hat  die  gesamte  Ansicht  von  den  eigensten  Quellen  der 
Geschichte  beeinflusst  und  beherrscht.  Und  dieser  Einfluss  hat 
sich  oft  genug,  wie  nicht  minder  auch  in  unserer  Zeit,  in  dem 
Materialismus  der  Macht-Anbetung  biossgestellt.  Denn  in  der 
Geschichte  werden  nicht  die  Armen  und  die  Mühseligen  zu  Heroen, 
sondern  die  Mächtigen.  Die  geschichtliche  Ansicht  wird  daher 
zur  leitenden  in  der  Politik. 

Der  sittliche  Wert  einer  geschichtlichen  Idee  tritt  alsdann 
zurück  hinter  die  Frage,  auf  welches  Individuum  sie  zu  taufen 
sei.  Hinter  dem  Individuum  steht  die  Partei.  So  tritt  das 
Individuum  in  Verbindung  mit  der  Besonderheit.  Handelt  es 
sich  denn  aber  um  den  Gegensatz  des  Einzelnen  und  des  Be- 
sondern bei  der  Frage  um  die  Grundkraft  der  Geschichte?  Ist 
nicht  vielmehr  der  Einzelne  selbst  nur  ein  Glied  in  der  Kette  der 
Besonderheit?  Liegt  es  nicht  vielmehr  schon  im  Begriffe  des 
Individuums,  dass  er  in  eine  Mehrheit  von  solchen  nicht  zwar 
sich  spalte,  sondern  vielmehr  in  ihnen  sich  entfalte?  Den  wahren 
Gegensatz  zum  Individuum  bildet  für  den  Begriff  der  Geschichte 
nicht  die  Besonderheit,  sondern  die  Allheit. 


82  Volk  und  Staat. 


Man  kann  daher  auch  nicht  sagen,  dass  in  letzter  Instanz 
das  Volk  den  Gegensatz  bilde  zum  Individuum.  Denn  das  Volk 
bildet  allenfalls  für  die  Anthropologie  auf  physischer  Grundlage 
einen  einheitlichen  Begriff,  mithin  eine  Allheit.  Im  politischen 
Sinne  der  Geschichte  dagegen  tritt  erst  der  Staat  in  die  sittliche 
Mission  ein,  welche  in  einer  verhängnisvollen  Zweideutigkeit  ge- 
meinhin dem  Volke  zuerteilt  wird.  Das  Volk  zerfällt  in  Stände, 
für  welche  der  Geburtsadel  das  noch  immer  nicht  abschreckende 
Beispiel  bildet.  In  seinen  sozialen  Ständen  bildet  das  Volk  ein 
Aggregat  von  Besonderheiten,  und 'bleibt  somit  selbst  eine  Be- 
sonderheit. Der  Begriff  des  Staates  erst  stellt  den  Begriil  der 
Allheit  dagegen  auf,  als  einer  bezwingenden  Einheit,  welcher  alle 
jene  Partikularitäten  unterworfen  werden  müssen. 

Wie  sehr  der  Begrifl  des  Volkes  an  sich,  ohne  dasVerhältniss 
zum  Staatsbegrifle,  eine  Besonderheit  bildet,  das  macht  der  Kampf 
der  Völker-Individualitäten  gegen  einander  unverkennbar. 
Freilich  ist  dieser  politische  Inhalt  der  Weltgeschichte  nicht 
etwa  lediglich  aus  dem  Gesichtspunkte  des  Gegensatzes  dieser 
Besonderheiten  zum  AUheitsbegrifle  der  Menschheit  zu  betrachten. 
Das  wäre  so  abgeschmackt,  als  es  unrichtig  ist.  Die  Falschheit 
des  Gedankens,  dass  die  Völker-Individualitäten  an  und  für  sich 
den  letzten  Inhalt  und  Gegenstand  der  Geschichte  bilden,  beruht 
keineswegs  auf  dem  etwaigen  Vorurteil  einer  idealen  Einheit, 
welche  an  und  für  sich  der  Volksbegriff  bildet,  sondern  sie  be- 
steht allein  in  der  mangelhaften  Ausführung  der  Innern,  sach- 
lichen Korrelation  des  Volksbegriffs   zum  Staatsbegriffe. 

Der  Kampf  der  Rassen  und  der  Stämme  ist  unsittlich;  ist 
widersittlich;  ist  das  sittliche  Hemmnis  der  politischen  (ieschichte. 
In  ihm  betätigt  und  erschöpft  sich  das  Volk  als  Besonderheit. 
Die  Einheit  des  Volks  dagegen  ist  ein  Grundgedanke  der 
politischen  Sittlichkeit,  weil  sie  vielmehr  die  Einheit  des 
Staats  bedeutet.  Der  Staat  ist  der  ethische  Faktor  im 
Blutbegriffe  des  Volkes. 

So  kommen  wir  auf  den  tiefen  Gegensatz  zum  Indi- 
viduum im  Begriffe  der  Geschichte.  Nicht  um  den  Unter- 
schied zwischen  Einzahl  und  Mehrzahl  handelt  es  sich;  nicht 
um  den  Unterschied  des  Ranges  und  des  Vorranges  einzelner 
Protagonisten    auf  der   Weltbühne:    nicht    um    den  Unterschied 


Die  Personen  und  die  Tatsachen.  38 


auch  zwischen  den  Sprechern  und  dem  Chor,  welchen  die  Menge 
bildet,  die  nach  dem  bisherigen  Gange  der  Geschichte  von  der 
selbständigen  und  selbsttätigen  Mitarbeit  an  der  Kultur  ausge- 
schlossen geblieben  ist.  Alle  diese  Unterschiede  wären  doch  nur 
relative  und  transitorische  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Be- 
sonderheit. Nur  scheinbar  wird  das  Individuum  daraus  heraus- 
gehoben, während  es  seine  wahrhafte  Bedeutung  aus  einer  ganz 
andern  logischen  Rücksicht  empfangt. 

Der  echte  Gegensatz  besteht  zwischen  der  Be- 
sonderheit und  der  Allheit.  Der  Besonderheit  gehört  das 
Individuum  nach  der  Bedeutung,  in  der  es  gemeinhin  verstanden 
und  gefordert  wird,  als  ein  Glied  an.  Die  Allheit  dagegen  kann 
sich  auch  auf  das  Individuum,  wie  auf  die  Besonderheit  be- 
ziehen ;  aber  damit  werden  Beide  etwas  Anderes  und  etwas  Neues. 
Der  Zusammenschluss,  den  die  Allheit  vollzieht,  lässt  die  Einzelnen 
nicht  mehr  in  dem  losen  Gefüge  der  Besonderheit  schweben; 
die  Allheit  verfestigt  sie  und  sichert  und  begründet  sie  in  einer 
schöpferischen  Einheit.  Sie  werden  verwandelt  und  wieder  ge- 
boren; als  Individuen  selbst  neu  geboren. 

Worin  liegt  nun  aber  diese  Einheitskrafl  der  Allheit,  wie 
wir  sie  in  unserer  modernen  Bildung  den  Ständen  und  Rassen 
gegenüber  im  Staate  anzuerkennen  haben?  In  den  einzelnen 
Individuen  kann  sie  nicht  liegen;  denn  diese  gehören  ja  samt 
imd  sonders  in  die  Vorstufe  der  Partikularität.  Man  sieht,  wir 
kommen  so  auf  einen  ganz  andern  Gegensatz  zu  dem  Individuum; 
auf  den  Gegensatz  zwischen  der  Person  und  den  Personen 
überhaupt  einerseits  und  Tatsachen  andererseits.  Tat- 
sachen, Zustände,  Einrichtungen,  sie  bilden  die  Massenerschei- 
nungen, w^elche  den  Individuen  gegenüberstehen.  Nicht  der 
Massenschritt  der  Einzelnen  ist  es,  der  die  Massenmacht  bedeutet; 
sondern  die  abstrakten  Tatsachen  sind  es,  in  denen  alle  Realität  der 
Dinge  dieser  Welt  besteht.    Welcher  Art  sind  nun  diese  Tatsachen? 

Die  Streitfragen  über  den  BegrifT  der  Geschichte  setzen  hier 
von  Neuem  ein.  Und  an  diesem  Punkte  werden  die  alten  Fragen 
über  das  Verhältnis  zwischen  dem  Willen  und  dem  Intellekt 
wieder  lebendig  und  zu  verschärfter  Bedeutung  pointiert.  Es 
handelt  sich  um  den  Gegensatz  zwischen  den  materiellen 
Machtverhältnissen  und  den  Ideen. 

3 


84  Die  materialistische  Geschichtsansicht. 

In  allen  Zweigen  der  geschichtlichen  Forschung  ist  es 
dieser  Gegensatz,  welcher  den  Geist  und  die  Methode  derselben 
bestimmt.  Nicht  allein  in  der  Geschichte  der  Wirtschaft,  des 
Staates  und  des  Rechtes,  sondern  nicht  minder  auch  in  der  Ge- 
schichte der  im  engern  Sinne  sogenannten  Geisteswissenschaften, 
ja  bis  in  die  Geschichte  der  Philosophie  hinein  dreht  sich  bei- 
nahe Alles  um  diesen  Unterschied  und  Gegensatz.  Es  kommt 
daher  Alles  darauf  an,  diesen  Gegensatz,  der  in  einem  Netz  von 
Zweideutigkeiten  verstrickt  ist,  in  voller  Schärfe  klarzustellen, 
wenn  die  Grundlegung  der  Ethik  gelingen  soll.  Die  Disposition 
des  Problems,  welche  diese  Einleitung  zu  entwerfen  hat,  kann 
diese  Klarstellung  nicht  vollenden;  sie  muss  sie  aber  vorbereiten 
und  einleiten. 

Wir  haben  zuvörderst  darauf  zu  achten,  dass  dieser  Gegen- 
satz falsch  oder  wenigstens  ungenügend  formuliert  sein  muss, 
weil  seine  beiden  Glieder  nicht  genau  bestimmt  sind,  und  daher 
keineswegs  einen  Widerspruch  bilden  müssen.  Welche  Be- 
deutung haben  die  Ideen,  die  den  realen  Machtverhält- 
nissen entgegengestellt  werden?  Sind  die  Ideen  gleich  den 
Begriffen;  sind  sie  allgemeine  theoretische  Ideen,  wie  könnten 
sie  dann  zu  den  realen  Dingen,  welche  die  Geschichte  bewegen, 
im  Gegensatz  stehen?  Müssten  sie  doch  vielmehr  die  Begriffe 
dieser  Dinge  sein.  Und  wie  könnten  andererseits  die  realen 
Dinge  und  Verhältnisse  von  den-  Begriffen  abgetrennt  bestehen, 
wenn  doch  diese  Begriffe  die  Begriffe  von  ihnen  selbst  sind? 
Diese  blosse  theoretische  Bedeutung  von  Begriffen  kann  demnach 
die  Idee  in  diesem  Gegensatze  nicht  haben. 

So  kommt  man  auf  den  Unterschied  zwischen  den 
theoretischen  Begriffen  und  den  sittlichen  Ideen.  Um 
diesen  Gegensatz  handelt  es  sich  bei  dem  Gegensatze  zwischen 
den  Machtverhältnissen  und  den  Ideen.  Hier  wird  der  Streit  um 
die  sogenannte  materialistische  Geschichtsansicht  ver- 
wickelt und  verworren.  Denn  bei  dieser  Unterscheidung  wirkt 
die  ethische  Gesinnung  vorwiegend  mit;  und  es  wäre  sehr  ver- 
kehrt, die  ethische  Betrachtung  dabei  ausschalten  und  gegen  die 
rein  theoretische  zurückdrängen  zu  wollen.  Dieser  Unterschied 
darf  vielmehr  garnicht  bestehen  bleiben,  da  es  sich  im  letzten 
Grunde  ja  nur  um  ethische  Ideen  handelt.     Es  könnte  also  sehr 


Die  sittlichen  Ideen  und  die  Kulturmächte.  85 

wohl  der  Fall  sein,  dass  man  im  Eifer  und  Unwillen  über  einen 
heuchlerischen  Gebrauch  der  sittlichen  Ideen  auf  unsittliche 
Machtverhältnisse  hinwiese,  um  in  ihnen  die  treibende  Kraft  der 
bisherigen  Geschichte  zu  entlarven.  Dann  wäre  es  also  nichts 
weniger  als  Materiaiismus,  sondern  vielmehr  ein  verhaltener 
Idealismus,  der  diese  Geschichtsansicht  leitet. 

Andererseits  aber  ist  es  freilich  unrichtig  und  muss  zu 
schiefen  Auffassungen  führen,  wenn  man  auf  diese  Schlagworte 
pocht,  und  damit  verdecken  will,  dass  es  nicht  nur  theoretische 
Begriffe  sind,  welche  in  den  realen  Machtverhältnissen  sich  ver- 
körpern —  darüber  würde  ja  heutzutage  kein  Streit  mehr  zu 
fähren  sein  — ,  sondern  dass  es  in  der  Tat  die  ethischen  Ideen 
sind,  welche,  wie  immer  verschleiert  und  mangelhaft  entwickelt, 
nichtsdestoweniger  in  jenen  realen  Verhältnissen  und  Einrich- 
tungen sich  selbst  zur  Erscheinung  bringen.  Es  ist  eben  doch 
nicht  richtig,  dass  der  Zwang  der  Natur  und  insbesondere  der 
tierischen  Natur  im  Menschen  jene  Einrichtungen  der  Kultur 
hervorgebracht  hätte,  die  man  nur  heuchlerischer  Weise  die 
sittliche  Kultur  nennen  dürfte,  die  vielmehr  lediglich  die  wirt- 
schaftliche heissen  müsste.  Es  ist  nicht  richtig,  die  Natur  des 
Menschen  als  solche  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Raubtiers  zu  fassen,  um  allenfalls  für  das  Geistige  und  das  Sitt- 
liche anderweit  einen  Raum  zu  schraifiren..  Woher  aber  diesen 
Raum  beziehen,  und  wohin  ihn  verlegen? 

Bei  dieser  affektvollen  Charakteristik  kommt  das  Geistige 
und  das  Sittliche  in  die  schwer  entrinnbare  Gefahi',  in  ein  Luft- 
gebilde zu  zerrinnen.  W^ird  es  doch  eben  aus  lauter  Hohn  und 
Ingrimm  in  den  Hintergrund  geschoben.  Es  ist,  wie  man  deut- 
lich hier  erkennt,  wiederum  der  Fehler  in  der  Bestimmung  des 
Verhältnisses  von  Willen  und  Intellekt,  der  hier  gemacht 
wird.  Wenn  der  Wille  lediglich  der  der  Selbstsucht  und  der 
Habsucht  wäre,  der  die  Einrichtungen  der  Kultur  hervorbrächte, 
so  müsste  man  eine  andere  Art  von  Willen  erdenken  und 
erschaffen,  von  dem  die  sittliche  Kultur  ausgehen  könnte.  Denn 
es  wäre  grundfalsch,  diese  etwa  dem  Intellekt  zu  übervs^eisen^ 
weil  alsdann  der  Unterschied  zwischen  Sein  und  Sollen  zu  nichte 
würde;  und  weil  alsdann  der  fundamentale  Unterschied,  auf  dem 
der  Sinn   für   Wahrheit    beruht,    der  Unterschied   zwischen    der 

3* 


86  Die  Logik  Voraussetzung,  nicht  selbst  Ethik. 


mathematischen  Naturwissenschall  und  Allem,  was  sonst  im 
Geistigen  und  Sittlichen  Wissenschaft  werden  kann,  verwischt 
imd  vereitelt  würde. 

Wir  dürfen  also,  ohne  Missverständnis,  Verdächtigung  und 
Verunglimpfung  der  sozialistischen  Geschichtsauffassung 
begehen  zu  müssen,  dennoch  den  Unterschied,  den  sie  klaffend 
macht  zi^ischen  den  realen  Machtverhältnissen  und  den  sitt- 
lichen Ideen  methodisch  aufheben;  wenngleich  damit  keineswegs 
gesagt  werden  darf,  dass  der  sachliche  Unterschied  aufhörte, 
weil  die  Ideen  in  den  Dingen  zur  Deckung  kämen  und  aufgingen. 
Dies  würde  dem  Begriffe  des  SoUens  widersprechen,  den  der 
Devise  gemäss  die  sittlichen  Ideen  bedeuten.  Aber  es  ist  falscher 
Realismus  und  Nominalismus,  einerseits  die  Dinge  hinzustellen 
als  Gebilde  der  wirtschaftlichen  Triebe,  andererseits  aber  die  sitt- 
lichen Aui'gaben  als  Schreckgespenster  und  gleichsam  als  post- 
historische Mächte  aus  dem  bisherigen  Dunkel  der  Geschichte 
bisweilen  wetterleuchten  zu  lassen. 

Die  Ethik  hat  sich  vielmehr  mit  der  Geschichte  in  das 
logische  Einvernehmen  zu  versetzen :  dass  sie  ihre  eigenen  Ideen, 
wie  unreif  und  verkrüppelt  immer,  dennoch  wiederzuerkennen 
hat  in  den  Gebilden  der  wirtschaftlichen  Welt.  Denn  das  ist 
die  Alternative,  der  man  nicht  ausweichen  kann:  Entweder  ist 
alle  Kultur  in  ihren  Institutionen  das  Werk  des  Teufels,  und  der 
Wille  selbst  damit  nur  die  Kraft  des  Bösen;  dann  föUt  aber  auch 
die  Möglichkeit  hinweg,  dass  der  Intellekt  eine  so  heterogene 
seelische  Macht  sein  könnte,  dass  er,  und  nur  er  die  Kraft  zum 
Guten  vollzöge.  Oder  aber  der  Intellekt  ist  nicht  auf  das  Böse 
gerichtet;  und  der  ihm  verwandte  Wille  geht  auf  das  Gute; 
und  seine  Schöpfungen  sind  daher,  teilweise  und  mangelhaft  zwai', 
dennoch  aber  Darstellungen  der  sittlichen  Ideen,  und  nicht 
allein  der  theoretischen  Ideen. 

Denn  das  ist  der  Grundgedanke,  der  uns  nicht  verlassen 
darf:  die  Ethik  hat  die  Logik  zur  Voraussetzung;  aber  die 
Logik  ist  an  sich  nicht  Ethik. 

So  hat  die  Ethik  auch  die  Naturwissenschaft  aller  Art  zur 
Voraussetzung;  aber  sie  geht  in  dieser  nicht  auf.  Mithin  sind 
und  bleiben  zwar  die  sittlichen  Ideen  von  den  theoretischen  Be- 
griffen zu  unterscheiden;   aber   dieser  Unterschied   darf  die  Ver- 


Die  Weltgeschichte  des  Geistes.  37 


wandischaft  unter  ihnen  nicht  aufheben.  Dies  wäre  aber  der 
Fall,  wenn  der  Gegensatz  zwischen  den  realen  Dingen,  in  denen 
die  theoretischen  Begriffe  sich  realisieren,  und  den  sittlichen  Ideen 
unausgleichbar  wäre. 

Das  ist  der  Grundfehler  in  jeder  materialistischen  Parole: 
dass  mit  der  Aufhebung  alles  Verhältnisses  und  aller  Korrelation 
zwischen  dem  Sittlichen  und  dem  Geistigen  der  Grund  des  reinen, 
erzeugenden  Bewusstseins  nivelliert  und  vernichtetwird.  In  der 
Tat  sind  die  sittlichen  Ideen  nicht  ausschliesslich  sittliche,  sondern 
auch  theoretische;  trotz  allem  Unterschiede,  der  zwischen  beiden 
Arten  gemacht  werden  muss.  Denn  Beide  sind  Arten  des  reinen 
Bewusstseins;  die  einen  desDenkens,  die  anderen  des  Willens.  Wenn 
dagegen  die  sittlichen  Ideen  nicht  als  Ursachen  der  Kultur  und 
Geschichte  gelten  sollen,  dann  wird  das  Bewusstsein  und  der 
Geist  überhaupt  verleugnet.  Damit  erst  kommt  der  Materia- 
lismus unausweichbar  in  diese  Denkrichtung.  Dann  sagt  man 
unkritischer  Weise,  die  Natur  selbst  habe  aus  ihrem  Boden  und 
ihrem  Klima  heraus  mitsamt  den  Menschen  diese  Gebilde  zur 
Entwickelung  gebracht,  welche  das  Spielzeug  der  Menschenwelt 
sind.  Damit  erst  enthüllt  sich  diese  materialistische  und  natura- 
listische Geschichtsansicht  als  die  Aufhebung  der  Geschichte. 
Denn  Geschichte,  als  Geschichte  der  Menschen  und  ihrer  Werke 
und  Taten,  ist  Geschichte  des  Geistes  und  der  Ideen;  oder  aber: 
es  gäbe  keine  Weltgeschichte,  sondern  nur  Naturgeschichte. 

Aus  allen  diesen  Betrachtungen  ergibt  es  sich,  dass  die  Ge- 
schichte, ihrem  Begriffe  nach,  die  Voraussetzung  der  Ethik  nicht 
bilden  kann;  dass  sie  vielmehr  für  ihre  Grundbegriffe  und  Pro- 
bleme die  Ethik  voraussetzt;  dass  sie  die  fortschreitende  Bestim- 
mung des  Inhalts  dieser  Begrifle  nicht  ohne  die  Leitung  der  Ethik 
durchführen  kann.  Die  Verbesserung  des  Willensbegriffs  hängt, 
wie  wir  sahen,  von  dem  Begriffe  der  sittlichen  Ideen  ab,  nach 
deren  Verhältnis  zu  den  theoretischen  Begriffen. 

Und  von  hier  aus  erst  lallt  das  richtige  Licht  auf  den  Begriff 
des  Individuums.  Nicht  der  Einzelne  einer  Besonderheit  ist  das 
Individuum;  und  dies  bliebe  er  auch,  wenn  er  als  Einziger  ge- 
dacht wird.  Denn  der  Uebermensch  muss  doch  alsbald  in  die 
Schranken  seines  Milieus  zurückgeführt  werden.  Dafür  sorgt 
schon  trotz  aller  hero-worship  der  Kampf  der  Meinungen  und 


88  Das  Individuum  der  Idee. 

der  Ideen.    Und  gegen   eine  solche  Ausnahmestellung  des  Kraft- 
menschen bildet  eben  die  Milieu-Ansicht  die  milde  Reaktion. 

Wir  sehen  jetzt  nun  aber,  dass  der  Gegensatz  zwischen  dem 
Individuum  und  den  Einrichtungen,  den  materiellen,  wie  den 
idealen,  ein  ganz  schiefer  und  falscher  ist.  Die  Individuen  gehen 
freilich  nicht  auf  in  den  Einrichtungen  und  den  Ideen;  denn  die 
Ideen  ragen,  und  ebenso  selbst  die  Einrichtungen,  an  Universalität 
über  die  grösste  Individualität  hinaus.  Dennoch  aber  müssen 
die  Ideen,  wie  sie  sich  in  Einrichtungen  verwirklichen  müssen, 
so  auch  in  den  Individuen  zur  Darstellung  und  zur  Erzeugung 
kommen.  Und  so  stellt  es  sich  endlich  heraus,  dass  das  Indi- 
viduum nichts  Anderes  ist  als  das  Individuum  der  Idee. 

Auch  die  Sociologie  kann  der  Ethik  nicht  als  Voraus- 
setzung gesetzt  werden.  Was  den  Begriff  der  Gesellschaft  betrifft, 
so  werden  wir  darüber  weiterhin  genauer  zu  handeln  haben. 
Hier  soll  nur  auf  den  methodischen  Gesichtspunkt  geachtet 
werden,  von  welchem  die  Gesellschafts-Wissenschaft  geleitet  wird. 
Der  Sinn  des  Ausdrucks  Gesellschaft  ist  im  Gegensatze  zu  den 
festen  und  scheinbai*  fertigen  Gebilden  der  Geschichte,  wie  sie 
sich  in  dem  des  Staates  zusammenfassen,  entstanden,  und  wird  in 
diesem  Gegensatze  fortgedacht.  Der  dynamische  Gesichtspunkt 
der  Bewegimg  tritt  an  die  Stelle  der  Statik,  welche  Staat  und 
Recht  insbesondere  nach  Art  einer  abgeschlossenen  Natur  er- 
scheinen lässt.  Aber  dieser  förderliche  Gesichtspunkt  der  Be- 
wegung führt  hier  zu  der  Unklarheit,  welche  unter  anderen  Titeln 
soeben  bei  der  Geschichte  betrachtet  wurde.  Diese  betrifft  den 
Begriff  der  Entwickelung. 

Da  der  Gesichtspunkt  der  Bewegung  auf  Menschen  zur  An- 
wendung kommt,  so  muss  die  .Bewegung  zur  Entwickelung 
spezialisiert  werden.  Denn  was  die  Bewegung  für  den  materiellen 
Punkt  bedeutet,  das  soll  die  Entwickelung  für  das  biologische 
Individuum  leisten.  Und  als  ein  biologisches  wird  zuvörderst 
auch  das  soziale  Individuum  gedacht.  Wie  die  organische  Ent- 
wickelungsgeschichte  aus  der  Zelle  den  Organismus  entwickelt, 
so  sucht  die  Sociologie  sich  zur  Entwickelungsgeschichte  zu 
machen  für  die  daher  von  ihr  gern  so  benannten  sozialen 
Organismen.    Aus   einfachen   niedrigsten   Elementen  strebt  sie 


Die  Sociologie  und  die  Entwickelung.  39 

die  kompakten,  mächtigen,  vielgliedrigen  Einrichtungen  der 
Kultur  zu  entwickeln.  Wir  erörtern  jetzt  nicht  etwa  abschliessend 
den  methodischen  Wert  der  Sociologie;  wir  sind  weit  davon  ent- 
fernt, ihren  Nutzen  zu  bestreiten.  Nur  ihr  Verhältnis  zur  Ethik 
steht  hier  in  Frage,  und  wir  erwägen,  dass  sie  der  Ethik  nicht 
als  Voraussetzung  dienen  darf.  Dem  widerspricht  gerade  ihr 
methodischer  Grundbegriff  der  Entwickelung. 

Die  biologische  Entwickelungsgeschichtc  setzt  die  genaue 
Kenntnis  des  fertigen  Organismus  voraus.  Es  ist  nicht  ein  all- 
gemeines, schwankendes  Bild  des  normalen  Organismus,  welches 
der  Embryologie  vorschwebt,  sondern  der  ganze  Organismus  und 
jedes  Organ  desselben  in  seiner  physiologischen  Normalität  bildet 
den  genauen  Vorwurf.  Besteht  ein  Analogon  dieses  exakten 
Organismus  nun  aber  in  dem  sozialen  Organismus  und 
seinen  sozialen  Organen?  Ist  die  Anwendung  nicht  viel- 
mehr eine  Metapher,  die  ein  hinkendes  Gleichnis  bleiben  muss? 

Schon  das  Verhältnis  der  Organe  zu  dem  Organismus  fällt 
dabei  aus.  Einzelne  soziale  Einrichtungen  mag  man  als  soziale 
Organe  betrachten  können,  aber  es  ist  schon  bedenklich,  sie  als 
soziale  Organismen  zu  bezeichnen.  Denn  der  Organismus  ist 
die  Einheit  der  Organe.  Wo  gäbe  es  diese  aber  in  den 
einzelnen  sozialen  Einrichtungen?  Und  wo  gibt  es  eine  Einheit 
für  sie  alle,  so  dass  man  den  Organismus  auf  diese  Einheit  des 
Ganzen  übertragen  könnte?  Bildet  der  Staat  etwa  diese  Einheit? 
Es  wäre  freilich  seine  Aufgabe;  erfüllt  er  sie  aber?  Und  tritt 
nicht  vielmehr,  gerade  weil  er  sie  nicht  erfüllt,  der  Gesichts- 
punkt der  Gesellschaft  berichtigend  ein,'  damit  nicht  etwa  der 
Skeptizismus  und  Nihilismus  des  Anarchismus  Platz  greifen 
dürfe? 

Es  zeigt  sich  sonach  ein  Widerspruch  in  der  Aufgabe 
der  Sociologie,  der  durch  die  richtige  Bestimmung  ihres  Ver- 
hältnisses zur  Ethik  aufgehoben  werden  kann;  ohne  diese  aber 
ihr  Problem  unsicher  und  ungenau  macht.  Sie  wird  von  dem 
Gedanken  getrieben,  dass  die  Gebilde  der  Kultur  nicht  gleichsam 
abgeschlossene  Substanzen  von  absolutem  Werte  seien;  und  sie 
benutzt  den  Gesichtspunkt  der  Entwickelung,  um  die  rohen 
Keime  aufzudecken,  aus  denen  sie  erwachsen.  Im  Allgemeinen 
zwar  mag   dies  angängig  scheinen;   die   wildesten   Formen   und 


40  Das  Nonnalgebild. 

Regeln  der  Begattung,  wenn  sie  nur  Regeln  der  Paarung  sind, 
mögen  als  Elementargebilde  der  Monogamie  anzusehen  sein,  und 
ebenso  mag  es  mit  den  elementarsten  Festsetzungen  des  Erb- 
rechts und  des  Eigentums  anzunehmen  sein.  Aber  über  all- 
gemeine und  daher  nicht  genau  zutreffende  Analogieen  wird  man 
dabei  nicht  hinauskommen.  Immer  wird  man  die  Ideen  und 
die  idealen  Gefühle,  welche  die  höheren  Stufen  von  den 
niedrigen  zwar  fein,  aber  umsomehr  genau  unterscheiden^  mit 
in  Betracht  zu  ziehen  haben,  so  dass  das  elementare  Gebild 
dadurch  unausweichlich  kompliziert  wird. 

Man  sieht,  der  Widerspruch  steigert  sich  zu  einem  doppelten. 
Man  geht  davon  aus,  das  fertige  Gebild  als  ein  geschlossenes  ab- 
zulehnen. Dem  widerspricht  aber  der  wissenschaftliche  Begrift 
der  EntWickelung,  welche  vielmehr  die  normale  Ausgestaltung 
des  Organismus  zur  methodischen  Voraussetzung  hat.  Eine 
solche  Normalität  wird  hier  aber  gerade  bezweifelt  und  bestritten, 
und  zwar  im  doppelten  Sinne  der  Norm:  sowohl  als 
funktionale  Richtigkeit,  wie  als  Musterbild  und  Vorbild.  Es  soll 
vielmehr  gezeigt  werden,  wie  die  scheinbar  vollendeten  sozialen 
Gebilde  vmserer  hochmütigen  Kultur  noch  in  den  Kinderschuhen 
stecken.  Wenn  das  nun  aber  der  wohltätige  Sinn  dieser 
Forschungsrichtung  ist,  so  muss  sie  einsehen,  dass  ihr  die  Norm 
fehlt,  welche  von  der  wissenschaftlichen  Entwickelungs-Methodik 
genau  und  klar  vorausgesetzt  wird. 

Da  die  Sociologie  nun  aber  trotz  dieser  methodischen 
Grundgebrechen,  nach  allgemeinen  geschichtlichen  Gesichts- 
punkten arbeitend,  lichtvolle  Ergebnisse  und  aufklärende  Ein- 
sichten fördert,  so  stellt  sich  ein  doppelter  Widerspruch  ein: 
indem  der  zweite  den  ersten  zu  berichtigen  sucht.  Indem  näm- 
lich die  Gedanken  und  Gefühle,  welche,  wie  z.  B.  bei  der  Ehe 
und  beim  Eigentum,  die  höheren  späteren  Gestaltungen  derselben 
beeinflussen,  bei  den  niedrigen  Formen  schon  unumgänglicher 
Weise  mitberücksichtigt  werden,  so  %vird  dadurch  eine  Art  von 
Normalgebild  dennoch  vorausgesetzt  und  zum  Vorwurf  der 
Entwickelung  gemacht. 

In  dieser  Vorwegnahme  korrigiert  sich  aber  nicht  nur  die 
Methodik  der  Sociologie,  als  die  der  Entwickelung;  sondern  die 
ganze    Frontrichtung    derselben    verändert    sich    dadurch.      S»e 


Die  dialektische  Bewegang.  41 

kann  nicht  mehr  gegen  die  Individuen  gehen,  um  diese  in 
die  Massen  auf-  und  untergehen  zu  lassen;  denn  sie  braucht  und 
gebraucht  diese  Individuen  in  den  sittlichen  Gedanken  und  Ge- 
fühlen. Oder  könnte  es  Gedanken  und  Gefühle  geben,  ohne 
dass  es  Individuen  gäbe?  Sie  kann  daher  auch  nicht  gegen  die 
Ideen  gehen,  um  diese  etwa  durch  die  Einrichtungen  zu  er- 
setzen; denn  in  diesen  letzteren  selbst  muss  sie  die  Ideen  schon 
vorwegnehmen.  Sie  kann  keinen  Gegensatz,  geschweige  Wider- 
spruch zwischen  Beiden  aufrecht  erhalten.  Es  ist  nicht  richtig, 
dass  die  Ideen  verdampfte  Einrichtungen  sind;  vielmehr  sind 
die  Einrichtungen  geronnene  Ideen. 

So  stellt  es  sich  denn  heraus,  dass  der  Widerspruch,  an 
dem  die  Sociologie  krankt,  durch  die  Berichtigung  ihres  Verhält- 
nisses zur  Ethik  gehoben  werden  kann.  Sie  ist  nicht  die 
Voraussetzung  der  Ethik;  sondern  die  Ethik  dient  still- 
schweigend als  Voraussetzung  der  Sociologie  und  der 
sozialen  Entwicklung.  Diese  Voraussetzung  bildet  jedoch 
die  Ethik  nicht  als  ein  Glied  des  Systems  der  Philosophie, 
sondern  als  eine  fingierte  Verbindung  sittlicher  Gedanken.  Es 
kommt  nun  aber  darauf  an,  an  Stelle  dieser  wohlgemeinten 
Fiktion  die  F2thik  innerhalb  ihrer  systematischen  Verfassung 
treten  zu  lassen;  unter  Voraussetzung  der  Logik  und  dennoch 
als  Ethik  des  reinen  Willens,  von  eigenem  Inhalt  und  in  eigener 
Methodik:  nach,  aber  neben;  neben,  aber  nach  der  Logik  der 
reinen  Erkenntniss.  Diese  bleibt  die  Voraussetzung.  Aber  sie 
weist  auf  die  Ethik  hinaus.  Und  die  Geschichte  aller  Art  hat 
zwar  in  erster  Linie  die  Logik  zur  Voraussetzung;  aber  von 
dieser  allgemeinen,  formalen  Grundlage  abgesehen,  liefert  nicht 
die  Psychologie  ihr  den  Inhalt  ihrer  Begriffe,  sondern  allein  und 
grundlegend  die  Ethik. 

Die  Auseinandersetzung  mit  dem  Begriffe  der  Entwickelung 
fordert  nun  aber  noch  eine  Ergänzung  nach  einer  centralen 
philosophischen  Seite  hin.  Wir  kommen  dabei  wieder  auf  die 
Metaphysik  zurück,  aber  wie  sie  in  ihren  klassischen  Formen 
durch  die  Weltgeschichte  des  philosophischen  Denkens  einher- 
geht. Der  Gesichtspunkt  der  Entwickelung  beherrscht  den  Ge- 
dankengang Hegels.     Die   dialektische  Bewegung  ist  nichts 


42  Die  angebliche  Identität  von  Logik  und  Ethik. 

Anderes  als  die  Entwickelung;  und  das  fertige  Gebiid  wird  dabei 
nur  zu  deutlich  überall  vorausgesetzt.  Schon  Schelling  wurde 
von  der  Entwickelung  bestimmt;  seine  Potenzen  sind  nichts 
Anderes  als  Stufen  der  Entwickelung.  Dieser  durchgreifende 
Gesichtspunkt  hat  vielleicht  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  die 
Philosophie  der  Romantik  nüchterner  und  modern  realistischer 
erscheinen  zu  lassen,  als  sie  in  ihrer  abstrakten  Symbolik  sonst 
erschienen  wäre.  Hegel  insbesondere  hat  ja  die  geschichtliche 
Forschung  nach  allen  Seiten  so  innerlich  angeregt  und  befruchtet, 
dass  man  diese  seine  dialektische  Bewegung  als  das  Vorbild  und 
die  Vorzeichnung  der  geschichtlichen  Forschung  betrachten  zu 
dürfen  glauben  konnte.  Es  kommt  hinzu,  dass  die  dialektische 
Bewegung  den  Gesichtspunkt  der  Entwickelung  für  das  gesamte 
System  der  Philosophie  selbst  lebendig  gemacht  hat.  Es  fragt 
sich  nur,  ob  .das  System  der  Philosophie  dabei  in  allen  seinen 
Gliedern  lebendig  geworden,  oder  etwa  in  einzelnen  getötet  worden 
ist.     Wie  steht  es  um  die  Ethik? 

Wir  waren  schon  darauf  aufmerksam  gewesen,  dass  Hegel 
keine  besondere  Ethik  geschrieben  hat,  so  wenig  als  Schelling. 
Hat  doch  auch  Spinoza  nur  eine  Ethik  geschrieben,  in  welcher 
die  Logik  oder  Metaphysik  enthalten  ist.  So  sollte  auch 
Hegels  Logik  die  Ethik  enthalten.  Die  Idee,  wie  der  Begriff 
in  seiner  höchsten  Vollendung  benannt  wird,  entwickelt  sich  als 
das  Absolute.  Und  dieses  Absolute  bedeutet  die  Sittlichkeit  in 
ihren  höchsten  Formen.  Man  weiss,  wie  die  Schulen  an  diesem 
Punkte  in  die  äussersten  Extreme  auseinandergingen.  Die  Re- 
ligion ist  eine  solche  Form  des  Absoluten;  aber  die  Hegelianer 
nahmen  die  entgegengesetztesten  und  feindlichsten  Positionen  in 
Bezug  auf  das  Problem  der  Religion  ein.  Der  Staat  voral)  ist 
eine  solche  Form  des  Absoluten;  aber  die  Hegelianer  spalten 
sich  in  politische  Reaktionäre  und  Revolutionäre.  Der  Gesichts- 
punkt der  Entwickelung  hat  sich  dabei  nicht  als  ein  unzwei- 
deutiger LeitbegrifT  erwiesen. 

Man  könnte  nun  denken,  die  Entwickelung  sei  zu  unmittel- 
bar auf  die  konkreten  Einrichtungen  und  Verhältnisse  der 
Geschichte  übertragen  worden,  auf  die  Religion,  auf  das 
Recht  und  auf  die  Geschichte  überhaupt,  wie  nicht  minder 
andererseits    auf    die    Kunst.      Gewiss   liegt    in    dieser   an   sich 


Der  Fehler  des  Pantheismus.  4H 

imponierenden  unvermittelten  Anwendung  der  dialektischen 
Methodik  eine  unverkennbare  Fehlerquelle;  aber  der  eigentliche 
Grund  des  Fehlers  ist  dahiit  doch  nicht  bezeichnet.  Er  liegt 
vielmehr  in  dem  pantheistischen  Centrum  des  Systems:  in  der 
Centrierung  des  Systems  der  Philosophie  und  alles 
Seins  in  der  Natur. 

Dabei  darf  und  kann  es  kein  Sollen  geben,  welches  vom 
Sein  verschieden  wäre.  Die  Idee  ist  nicht  gleich  dem  Sollen, 
während  der  Begriff  gleich  dem  Sein  ist;  sondern  die  Idee  ist 
nur  die  Entwickelung  des  Begriffs;  also  bleibt  sie  der  Mittel- 
punkt des  Seins,  welches  zugleich  das  Sollen  einschliesst.  So 
wird,  w^as  sonst  Ethik  ist,  zu  einem  Entwickelungsprodukte  der 
Logik.  Dens  sive  Natura.  Dabei  bleibt  es.  Und  das  ist  und 
bleibt  der  Grundfehler  alles  Pantheismus,  also  auch  des- 
jenigen der  Identitats-Philosophie.  Es  heisst  nicht:  Natura, 
necnon  Deus,  wenn  man  einmal  diesen  Ausdruck  für  das  Problem 
des  Sittlichen,  des  Gegensatzes  wegen,  einsetzen  darf. 

Darin  besteht  der  Naturalismus  der  dialektischen  Ent- 
wickelung. Die  Idee  tritt  wie  eine  Naturmacht  auf;  ist  sie 
doch  eine  Kategorie  des  Seins.  Und  als  Naturmacht  erscheint 
sie  auch  dem  geschichtlichen  Interesse,  welches  ja  an  sich  zu- 
gleich das  spekulative  ist,  weil  die  Entwickelung,  die  dialektische 
Bewegung  beide  Interessen  nicht  etwa  nur  vereinigt,  sondern 
schlechterdings  in  eins  setzt.  Daher  ist  es  die  alte  dogmatische 
Metaphysik,  nur  im  modernen  geschichtlichen  Kleide,  welche 
hier  an  die  Stelle  der  Ethik  tritt. 

Das  Schicksal  des  Menschen  und  der  Welt  wird  entrollt; 
es  wird  aber  nicht  gefragt,  ob  etwa  dem  Schicksal  gegenüber 
eine  eigene  Rolle  dem  Menschen  zufallt;  und  zwar  eine  doppelte, 
nämlich  nicht  nur  lediglich  die  eines  Handelnden,  wobei  wieder 
fraglich  werden  könnte,  ob  er  nicht  geschoben  wird;  sondern 
die  des  Wissenden.  Aber  dieser  Wissende  muss  über  sein  Schicksal 
hinwegfragen.  Nicht  um  dieses  ist  er  in  erster  Linie,  noch 
im  letzten  Grunde  interessiert,  sondern  um  die  Art,  um  den  Sinn 
und  das  Recht  dieser  seiner  Rolle  als  eines  Handelnden. 

So  führt  uns  der  Gegensatz  zur  Metaphysik  auf  den 
Gegensatz    zur    Mythologie     und     zur     mythologischen 


44  Das  Schicksal  des  Individuums. 


Religion.  Die  Mythologie  wird  von  der  Angst  des  Individuums 
getrieben,  nicht  sowohl  um  seine  Sünde,  sondern  um  sein  Schick- 
sal, bestenfalls  infolge  seiner  Sünde.  Immer  aber  bleibt  es  das 
Dasein  des  Individuums,  ob  es  ein  Ende  habe;  und  was  an 
diesem  Ende  dennoch  aus  ihm  wird,  sodass  das  Ende  doch 
eigentlich  kein  Ende  sei.  Nicht  viel  besser  wird  das  Interesse 
auf  der  goldenen  Kehrseite,  wenn  das  selige  Ende  endlos  ist  und 
das  Individuum  sich  ewig  seines  erhöhten  Daseins  erfreuen  kann. 
An  dieser  Mythologie  des  Individuums  hat  die  Kunst  erheblich 
mitgewirkt,  und  die  mythologische  Urkraft  der  Religion  ist  da- 
durch ebenso  genährt  worden,  wie  zugleich  der  Mutwille  der 
Metaphysik  durch  jene  Transscendenz  bestärkt  wurde. 

Das  Schicksal  wurde,  wie  in  der  dramatischen  Poesie,  nicht 
nur  die  dunkle  Macht,  der  man  nicht  entfliehen  könne;  sondern 
alle  Fragen  über  das  Wesen  des  Menschen  wurden  auf  diese 
auswärtige  Quelle  zurückgeführt.  Das  ist  das  Unsittliche  in 
jenem  Gedanken  des  Schicksals.  Und  das  Drama  selbst 
widersetzt  sich  dem  Mythos,  indem  es  den  Helden  zwar  zum 
Leidenden  macht,  nicht  minder  aber  auch  zum  Handelnden. 
Er  handelt  in  seinem  Leiden  selbst,  in  welchem  er  dem  Schick- 
sal unterworfen  ist,  doch  zugleich,  wie  aus  eigenem  Wollen, 
gegen  dieses  Schicksal. 

Auch  in  der  Religion  wird  freilich  die  Tatkraft  des 
Menschen  aufgerufen.  Im  Christentum  soll  die  Sünde  des 
Menschen  nicht  lediglich  die  Erbsünde,  die  Sünde  Adams  sein; 
sondern  die  Fähigkeit  zum  Guten  wie  zum  Bösen  bleibt  für  die 
Handlungen  des  Menschen  vorausgesetzt.  Und  wenn  freilich  für 
die  gute  Richtung  der  Glaube  an  Christus  zur  Bedingung  ge- 
macht wird,  so  lässt  sich  dieser  ja,  wie  wir  schon  sahen,  als  der 
Glaube  an  den  idealen  Menschen  deuten.  Aber  das  bleibt  auch 
hier  der  Zusammenhang  mit  dem  Mjihos,  dass  es  sich  im  letzten 
Grunde  immer  doch  um  das  Schicksal  des  Individuums  handelt, 
um  dessen  ewiges  Heil  oder  seine  ewige  Verdammnis. 

Es  ist  also  nicht  allein  der  Begriff  des  Individuums,  der 
hier  das  Hemmnis  der  Ethik  bildet,  wie  er  überall  in  seiner  Ein- 
seitigkeit und  innerlichen  Unreife  die  Selbständigkeit  der  Ethik 
verhindert;  sondern  es  ist  eben  das  Interesse  am  Schicksal, 
welches  der  Ethik  durchaus  widerstreitet,    welches   dem  Mvlhos 


Das  Interesse  der  praktischen  Vernunft.  45 

angehört,-  und  der  Religion  nur  verbleibt,  sofern  sie  in  der 
Mythologie  stecken  bleibt.  Das  Schicksal  ist  ein  Pendant 
des  Chaos. 

Hierdurch  wird  zugleich  der  Gegensatz  zu  einer  klaren 
Aufhebung  gebracht,  der  zwischen  der  theoretischen  und 
der  praktischen  Vernunft  besteht.  Dass.  zwei  Arten  des 
Interesses  unterschieden  werden  müssen,  das  steht  ausser  F'rage; 
der  Unterschied  von  Sein  und  Sollen  bedeutet  dies.  Das  eine 
ist  <las  theoretische  Interesse  an  dem  Sein  der  Natur;  das  andere 
ist  das  praktische  Interesse,  das  Interesse  an  der  Handlung  und 
an  dem  Willen.  Nun  ist  aber  auch  dieses  Letztere  ein  Interesse 
der  Vernunft,  also  auch  eine  Art  von  theoretischem  Interesse. 
Hier  ist  der  Punkt,  an  dem  die  Unterscheidung  zwischen  Willen 
und  Intellekt  immer  schlüpfrig  wird.  Jetzt  dagegen  sehen  wir, 
worauf  es  ankommt. 

Freilich  soll  das  Problem  der  Ethik  auch  ein  Wissen  be- 
deuten, ein  strenges,  genaues  Erkennen;  andernfalls  könnte  der 
Wille  nicht  der  reine  Wille  sein;  wie  wir  das  später  zu  erwägen 
haben.  Aber  dieses  Interesse  der  praktischen  Vernunft  ist  ge- 
richtet auf  die  Erkenntniss  dieses  reinen  Willens  und  der  von 
ihm  ausgehenden  Handlung.  Durch  diesen  Willen  und  diese 
Handlung  soll  der  BegrüFdes  Menschen  zur  Bestimmung  kommen. 
Um  den  Begriff  des  Menschen,  sofern  er  in  seinem  Willen  und 
seiner  Handlung  gegründet  ist,  soll  es  sich  in  der  Ethik  handeln; 
nicht  aber  um  das  Schicksal  des  Individuums.  Das  Letzlere 
bleibt  eine  theoretische  Frage,  nämlich  eine  Frage  der  mj'iho- 
logischen  Wissbegier,  die  sich  mit  der  Kunst  und  sogar  auch 
mit  der  Religion  verbinden  mag;  diese  Frage  steht  jetzt  jedoch 
garnicht  zur  Verhandlung.  Und  sie  darf  mit  dem  Problem  der 
Ethik  nicht  verquickt  werden.  Die  Ethik  hat  andere  theoretische 
Interessen,  die  immer  ausschliesslich  auf  den  Willen  und  auf 
die  Handlung  gerichtet  sein  müssen;  die  indessen  immer  unver- 
meidlich verkümmern,  wenn  sie  auf  das  Schicksal  des  Indivi- 
duums bezogen  werden. 

Von  hier  aus  wird  auch  der  Gegensatz  klarer,  der  zwischen 
Glauben  und  Wissen  in  vielfachen  Wendungen  behauptet  und 
erneuert  wird.  Ausser  Betracht  bleiben  mag  hierbei  diejenige  Grund- 
stimmung, welche  den  Glauben  auf  heilige  Bücher  bezieht;  wenn- 


46  Glauben  und  Wissen. 


gleich  sie  auf  dieselben  die  Vorschriften  für  den  Willen  gründet. 
Der  Glaube  an  ein  Buch  ist  vielmehr  ein  Wissen;  gleichviel 
welche  Lehren  aus  diesem  Buch  entnommen  werden.  Und  auch 
wenn  an  die  Stelle  des  Evangeliums  Christus  selbst  gesetzt  wird, 
so  wird  auch  dieser  zu  einer  Quelle  und  einer  Bürgschaft  des 
Wissens,  wenngleich  man  dasselbe  als  Erleben  bezeichnet. 

Wie  sehr  es  sich  bei  dieser  ganzen  Antithese  um  eine 
Korrelation  zum  Wissen  handelt,  das  kann  man  überall  aus  der 
Einschränkung  erkennen,  welche  am  Wissen  verübt  und  ver- 
sucht wird.  Das  Wissen  soll  nur  vom  natürlichen  Menschen^ 
wie  von  der  Natur  überhaupt  handeln  können;  das  Sittliche  da- 
gegen sei  ihm  versagt  und  fremd.  So  wird  das  Vernunft-Interesse 
am  Sittlichen  verkürzt,  die  Theorie  der  Ethik  bestritten.  Wenn 
aber  die  Philosophie  der  Ethik  verworfen  wird,  womit  soll  man 
alsdann  salzen? 

So  kommt  es  zu  der  unausweichlichen  Konsequenz,  dass 
der  Glaube,  der  dem  Wissen  entgegengestellt  wird,  der  Vernunft 
und  ihren  theoretischen  Interessen  widersprechen  und  Trotz 
bieten  muss.  Jetzt  soll  der  Glaube  von  höherer  und  ganz  anderer 
Art  sein,  und  eine  ganz  andere  Gewissheit  bieten,  als  die  dem 
Weissen  möglich  ist.  Freilich  ist  es  eine  ganz  andere  Art  von 
Wissen,  die  das  Interesse  des  Glaubens  bildet:  es  ist  das  Schick- 
sal des  Individuums,  um  das  sich  Alles  in  ihm  dreht.  Wenn 
dabei  auch,  wie  nicht  verkannt  werden  soll,  das,  was  der  Mensch 
tut  und  treibt,  durchaus  mit  in  Betracht  gezogen  wird,  so  macht 
es  doch  nicht  die  Hauptsache,  geschweige  die  eigentliche  und 
einzige  Sache  aus,  um  die  es  sich  handelt.  Wäre  das  der  Fal  l 
so  würde  man  nicht  den  Gegensatz  zum  Wissen  festhalten  und 
immer  wieder  umprägen,  um  dem  Glauben  eine  höhere  und 
andere  Art  der  Gewissheit  verdanken  zu  können. 

Es  bleibt  also  dabei,  dass  der  Glaube  einen  Gegensatz  bilden 
und  befestigen  soll  gegen  die  Ethik,  als  ein  Glied  des  philo- 
sophischen  Systems.  Und  diesen  Widerspruch  begünstigt  eine 
Metaphysik,  welche  der  Berufung  auf  den  Glauben  das  angeblich 
philosophische  Wort  redet;  die  Möglichkeit  der  Ethik  wird  da- 
durch vernichtet. 

E^  gibt  noch  eine  andere  Gefahr,  welche  die  Ethik  in  ihrem 
wissenschaftlichen  Charakter   zu    allen  Zeiten   bedroht  hat,   und 


Die  ethische  Kultur.  47 

welche  neuerdings  wieder  aufgetaucht  ist.  Diese  besteht  in  der 
Tendenz  der  sogenannten  ethischen  Kultur.  Freilich  wird  man 
einer  Bestrebung  vor  Allem  seine  Sympathie  schenken  mögen, 
welche  in  dieser  von  Verwirrung  des  Menschengefühls  und  wirt- 
schaftlicher Habsucht  aufgeregten  Zeit  das  sittliche  Panier  auf- 
recht hält,  um  die  Menschen  wes  Glaubens  und  w^es  Stammes 
um  sich  zu  scharen  und  unter  sich  zu  vereinigen.  Aber  dieses 
unmittelbare  Gefühl  ist  schon  für  die  Politik  kein  zuverlässiger 
Wegweiser;  die  Philosophie  der  Ethik  darf  sich  nicht  von  ihm 
beirren  lassen.  Auch  die  Sophistik  war  keineswegs  immer  un- 
sittlich, weder  in  ihren  Lehrern,  noch  in  ihren  Lehren.  Aber 
Sokrates  schlug  sie  doch  aufs  Haupt,  indem  er  den  Satz  in  die 
Welt  brachte:  die  Tugend  ist  Wissenschaft.  Und  diese  Wissen- 
schaft heisst  zugleich  Erkenntniss.  Und  diese  Erkenntniss  ist 
Philosophie,   systematische  Philosophie. 

Gegen,  die  Philosophie  und  ihre  Ethik  richtet  sich  der 
Ausspruch  Kultur.  Als  ob  es  auf  die  Uebung  und  Pflege  der 
Sittlichkeit  allein  ankäme,  und  nicht  vielmehr  im  ersten  Grunde 
auf  die  Erkenntniss.  Dies  könnte  noch  als  ein  harmloser  Irrtum 
erscheinen,  obwohl  die  Sophisten  es  aussprachen,  dass  die  Tugend 
eine  Sache  der  Werke  sei,  und  dass  sie  nicht  der  logischen 
Gründe  bedürfe.  Die  Philosophie  hätte  ohnehin  schon  dadurch 
ein  begründetes  sachliches  Interesse,  der  Beeinträchtigung  zu 
widerstreben,  welche  damit  dem  System  der  Philosophie  zu- 
gemutet wird.  Aber  das  Gebrechen  dieses  Gedankens  lässt  sich 
noch  allgemeiner  fühlbar  machen. 

Durch  die  Beschränkung  des  sittlichen  Problems  auf  die 
Kultur  wird  das  Vorurteil  genährt,  als  ob  die  Sittlichkeit 
etwas  Selbstverständliches  wäre,  worüber  eigentlich  kein 
Zweifel  bestehen  könne,  worüber  nur  die  Philosophie  und  allen- 
falls auch  die  Religion  die  Skepsis  alarmiere.  Und  sogleich 
kommen  alle  unklaren  und  zweideutigen  Stichworte  dieser  Losung 
zu  Hilfe:  dass  das  Sittliche  angeboren  sei;  dass  der  Mensch  gut 
sei,  nämlich  das  Individuum;  dass  ihn  nur  der  Pluralis  der 
Menschen  schlecht  mache.  In  allen  diesen  menschenfreund- 
lichen Ansichten,  welche  auch  wieder  in  vielfachen  Nuancen 
durch  alle  Zeitalter  schwirren,  wiederholt  sich  derselbe  Grund- 
fehler: dass  der  Mensch  in  seiner  psychologischen  Natur  gedacht 


48  Die  Selbstverstftndlichkeit  des  Sittlichen. 

wird.  Darum  wehrt  man  sich  gegen  die  Philosophie,  oder,  wie 
man  es  unverfänglicher  ausdrückt,  gegen  die  Metaphysik,  weil 
man  sonst  mit  der  Logik  anfangen  müsste,  während  man  mit 
Psychologie  bequemer  zu  fahren  glaubt. 

Indem  mj^n  aber  wohl  oder  übel  von  der  Psychologie  aus- 
geht, so  begibt  man  sich  in  die  Schwierigkeiten,  welche  von 
dort  her  dem  Individuum  bevorstehen,  und  ebenso  auch  dem 
Willen.  Und  es  kann  daher  schwerlich  helfen,  wenn  man 
andererseits  die  soziale  Fahne  aufpflanzt,  um  der  Einseitigkeit 
des  Individuums  und  dem  impulsiven  Imperialismus  seines 
Willens  zu  steuern.  Es  kann  dabei  nicht  zu  einer  Schlichtung 
des  Gegensatzes  kommen;  denn  wo  die  Natur  des  Sittlichen  vor- 
ausgesetzt wird,  und  als  selbstverständlich  in  der  Natur  des 
Menschen  gilt,  da  bleibt  es  bei  der  angeblichen  Correlation  von 
Individuum  und  Mehrheit  oder  Besonderheit,  welche,  wie  wir 
wissen,  keine  richtige,  keine  erschöpfende  Correlation  ist.  Da 
wird  nicht  von  vornherein  das  Problem  aufgestellt,  in  der  All- 
heit das  rechte  Glied  der  Correlation  zu  finden. 

Bestände  diese  Einsicht,  so  könnte  es  nimmermehr  in 
Zweifel  gezogen  werden,  dass  die  ethische  Kultur  durchaus  viel- 
mehr auf  die  Kultur  der  Ethik  sich  gründen  muss.  Denn 
die  Bedeutungen  dieser  Allheit  in  der  Geschichte  der  Kultur  zu 
mustern  und  auf  ihren  ethischen  Reingehalt  zu  prüfen,  das  ist 
eine  eminent  theoretische  Aulgabe,  in  deren  Bestimmung  und 
Beleuchtung  ebenso,  wie  in  ihrer  Behandlung  und  Durchführung 
der  Werl  der  Ethik  mit  Sicherheit  anerkannt  werden  muss. 
Von  diesem  Problem  der  Allheit  lenkt  die  ethische 
Kultur  ab,  weil  die  Selbstverständlichkeit  des  Sitt- 
lichen am  Individuum  hängt. 

Damit  aber  kommen  wir  auf  einen  noch  schwerern  Fehler 
in  diesem  Gedanken.  Indem  er  von  der  Allheit  ablenkt  im  Aus- 
gang, lenkt  er  zugleich  ab  von  dem  Zusammenhang  der  Probleme, 
in  dem  das  Sittliche  steht,  und  in  dem  allein  es  behandelt 
werden  muss.  Der  Staat  stellt  diesen  Zusammenhang  dar. 
Daher  darf  prinzipiell  nur  in  den  politischen  Bewegungen  das 
Sittliche  der  praktischen  Kultur  unterzogen  werden.  Wenn  es  von 
diesem  Zusammenhange  abgelöst  wird,  so  bleibt  es  der  Domäne 
überlassen,  gegen  welche  eigentlich  der  Widerstand  erhoben  wird. 


Woher  und  Wohin?  49 

Der  Religion  will  die  ethische  Kultur  entgegentreten,  um 
die  Exklusivität,  der  diese  anheimfällt,  zu  beseitigen.  Sie  ist  so 
konsequent,  auch  den  Einseitigkeiten  der  Politik  zu  begegnen; 
dennoch  aber  begibt  sie  sich  ausserhalb  des  politischen  Kampf- 
gebietes. Daher  verfällt  sie  unrettbar  dem  Seitenweg  einer 
religiösen  Sekte.  Wo  immer  die  Sittlichkeit  ausserhalb  der 
Politik  zum  Problem  gemacht  wird,  da  ist  trotz  aller  Feindschaft 
gegen  die  religiöse  Dogmatik  die  Sackgasse  des  religiösen  Con- 
ventikels  unvermeidlich. 

Es  wird  aber  auch  gegen  die  Religion  ein  verhängnisvoller 
Fehler  hierbei  begangen,  der  das  Verhältnis  der  Ethik  zur 
Religion  tief  berührt.  Dass  die  Religion,  als  Glaube,  vielmehr 
Wissen  sei,  und  dass  dieses  Wissen  auf  das  Schicksal  des 
Menschen  gerichtet  sei,  haben  wir  betrachtet.  Die  Ethik  dagegen 
sei  gerichtet  auf  den  Begriff  des  Menschen,  sofern  er  aus  seinem 
Willen  und  seiner  Handlung  ableitbar  werde.  Der  Unterschied 
ist  einschneidend;  ob  sein  Inhalt  aber  vollauf  befriedigt'? 

Sollte  denn  das  Schicksal  des  Menschen  lediglich  eine 
mythologische  Vorfrage  der  Kultur  sein,  welche  auf  demselben 
Wege  auch  die  Frage  nach  dem  Schicksal  der  Welt  erledigt? 
Würde  nicht  vielmehr  der  Religion  der  Charakter  des  Wissens 
zuzuerkennen  sein,  wenn  sie  diese  Fragen,  obzwar  sie  schon  den 
Mythos  bewegten,  dennoch  zu  ihren  Fragen  machte;  selbst  wenn 
sie  sie  nicht  zu  lösen  vermöchte?  Es  ist  sicherlich  nicht  allein 
das  Interesse  des  Köhlerglaubens,  welches  auf  das  Woher  und 
Wohin  der  Welt  und  des  Menschen  sich  richtet.  Non  liquet  zu 
sagen,  hat  nur  einen  berechtigten  Sinn,  nachdem  man  eine  lang- 
wierige Untersuchung  durchgeführt  hat.  Es  ist  aber  das  Symptom 
einer  grossen  innerlichen  Kurzsichtigkeit,  wenn  mau  glaubt,  das 
Interesse  an  diesen  Fragen  abschneiden  und  als  eitel  abtun  zu 
können.  Ist  es  doch  vielmehr  der  Sinn  für  den  Innern  Zu- 
sammenhang alles  Seins,  der  in  diesen  primitiven  Fragen  schon 
sich  kundgibt.  Die  Welt  darf  mit  mir  nicht  anfangen  und  mit 
mir  nicht  enden.  Darum  darf  ich  selbst  nicht  enden.  Es  kommt 
jedoch  nur  darauf  an,  und  das  vorzugsweise  ist  zu  fragen:  wer 
und  was  ich  selbst  bin.  Und  es  ist  somit  wiederum  der  Begrifl* 
des  Individuums,  der  das  Problem  bildet. 

Mithin  kann  es  nicht  so  sich  verhalten,  dass  die  Ethik  mit 

4 


50  Ethik  und 


diesen  Fragen  gar  nicht  sich  zu  befassen  hätte;  sind  sie  doch  in 
dem  Problem  des  Individuums  mit  enthalten.  Die  Ethik  soll 
nur  nicht  unvermittelt  auf  jenen  Ausdruck  des  Problems  hin- 
steuern; vielmehr  auf  ilirem  Wege  der  Mittel  habhaft  werden, 
um  da  zu  landen,  wo  Mythos  und  Religion  Schiflbruch  leiden 
und  versanden. 

Die  Frage  nach  dem  Woher  stellt  sich  die  Ethik  bei  ihrem 
Ausgange  von  der  Logik.  Wir  werden  dies  zu  l)etrachten  haben. 
Und  das  Wohin  bildet  die  Sclüussfrage  der  Ethik,  ohne  die  sie 
ihren  Abschluss  nicht  erreichen  wiirde. 

Nicht  so  ist  mithin  das  Verhältnis  zwischen  Ethik  und 
Religion  zu  denken,  dass  die  Ethik  jene  Urfragen  der  Religion 
als  Kinderfragen  der  Menschheit  abtäte;  sondern  dahin  wird  es 
zu  fassen  sein,  dass  die  Ethik  jene  Fragen,  deren  Lösung  der 
Religion  versagt  bleiben  mu3s,  weil  ilir  für  deren  Bearbeitung 
die  methodischen  Mittel  fehlen,  ihrerseits  auf  sich  nimmt;  und 
keineswegs  in  der  Resignation,  dass  sie  dal>ei  in  einem  Non 
liquet  stranden  müsste.  Die  Uebertragung  des  Woher  und 
des  Wohin  muss  sie  sich  zu  ihrer  Aufgabe  machen. 
Diese  Fragen  gehören  allerdings  zum  Begriffe  des  Menschen. 

Daher  wird  auch  die  Ethik  eine  andere  Stellung  zur  Religion 
einehmen,  als  sie  der  ethischen  Kultur  und  aller  Art  von  Zeit- 
stimmung vorschwebt,  welche  der  Religion  aus  dem  Wege  geht. 
Der  Grundirrlum  ist  in  allen  diesen  Richtungen,  dass  das  Sitt- 
liche etwas  Natürliches  und  somit  etwas  Selbstverständliches  sei. 
Schon  die  Philosophie  sei  dabei  überflüssig:  die  Religion  dagegen 
schlechterdings  vom  Uebel.  Nur  auf  den  letzten  Punkt  wollen 
wir  hier  eingehen:  berührt  muss  freilich  auch  der  erstere  dabei 
werden. 

Das  Sittliche  soll  natürlich  sein,  das  soll  heissen,  es  sei 
dem  Menschen  angeboren,  wie  es  alle  seine  Triebe  sind.  Denn 
über  die  Triebe  hinaus  darf  man  dabei  wohl  nicht  gehen.  Das 
Denken  und  Erkennen  gilt  in  jenem  Lager  nicht  für  angeboren, 
sondern  nur  das  Emptinden  und  Wahrnehmen,  aus  dem  das 
Denken  und  Erkennen  sich,  wie  man  sagt,  entwickele.  So  soU 
sich  auch  das  sittliche  Fühlen  und  Wollen  aus  den  Instinkten 
und  Triebbewegungen  allgemach  entwickeln.  So  versteht  man 
das  Angeborene:   die  allmähliche  Entwickelung   aus  natürlichen 


Die  Ideen  und  die  Individuen.  61 

Triebkräften.  Und  diese  Entwickelung  macht  das  Sittliche  zu 
einem  natürlichen  Ertrag  und  Ergebnis,  wonach  es  als  et^'as 
Selbstverständliches  erscheint.  Die  ethische  Begründung  sei  daher 
nicht  bloss  überflüssig,  sondern  bedenklich  und  verdächtig,  weil 
sie  den  Anspruch  zu  erheben  scheint,  etwas  Eigenes,  Neues  als 
das  Sittliche  zu  entdecken. 

In  der  Tat  kann  dieser  Anspruch  als  etwas  Befremdliches 
erscheinen.  Die  Kultur  arbeitet  seit  Jahrtausenden  auf  ein  Sitt- 
liches  hin,  und  alle  theoretische  Kultur  ist  an  der  Ausbildung 
dieser  Einsichten  beteiligt;  wie  könnte  es  da  zu  verstehen  sein, 
dass  die  Ethik  etwas  Anderes  ausführen  und  auch  nur  anstreben 
könnte,  als  die  methodische  Bestimmung  des  Begriffs  vom  Sitt- 
lichen, zu  welcher  alle  Arten  der  Kultur  mit  der  Kenntniss  seines 
Umfangs  zugleich  auch  die  Merkmale  zu  liefern  haben,  die  in 
jenem  Begriffe  vereinigt  werden?  Freilich  erfordert  die  Ver- 
einigung zugleich  die  Bearbeitung  jener  Merkmale;  aber  die 
Kultur  allein  kann  sie  an  den  Tag  bringen. 

Zur  Kultur  gehört  auch  die  Religion.  Und  wie  wenig  es 
ihr  auch  gelungen  ist  und  gelingen  konnte,  die  Sittlichkeit  auf 
Erden  zu  verwirklichen,  so  kann  doch  nur  eine  parteiische  Ver- 
blendung und  ein  agitatorischer  Schlachtruf  sie  für  Priesterbetrug 
ausgeben,  und  allen  ihren  Wert  für  die  sittliche  Kultur  ab- 
leugnen. Der  Fehler  dieses  Urteils  liegt  wiederum  nur  in  der 
Ansicht,  dass  das  Sittliche  natürlich,  weil  selbstverständlich  sei, 
und  dass  nur  die  Religion  diese  Natur  des  Sittlichen  verdorben 
und  unkenntlich  gemacht  habe.  Der  Fehler  lässt  sich  auch  als 
ein  solcher  in  der  geschichtlichen  Einsicht  bezeichnen.  Die 
Religion  gehört  der  Geschichte  auch  in  Rücksicht  auf  die  Ge- 
schichte der  sittlichen  Ideen  an.  Diese  bilden  vorzugsweise  den 
Inhalt  der  Geschichte. 

Wir  sind  im  Vorigen  bemüht  gewesen,  das  Verhältnis  des 
Individuums  zu  den  Einrichtungen  und  den  Ideen  klarzustellen, 
und  wir  haben  das  Individuum  erkannt  als  das  Individuum  der 
Idee;  denn  auch  die  materielle  Kultureinrichtung  ist  Darstellung 
der  Idee.  Jetzt  gilt  es  umgekehrt  das  Verhältnis  der  Idee  zu 
dem  Individuum  ins  Auge  zufassen.  Die  sittlichen  Ideen  sind 
nicht  von  selbst  gewachsen,  sondern  Individuen  haben  sie  ge- 
dacht und  hervorgebracht.    Wer  waren  diese  Individuen?  Sicher- 

4» 


62  Die  Propheten. 


lieh  waren  es  auch  Philosophen  und  Dichter  und  Richter  und 
Staatsmänner;  aber  vielleicht  nicht  nur  zeitlich  vor  ihnen  allen^ 
sondern  der  eindringenden  Energie  und  der  Wucht  nach  waren 
es  die  Stifter  der  Religionen,  welche  die  sittlichen  Ideen 
erdachten,  für  ihren  Wert  stritten  und  ihr  Leben  dahingaben. 

In  neuerer  Zeit  ist  der  typische  historische  Charakter  auf- 
gedeckt worden,  den  die  israelitischen  Propheten  im  Leben 
der  Menschheit  einnehmen.  .^Er  hat  Dir  gesagt,  o  Mensch,  was 
gut  ist."  Dieser  Ausspruch  bildet  die  Devise  des  Prophetismus. 
Gott  ist  es,  der  verkündet.  Das  ist  die  Schranke.  Nicht  der 
menschliche  Geist,  nicht  die  wissenschaftliche  Vernunft  ist  die 
Quelle  und  das  souveräne  Mittel.  Diese  Schranke  bezeichnet  der 
mythologische  Begriff  der  Offenbarung. 

Aber  die  Offenbarung  bleibt  nicht  bei  diesem  mytholo- 
gischen Ausgang  stehen.  Die  Schranke  zerbricht  sich  selbst;  die 
auswärtige  Quelle  Hiesst  unversehens  in  eine  eigene  über:  in  die 
der  menschlichen  Vernunft,  sofern  der  Begriff  der  Vernunft  den 
Menschen  mit  Gott  vereinbart  und  versöhnt.  Gott  verkündet 
dem  Menschen.  Und  was  verkündet  er  dem  Menschen?  Wa,s 
gut  ist.  So  macht  der  Prophetismus  das  Gute  zum  Inhalt  der 
Religion.  Nichts  Anderes  soll  fernerhin  der  Vorwurf  und  das 
Interesse  der  Religion  sein  als  das  Sittliche.  Nichts  Anderes  also 
als  der  Mensch;  vielmehr  die  Menschen,  wie  sie  der  Eine  Gott 
in  die  Eine  Menschheit  vereinigt.  Der  Name  Gott  soll  fernerhin 
schlechterdings  nichts  Anderes  zu  bedeuten  haben  als  die  Bürg- 
schaft für  diesen  Gedanken,  für  diese  Ueberzeugung  von  der 
Einen  Menschheit. 

Für  das  Wesen  und  die  Natur  Gottes  interessiii  sich  der 
Mythos,  der  daher  auch  der  Mehrheit  der  Götter  bedarf.  Wenn 
anders  es  aber  nach  den  Propheten  nur  Einen  Gott  gibt,  so  gibt 
es  für  seine  Natur  und  sein  Wesen  kein  inneres,  eigenes,  sondern 
nur  ein  auswärtiges  Verhältnis,  nämlich  zu  den  Menschen.  Da- 
her muss  er  transscendent  sein;  er  bildet  die  Grundlage  zu 
dem  Verhältnis,  als  des.sen  anderes  Glied  der  Mensch  gefordert 
wird;  damit  die  Verhältnisse  unter  den  Menschen,  welche  die 
Sittlichkeit  ausmachen,  vollziehbar  werden.  Nicht  der  Mensch 
also  fordert  für  seine  subjective  Stützung  Gott;  sondern  zur 
objectiven     Begründung     der    Sittlichkeit     wird    Gott    gefordert- 


Die  Transscendenz  Gottes.  53 

Daher  ist  er  die  transscendente  Voraussetzung.  Sein  BegrilT  und 
sein  Dasein  bedeutet  nichts  Anderes,  als  dass  es  kein  Wahn  sei, 
die  Einheit  der  Menschen  zu  glauben,  zu  denken,  zu  erkennen, 
<iott  hat  es  verkündet.  Gott  verbürgt  es;  sonst  hat  er  Nichts  zu 
bedeuten,  Nichts  zu  besagen.  Seine  Eigenschaften,  in  die  man 
sein  Wesen  entfaltet,  sind  nicht  sowohl  die  Eigenschaften  seinier 
Natur,  als  vielmehr  die  Richtungen,  in  welche  jenes  Verhältnis 
zu  den  Menschen  und  an  den  Menschen  ausstrahlt. 

Wenn  man  nur  an  die  beiden  Attribute  Gottes,  an  die 
Liebe  und  Gerechtigkeit,  denkt,  so  muss  es  einleuchten,  welchen 
intimen  Anteil  die  Religion  an  der  Sittlichkeit  hat;  auch  an 
dem  Denken  und  Ausbilden  der  sittlichen  Einsichten,  die  man 
freilich  von  Hegriflen  und  Erkenntnissen  unterscheiden  inuss. 
Es  ist  daher  l'nwissenheit  und  Unbildung,  wenn  man  die  Religion 
mit  ihren  sittlichen  Schätzen  und  Quellen  verdächtigt  und  ent- 
behrlich zu  machen  glaubt;  wie  will  man  sie  denn  ersetzen,  zu- 
mal wenn  man  auch  die  Philosophie  als  Metaphysik  ablehnt? 
Es  bleibt  dann  eben  nur  die  populäre  Trivialität  übrig  in  ihrer 
grossen  Zweideutigkeit  und  Zweischneidigkeit. 

Wenn  selbst  aber  die  etliivsche  Litteratur  für  die  Religion 
eingesetzt  würde,  so  würde  diese  dadurch  doch  nicht  ersetzt 
werden.  Das  werden  wir  späterhin  in  anderem  Zusammenhange 
zu  ei-weisen  haben.  Wir  werden  dabei  auf  die  eigentlichen 
Fehler  der  Religion  einzugehen  haben.  Diese  aber,  die  man 
allgemein  wohl  fühlen  mag,  dürfen  doch  nicht  zu  dem  histo- 
rischen Irrtum  verleiten,  dass  die  Religion  die  Kenntniss  des 
Sittlichen  nicht  gefördert  hätte. 

Dieser  Irrtum  ist  nicht  nur  ein  Fehler  der  historischen 
Bildung,  er  schädigt  zugleich  die  Disposition  der  Ethik.  Wir  Wissen 
jetzt,  was  die  Unterscheidung  zwischen  dem  theoretischen  und 
dem  ethischen  Interesse  zu  bedeuten  hat.  Wir  haben  auch  schon 
eingesehen,  dass  das  praktische  Interesse  durch  das  theoretische 
gefördert  wird.  Die  Formulierung  des  Aristoteles  ist  sehr  un- 
glücklich und  verwirrend.  Die  Ethik  hat  keineswegs  zu  ihrem 
Problem,  „dass  wir  Gute  werden'*,  welches  im  Gegensatz  stände 
zu  dem  Problem,  „was  das  Gute  sei**;  denn  durch  die  Erkenntniss 
des  Guten  soll  das  Gut  werden  der  Menschheit  herbeigeführt 
werden.     Das  theoretische  Interesse  dient   dem  praktischen.    In- 


54  Verhältnis  von  Religion  und  Kunst 

dessen  wie  sehr  dieser  Zusammenhang  immer  vorzugsweise  auf 
die  beiden  Arten  des  Vernunftinteresses  sich  bezieht,  so  ist  er 
doch  nicht  auf  dieselben  eingeschränkt  und  festgebannt. 

Wenn  anders  daher  die  Religion  an  der  Kenntniss  des  Sitt- 
lichen unverächtliche  Verdienste  hat,  so  verscherzt  und  verliert 
man  ihre  praktische  Mitarbeit,  wenn  man  für  die  sittliche  Kultur 
sie  abweist  und  ausschaltet.  Und  der  Verlust  ihrer  Mitarbeit  ist 
nicht  das  Einzige,  was  dabei  zu  bedenken  ist.  Ein  anderer,  nicht 
minder  schwerer  Schaden  besteht  darin,  dass  sie  selbst  infolge 
dieser  Abweisung  auf  eine  schiefe  Bahn  geschoben  wird.  Nicht 
nur  das  mythologische  Interesse  wird  dann  wieder  in  ihr  über- 
mächtig, sondern  in  die  anderen  Zweige  der  Kultur  verschlingt 
sie  sich  immer  dichter,  je  mehr  sie  von  der  Richtung  auf  das 
Sittliche  abgedrängt  wird. 

In  dieser  Verschlingung  mit  allen  den  verschiedenen  Zweigen 
der  Kultur  besteht  die  eigentliche  Schwierigkeit  und  Gefahr  der 
Religion.  Und  dieser  tiefste  Grund,  der  ihr  Wesen  fraglich 
macht,  wird  verschroben  bei  dieser  Verzichtleistung  auf  sie  für 
das  Sittliche.  Darin  liegt  der  grösste  Schaden  in  diesem  Fehler 
der  historischen  Bildung.  Dieser  Gedanke  erfordert  eingehendere 
Betrachtung.  Vor  Allem  ist  es  das  Verhältnis  zur  Kunst, 
welches  der  Religion  wie  eingeboren  ist.  Erwächst  sie  doch  aus 
dem  Mythos,  der  selbst  die  Wurzel  der  Kunst  in  sich  enthält. 
Mit  der  Kunst  schafft  sie  sich  ihren  Kultus.  Freilich  scheint  sie 
in  demselben  innerhalb  des  Mythos  befangen  zu  bleiben.  Daher 
eifern  die  Propheten  gegen  den  Kultus. 

Aber  der  Kultus  dient  ja  nicht  allein  der  Gottesverehrung, 
sodass  er  durch  die  Menschenliebe,  in  der  allein  der  wahre 
Gottesdienst  besteht,  ersetzbar  würde;  sondern  er  dient  zugleich 
doch  auch  der  Sammlung  des  Menschen  und  seiner  Andacht  an 
die  Gedanken  der  Sittlichkeit.  Diese  Sammlung  und  diese  An- 
dacht fördert  der  Kultus,  indem  er  der  Kunstmittel  sich  be- 
mächtigt, um  die  Gedanken  in  Gefühle  zu  zerschmelzen;  von 
ihrer  begrifflichen  Gebundenheit  sie  abzulösen  und  in  das  neue 
Geflecht  der  Gefühle  sie  einzulangen.  Hier  wächst  ihnen  un- 
zweifelhaft eine  neue  Kraft  zu;  es  ist  jedoch  ebenso  unzweifel- 
haft, dass  dadurch  ihre  Klarheit,  ihre  Einfachheit  und  ihre 
Sicherheit  gefährdet  wird. 


Das  Uebersinnliche.  55 

Der  Wert  der  aesthetischen  Gefühle  liegt  in  der  eigenen 
Reinheit  und  Selbständigkeit  der  Werke  der  Genies.  Die  Kunst 
des  Genies  aber  geht  ihre  eigenen  Wege,  wie  sehr  sie  immer 
mit  der  Religion  sich  zu  verbinden  scheinen  mag.  Die  wahre 
Kunst  wird  niemals  der  Religion  dienstbar;  sie  bemächtigt  sich 
vielmehr  nur  des  religiösen  Stoffs,  wie  des  mythischen  überhaupt, 
um  ihn  mit  ihren  eigenen  Mitteln  zu  ihren  eigenen  Zwecken 
und  zu  ihrem  eigenen  Inhalt  zu  gestalten.  Die  Kunst  wird  nicht 
von  der  Religion  abhängig,  wohl  aber  umgekehrt  die  Religion 
von  der  Kunst.  Dadurch  aber  wächst  die  Gefahr  der  Religion. 
Denn  sie  befestigt  sich  dadurch  im  Mythos, .  von  dem  sie  durch 
die  Freiheit  der  Poesie  scheinbar  abgelöst  wird.  In  der  Kunst 
aber  tritt  sie  in  einen  neuen  Zauber  ein,  der  sie  für  das  Sitt- 
liche befangen  macht. 

Das  ist  ja  die  grosse  Macht  der  Kunst,  dass  sie  ihren  Ge- 
bilden die  Illusion  der  Wirklichkeit  verleiht.  Da  nun  aber  die 
Religion,  wie  sie  sich  mit  der  Kunst  im  Kultus  verbindet,  das 
Verhältnis  zwischen  Gott  und  Mensch  zu  künstlerischer  Dar- 
stellung bringt,  so  zieht  sie  das  Uebersinnliche  in  die 
Reize  der  aesthetischen  Sinnlichkeit  hinein,  und  so  begibt 
sie  sich,  wie  freiwillig,  in  die  Urzeit  des  Mythos  zurück.  Die 
Kunst  gibt  ihr  das  seelische  Geleit.  Der  Abstand  der  Religion 
von  der  Ethik,  sofern  diese  auf  der  Verbindung  des  praktischen 
und  des  theoretischen  Interesses  berußt,  wnrd  dadurch  weiter 
und  gespannter. 

Indessen  entsteht  aus  der  innerlichen  Verbindung  von 
Religion  und  Kunst  noch  eine  andere  Gefahr,  welche  die  Religion 
für  die  Ethik  bildet.  Die  Kunst  entspricht  einer  eigenen  Richtung 
des  reinen,  erzeugenden  Bewusstseins.  Daher  bildet  die  Aesthetik 
ein  eigenes  Glied  des  philosophischen  Systems.  Diese  Eigenart 
lässt  sich  wiederum  nicht  ausschliesslich,  nicht  methodisch  durch 
Psychologie  entwickeln.  Vom  psychologischen  Gesichtspunkte 
aus  würde  man  denken  können,  die  Kunst  gehe  aus  einem  Kunst- 
triebe hervor,  wie  er  sich  auch  bei  den  Tieren  schon  zeige. 
Daher  scheint  unser  deutsches  Wort  so  bezeichnend:  Kunst  ist 
Können;  das  Vermögen  zu  schaffen  und  zu  bilden.  Bilder 
zu  entwerfen  und  zu  gestalten,  welche  im  Scheine  der  Wirk- 
lichkeit mit  der  Natur  wetteifern. 


56  Die  sogenannten  sozialen  Kunstwerke. 

Ist  denn  aber  diese  Richtung  des  Könnens  der  Kunst  eigen- 
tümlich? Schlägt  nicht  vielmehr  dieser  Trieb,  zu  bilden  und 
zu  schaffen,  noch  ganz  andere  Richtungen  ein?  Zunächst  kann 
man  sagen,  dass  alle  diese  Richtungen  des  ßildens  aus  einem 
Triebe  nach  Aussen  hervorgehen.  Dieser  Trieb  nach  Aussen 
ist  es  ja  aber,  welcher  vor  Allem  den  Willen  und  die  Handlung 
bezeichnet.  Wenn  nun  der  Trieb  des  Schaffens  und  des  Bildens 
nach  seinen  verschiedenen  Wegen  und  Richtungen  in  diesem 
Triebe  nach  Aussen  wurzelt,  so  wurzelt  er  im  Willen.  Und 
wenn  die  Kunst  in  dem  Triebe  des  Bildens  im  letzten  und  tiefsten 
(irunde  charakterisierbar  wäre,  so  würde  ihr  eine  Eigentümlich- 
keit für  das  philosophische  System  nicht  zukommen;  denn  sie 
würde  mit  dem  Willen  und  also  mit  der  Ethik  zusammenfallen. 

Welche  andere  Richtungen  sind  es  denn  aber,  die  der 
Trieb  des  Bildens  und  des  SchatTens  einschlägt?  Bei  dieser 
Frage  stehen  wir  vor  den  wahrhaften  Mächten  und  Tatsachen 
der  sittlicben  Kultur.  Und  das  Problem  der  Ethik  hängt  an 
der  Charakteristik  dieser  Mächte  und  dieser  Tatsachen.  Der 
psychologische  Gesichtspunkt  lässt  es  als  natürlich  erscheinen, 
dass  der  Trieb,  nach  Aussen  zu  wirken  und  zu  schaffen,  und 
diesem  SchafTen  Gestalt  und  Dauer  zu  verleihen,  alle  sozialen 
und  politischen  Gebilde  hervorgebracht  habe;  alle  Ver- 
bindungen der  Menschen  seien  diesem  Triebe  entstammt.  Man 
scheut  die  Analogie  mit  der  Kunst  nicht;  alle  diese  sozialen  und 
politischen  Schöpfungen  seien  Kunstwerke;  der  Staat  wird  als 
das  höchste  Kunstw^erk  gedacht. 

Indessen  mehr  als  Analogie  soll  auch  in  diesem  Vergleiche 
nicht  liegen.  Wie  der  Trieb  nach  Aussen  sich  zu  einem  Triebe 
des  Schaffens  in  der  Kunst  spezialisiert,  so  zweigt  er  sich  anderer- 
seits zu  einer  andern  Art  des  Könnens  ab,  nämlich  zu  der  des 
Bezw^ingens,  welches  gegen  Andere  und  auch  gegen  sich  selbst 
gerichtet  wird.  Das  Wort,  welches  für  diesen  Trieb  in  vielen 
Sprachen  gebraucht  wird,  weist  auf  eine  Wurzel  hin,  welche 
der  des  Könnens  verwandt  ist.  Die  Macht  tritt  als  ein  Trieb 
des  menschlichen  Bew^usstseins  auf.  Und  die  sozialen  und 
politischen  Bildungen  werden  als  Mächte  der  Kultur  wirksam. 
In  diesen  Mächten  der  politischen  Kultur  gilt  es  uns,  die  Objekte 
der  Ethik  zu  erkennen;  diejenigen  Tatsachen  der  Kultur,  welche, 


Religion  und  Politik.  67 

analog  der  Natur,  die  Objekte  der  Erkenntniss  zu  bilden  haben; 
der  ethischen,  wie  die  Tatsachen  der  Natur  die  Objekte  der 
theoretischen  Erkenntniss  bilden. 

Bevor  wir  diesen  Gedanken  weiter  verfolgen,  wollen  wir 
die  Betrachtung,  welche  die  Religion  betraf,  nunmehr  fortseticen. 
Jeizi  haben  wir  die  neue  politische  Schöpfung  kennen  gelernt, 
mit  welcher  die  Religion  von  Anfang  an  Verbindungen  einzu- 
gehen sucht,  die  für  Beide,  für  die  Religion,  wie  für  den  Staat, 
unablässige  Kollisionen  und  Konflikte  mit  sich  führt;  schwere, 
bittere  Kämpfe,  an  denen  bald  die  Religion,  bald  der  Staat  zu 
verbluten  droht.  An  dieser  Stelle  soll  jedoch  nur  die  Schwierig- 
keit erwogen  werden,  welche  aus  jener  Verbindung  der  Re- 
ligion mit  der  Politik  für  die  Ethik  entsteht. 

Von  Anfang  an  hatten  wir  gesehen,  dass  es  sich  in  der 
Ethik  um  den  Begrifl"  des  Menschen  handelt;  dass  für  diesen 
BegritT  aber  es  ankomme  auf  die  richtige  Correlatiön  zu  dem 
BegriflV  des  Individuums.  Die  Mehrheit,  als  Besonderheit,  bildet 
nicht  das  entsprechende  Correlat;  vielmehr  nur  die  Allheit.  Es 
muss  nun  darauf  ankommen,  welche  der  konkurrierenden 
Mächte,  die  Religion  oder  der  Staat,  die  richtige  Allheit  zu  liefern 
vermag. 

Dem  oberflächlichen  Scheine  und  dem  lauten  Ansprüche 
nach  will  die  Religion  alle  Besonderheit  aufheben  und  alle 
Menschen  in  eine  Allheit  vereinigen.  Der  Staat  dahingegen 
scheint  dieser  Allheit  Widerstand  zu  leisten,  indem  er  die  Viel- 
heil der  Völker  in  der  Partikularität  der  Staaten  stabiliert. 
Indessen  schränkt  der  StaatsbegrifT  diesen  Partikularismus  durch 
<las  Völkerrecht  und  durch  den  Staatenbund  w^ohl  oder  übel 
ein.  So  korrigiert  sich  die  scheinbar  unumgängliche  Besonder- 
heit in  dem  Plan  einer  Allheit,  der  mit  der  Methodik  des  Rechts 
entworfen  wird.  Man  denke  sich  dementsprechend  einen  Bund 
der  Religionen.  Der  Gedanke  scheint  einer  satyrischen  Utopie 
anzugehören. 

Warum  alier  ist  eine  solche  mit  der  eigenen  Methodik  der 
Religion  herbeizuführende  Verbindung  der  Religionen  ein  unmög- 
licher Gedanke,  an  dessen  Stelle  nur  die  Toleranz  und  der- 
gleichen Schlafmittel  treten  können?  Weil  die  Religion  eben  den 
Anspruch  auf  Wissen  erhebt;  weil  sie  das  Wissen  vom  Menschen 


58  Der  Partikularismus  der  Religion 

und  von  Gott  und  von  der  Welt,  als  der  Schöpfung  Gottes,  zu  lehren, 
lehren  zu  können  sich  anmasst.  Es  kann  jedoch  nicht  zwei 
Wissenschaften  geben,,  die  denselben  Inhalt  an  Pro- 
blemen hätten.  Wenn  es  deren  gibt,  so  können  sie  sich  nicht  in 
eine  Einheit  verbinden;  sie  müssen  einander  ausschliessen.  Es 
liegt  mithin  der  Partikular ismus  im  Begriffe  der  Religion. 

Und  dieser  Partikularismus  ist  um  so  gefährlicher,  als  er 
durch  einen  angeblichen  Universal  ismus  gefälscht  wird.  Nur  wenn 
die  Religion  sich  selbst  aufgibt,  das  heisst,  wenn  sie  die  Sitt- 
lichkeit allein  und  ausschliesslich  zu  ihrem  Problem  macht,  nur 
dann  kann  die  Allheit  der  Menschen  ihr  wahrhaftes  Ziel  werden. 
Dann  aber  muss  sie,  um  ihren  Lehrgehalt  zu  einem  Wissen  zu 
machen,  in  Ethik  sich  aufheben.  Die  Religion,  als  Religion,  ist 
an  die  exklusive  Partikularität  gefesselt. 

Auf  diesem  Innern  Unterschiede  zwischen  Religion 
und  Staat  beruht  die  Anstössigkeit  der  Verbindung,  welche  die 
Religion  mit  dem  Staate  eingeht.  Zunächst  fällt  die  Abhängig- 
keit in  die  Augen,  in  welche  sie  sich  dabei  begeben  muss.  Wie 
die  Kunst  mit  der  politischen  Macht  sich  verbindet,  so  tritt  auch 
die  Religion  im  Kultus  diesem  Bündnis  bei.  Die  Ahnen  der 
Macht  werden  in  der  Poesie  die  Helden  der  Sage  und  des  Epos 
und  der  politischen  Lyrik.  Und  in  der  Religion  des  Kultus 
werden  diese  Heroen  zu  Göttersöhnen  und  Göttern.  Indessen  ist 
diese  Politisierung  der  Gottheiten  der  geringere  Schaden  bei  dieser 
Verbindung. 

Das  tiefere,  unheilbare  Gebrechen  liegt  in  der  Nach- 
ahmung des  Staates,  in  der  Bildung  einer  selbständigen  Zu- 
sammenfassung der  Glaubensgemeindc  nach  dem  Muster  des 
Staates:  in  der  Kirche.  Die  Theokratie  bildet  hierbei  die  ge- 
ringere Gefahr;  denn  sie  negiert  den  Staat,  den  sie  vielmehr  in 
sich  resorbiert.  Dies  ist  ein  Gedanke,  der  der  Ethik  zu  statten 
kommen  könnte,  wenn  nämlich  die  Religion  ohne  Rest  in  Sitt- 
lichkeit und  mithin  in  Ethik  aufginge.  Diesen  Anspruch  jedoch 
konnte  und  wollte  die  Kirche  weder  im  Heidentum,  noch  im 
Christentum  durchführen.  Nur  um  Abhängigkeit  des  Staates  von 
der  Kirche  handelt  es  sich;  Sekten  allein  sind  es,  welche  die 
Auflösung  des  Staats  in  die  Kirche,  damit  aber  auch  die  der 
Kirche  selbst  anstreben. 


Staat  oder  Kirche?  59 


So  gibt  es  denn  zwei  Grundformen  für  das  grosse  Zusammen- 
leben der  Menschen  und  der  Völker:  eine  geistliche  und  eine 
weltliche.  Welche  aber  ist  die  sittliche?  Das  ist  die  Gewissens- 
frage der  Weltgeschichte.  Ist  es  etwa  nur  eine  von  ihnen?  Dann 
wird  die  andere  zu  einer  Verirrung  im  sittlichen  Sinne.  Und 
diese  Verirrung  wird  nicht  etwa  dadurch  gemildert,  dass  es  ein 
natürlicher  Kunsttrieb  oder  auch  ein  Machttrieb  sei,  welche  die 
Völker  zur  weltlichen  Unsittlichkeit  verführen. 

Oder  sollten  etwa  Beide  nicht  lediglich  den  sittlichen  Weg 
beschreiben,  weil  noch  etwas  Anderes  eine  jede  von  ihnen 
zu  bedeuten  hätte?  Welches  Andere  könnte  es  dann  aber  geben, 
wenn  man  hier  von  der  Kunst  abzusehen  hat,  ausser  Wissen- 
schaft und  Sittlichkeit?  Religion  und  Politik  dürfen  keine 
Korrektur  und  kein  UebertrefFen  der  Wissenschaft  und  der  Sitt- 
lichkeit entbieten.  Wir  wiederholen  die  Frage:  welche  von 
Beiden  ist  die  sittliche  Grundform? 

Die  Frage  bedarf  einer  genauem  Präzisierung.  Sie  darf 
nicht  schlechthin  im  geschichtlichen  Sinne,  mit  Bezug  auf  die 
bisherige  Weltgeschichte,  verstanden  werden.  Denn  in  dieser 
hat  der  Staat  ebensowenig,  wie  die  Kirche,  den  sittlichen  Weg 
eingehalten.  Und  während  für  die  Kirche  wenigstens  der  An- 
spruch auf  Sittlichkeit  fast  immer  erhoben  wurde,  hat  man  in 
der  Politik  und  in  der  politischen  Geschichte  gerade  in  schein- 
bar machtvollen  Zeiten  auf  die  Sittlichkeit  verzichtet.  Dennoch 
dürfen  wir  uns  von  solchen  Erscheinungen  nicht  bestimmen 
lassen,  wenn  wir  die  richtigen  Kulturobjekte  ßnden  wollen,  auf 
welche  die  Ethik  zu  reflektieren  hat.  In  diesem  methodischen 
Sinne  wird  die  Frage  gestellt.  Und  auf  diesen  hin  war  von 
vornherein  das  Misstrauen  gegen  die  Religion,  als  Kirche,  ge- 
richtet worden. 

Betrachten  wir  die  Position  der  Kirche  noch  allgemein  aus 
dem  Gesichtspunkte  der  Allheit,  so  sehen  wir,  wie  das  politische 
Dasein  davon  berückt  wird.  Bis  in  die  ethischen  Konventikeln 
hinein  erstreckt  sich  diese  Verdächtigung  des  Staatslebens.  Und 
doch  kann  und  soll  der  Staat  nicht  entbehrlich  gemacht  werden. 
So  wird  das  Misstrauen  unfruchtbar,  und  verdirbt  nur  das  gute 
Gewissen  und  die  Freudigkeit  des  politischen  Daseins  und 
Wirkens.    Wenn  anders  aber  der  Staat  nicht  entbehrt,  nicht  er- 


60  Verhältnis   der  Ethik  zur  Rechtslehre. 


setzt  werden  kann  für  das  Völkerleben,  so  kann  nur  dies  das 
Problem  sein:  wie  die  Sittlichkeit,  die  seiner  nicht  entraten  kann, 
<lurch  ihn  und  in  ihm  verwirklicht  werde. 

Durch  ihn  allein  muss  sie  Wirklichkeit  werden; 
es  kann  nicht  zwei  Wege  geben,  Sittlichkeit  zu  voll- 
ziehen. Daran  müssen  wir  festhalten.  Es  gibt  keine  halbe 
Sittlichkeit,  die  sich  durch  eine  andere  Hälfte  erganzen  iies^e. 
So  stellt  es  sich  durch  diese  methodische  Ueberlegung  heraus, 
dass  der  Weg  der  Religion,  als  der  Kirche,  der  sittliche  Weg  der 
Menschheit  nicht  sein  kann.  Denn  ihr  Ziel  muss  die  Parti- 
kularität  sein  und  bleiben.  Das  Problem  der  Ethik  aber  ist: 
mit  der  Allheit  das  Individuum  in  Correlation  zu  setzen,  und  in 
«lieser  die  Einheit  des  Menschen  zu  vollziehen. 

So  hat  ims  das  Bedenken  wegen  der  Verbindung,  welche 
im  Kultus  zwischen  der  Religion  und  dem  Staate  eingegangen 
wird,  auf  eine  fernere  methodische  Grundfrage  geführt,  nämlich 
auf  das  Verhältnis  der  Ethik  zur  Staatslehre.  Von  hier 
aus  aber  erölTnet  sich  zugleich  die  Perspektive  auf  noch  eine 
andere  Wissenschaft,  mit  welcher  die  Staatslehre  in  engster 
methodischer  Verbindung  steht,  nämlich  mit  der  Rechts- 
wissenschaft. 

Die  Staatslehre  ist  notwendigerweise  Staatsrechtslelirc.  Die 
Methodik  der  Staatslehre  liegt  in  der  Rechtswissenschaft.  Wie 
sehr  auch  andere  Wissenschaften  in  Mitwirkung  treten  müssen, 
um  den  Begrift'  der  Staatswissenschaft  zu  konstituieren,  so  bildet 
doch  unstreitig  die  Rechtswissenschaft  die  methodische  Grund- 
lage. Wenn  man  die  Volkswirtschaftslehre  und  ihre  Hilfswissen- 
schaften für  die  Staatslehre  in  Betracht  zieht,  so  treten  unver- 
sehens die  Staatswissenschaften  im  Pluralis  ein.  Die  Staatsv/issen- 
schaft,  ihr  BegritT,  ihre  Methodik  ist  vorzugsweise  durch  die 
Rechtswissenschaft  bedingt. 

Der  soeben  gebrauchte  Ausdruck  vorzugsweise  verbirgt  oder 
vielmehr  er  stellt  eine  Unbestimmtheit  und  Unsicherheit  bloss. 
Die  Staatswissenschaft  ist  demnach  nicht  ausschliesslich  von  der 
Rechtswissenschaft  abhängig.  Von  welcher  andern  Art  von  Er- 
kenntniss  ist  sie  denn  aber  abhängig?  Von  der  Volkswirtschaft 
und  ihrem  Anhang  .sehen  wir  ab;    sie  rechnen  wir  hier  auf  die 


Die  Handlung.  61 


Seite  des  Rechts.  Denn  schliesslich  können  diese  Wissenschaften 
selbst  des  Rechts  sich  nicht  entschlagen.  Die  Werte  müssen 
Rechte  werden.  Die  andere  Art  aber  von  Erkenntniss,  auf  welche 
die  Staatswissenschaft  angewiesen  ist,  wir  kennen,  wir  suchen 
sie  hier  in  der  Ethik. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  das  Verhältnis  umzustellen,  wenn 
anders  die  Ethik  das  Glied  eines  philosophischen  Systems  ist. 
Innerhalb  desselben  hat  sie  auf  die  Kultur  sich  zu  beziehen, 
ebenso  wie  die  Logik  auf  die  Natur,  auf  die  Wissenschaft  von 
der  Natur  bezogen  ist.  In  allen  Formen  und  Wissenschaften, 
welche  die  Kultur  zum  Inhalt  haben,  fanden  wir  aber,  dass  die 
Ethik  in  ihnen  vorausgesetzt  werde  und  werden  müsse.  Dem 
Problem  nach  wird  dies  freilich  auch  bei  der  Rechtswissenschaft 
nicht  anders  sein  können;  indessen  macht  sich  hier  ein  metho- 
discher Unterschied  geltend. 

Die  Geschichte  operiert  mit  den  Begriffen  des  Menschen  in 
den  verschiedenen  Formen  und  Gebarungen  seines  Daseins.  In 
allen  diesen  nimmt  sie  aber,  wie  wir  es  betrachtet  haben,  den 
Menschen  in  seinem  psychologischen  Sinn,  den  sie  selbst  ab- 
strahiert und  plastisch  gestaltet.  Seine  Handlungen,  wie  sehr  sie 
immer  sie  als  Handlungen  von  Individuen  darzustellen  beflissen 
ist,  sie  muss  dieselben  zugleich  doch  auch  wieder  in  ihrer  Be- 
dingtheit durch  allgemeinere  Einflüsse  betrachten.  So  werden 
unversehens  die  Handlungen  in  Leidenschaften  und  in 
Gefühle  verflochten  und  schier  verwandelt;  der  genaue  Begriff 
aber,  durch  den  allein  die  Handlung  geleitet  wird,  er  tritt  zurück 
und  wird  notwendigerweise  zurückgestellt,  wenn  anders  nicht 
die  Individuen  allein  und  isoliert  den  Lauf  der  Geschichte  be- 
stimmen. 

Anders  steht  es  und  geht  es  in  der  Rechtswissenschaft 
zu.  In  ihr  handelt  es  sich  vor  Allem  um  Handlungen.  Es  ist 
daher  wohl  nicht  zufallig,  dass  das  Wort  für  Handlung  das 
Grundwort  der  gesamten  juristischen  Technik  wird:  Actio  ist 
die  Handlung  und  die  Klage.  Ein  Recht,  welches  nicht 
klagbar  ist,  ist  kein  Recht.  Daher  ist  auch  der  Begriff  der  Hand- 
lung rechtlich  an  den  Begriff  der  Klagbarkeit  geknüpft.  Die 
Durchführung  des  Rechts  vollzieht  sich  im  Prozess.  Daher  ist 
andererseits  auch  der  Begriff  des  Rechts   an   den   der  Handlung 


62  Ethik  die  Logik  der  Geisteswissenschaften. 

geknüpft.  Die  Handlung  bedeutet,  als  Actio,  nicht  zwar  den 
Rechtsanspruch,  aber  den  Gerichtsanspruch. 

So  wird  das  Recht  in  die  Handlung  gelegt,  als  in  seinen 
Ursprung  und  seinen  eigentlichen  Inhalt.  Denn  die  Form  des 
Rechts  ist  nicht  etwa  nur  die  äusserliche  Form,  und  auch  nicht 
nur  das  bedeutsame  Symbol;  sondern  sie  ist  das  methodische 
Mittel,  das  Recht  zu  flnden,  zu  entdecken,  zu  erzeugen.  Diese 
Doppelbedeutung  hat  die  Handlung  als  actio:  sie  ist  zugleich 
Handlung  und  Behandlung. 

Wir  erkennen  sonach  die  innerliche  Bedeutung,  welche  der 
juristischen  Technik  beiwohnt;  und  daraus  lernen  wir  den 
methodischen  Wert  der  Rechtswissenschaft  erkennen. 
Dieser  methodische  Wert  ist  nicht  allein  auf  die  Staatswissen- 
schaften zu  beziehen;  vielmehr  erstreckt  er  sich  auf  die  Geistes- 
wissenschaften überhaupt,  mithin  auch  auf  die  Ethik.  Und  es 
entsteht  die  Frage  nach  dem  Verhältnis,  welches  in  Bezug 
auf  die  Geisteswissenschaften  zwischen  der  Rechts- 
wissenschaft und  der  Ethik  anzusetzen  sei.  Diese  Frage  wird 
von  grundlegender  Wichtigkeit  für  die  Methodik  der  Ethik  selbst. 

Wir  wissen  von  der  Logik  her,  wie  diese  im  Zusammen- 
hange steht  mit  der  Mathematik.  Zwar  gibt  es  auch  für  die 
Mathematik  allgemeine  Voraussetzungen,  welche  selbständig  in 
der  Logik  gelegen  sind.  Aber  für  den  Aufbau  und  Ausbau  selbst 
dieser  Grundlagen  ist  die  Logik  auf  die  Mathematik  angewiesen. 
Das  haben  wir  sogleich  in  dem  Urteile  des  Ursprungs  erkannt 
Es  besteht  also  ein  deutliches  Wechselverhältnis  zwischen 
der  Logik  und  der  Mathematik.  Die  logischen  Motive, 
welche  der  Mathematik  eingeboren  sind,  wachsen  in  ihr  so  in- 
haltvoll aus,  dass  die  Logik  von  diesem  Inhalte  in  ihrer  eigenen 
Inhaltsbestimmung  abhängig  wird.  Bleibt  es  doch  Geist  von 
ihrem  Geiste,  der  dort  Fleisch  geworden  ist,  und  den  sie  als 
neuen  Geistesinhalt  in  ihr  Gebein  einzufügen  hat. 

Aehnlich  ist  es  mit  dem  Verhältnis  der  Ethik  zur  Rechts- 
wissenschaft bewandt:  Die  Ethik  lässt  sich  als  die  Logik 
der  Geisteswissenschaften  betrachten.  Sie  hat  die  Begriffe 
des  Individuums,  der  Allheit,  sowie  des  Willens  und  der  Hand- 
lung zu  ihrem  Problem.  Alle  Philosophie  ist  auf  das  Faktum 
von  Wissenschaften  angewiesen.     Diese   Anweisung   auf  das 


Die  Rechtswissenschaft  das  Analogen  der  Mathematik.  63 

Faktum  der  Wissenschaften  gilt  uns  als  das  Ewige  in 
Kants  System. 

Das  Analogon  zur  Mathematik  bildet  die  Rechts- 
wissenschaft. Sie  darf  als  die  Mathematik  der  Geistes- 
wissenschaften, und  vornehmlich  für  die  Ethik  als  ihre 
Mathematik  bezeichnet  werden. 

Wenn  dieser  Gedanke  seine  methodische  Richtigkeit  be- 
währt, so  erötTnet  sich  der  Ethik  eine  sichere  Grundlage  für  die 
Ermittelung  und  Begründung  des  BegritTs  vom  Menschen,  welche 
ihr  Problem  ist.  Alsdann  wird  das  Gebiet  des  Menschen  von 
der  Unsicherheit  und  Unklarheit  befreit,  mit  denen  dasselbe  be- 
haftet sein  muss,  wenn  es  vorwiegend  auf  die  Religion  be- 
zogen wird,  in  welcher  das  Verhältnis  des  Menschen  zu  einem 
andern  grundlegenden  Begriffe  aufgebaut  wird.  Hier  dagegen 
handelt  es  sich  nur  um  den  Menschen.  Denn  dass  es  sich  auch 
um  Menschen  handelt,  das  bildet  keinen  Widerspruch  und 
keinen  Gegensatz;  vielmehr  fordert  der  Begriff  des  Menschen  die 
Menschen. 

Allgemein  wird  darin  die  Schwäche  der  Ethik  gesehen, 
dass  sie  sich  nicht  auf  den  Rückhalt  einer  Wissenschaft  berufen 
kann.  Daher  hat  der  Ausdruck  der  moralischen  Gewissheit 
einen  geringschätzigen  Sinn.  Man  nimmt  deshalb,  wenn  man 
nicht  grundsätzlich  auf  die  Religion  sich  zurückzieht,  zur  Psycho- 
logie eines  moralischen  Sinnes  oder  zur  Aesthetik  eines 
moralischen  Gefühls  seine  Zuflucht;  auf  die  Wissenschaft 
resigniert  man.  Allenfalls  ist  man  froh,  sich  hinterher  zu  einiger 
Bestätigung  ethischer  Annahmen  ihrer  Zustimmung  versichern 
zu  können.  Selbst  Kant,  der  das  der  Mathematik  entsprechende 
Analogon  eines  Faktums  suchte  und  forderte,  hat  es  nicht  in 
einer  Wissenschaft  gefunden.  Er  hielt  die  Rechtslehre  von  der 
Sittenlehre  getrennt,  und  stellte  für  beide  besondere  metaphysische 
Anfangsgründe  auf. 

Das  Letztere  mag  immerhin  nicht  unzweckmässig  sein,  sofern 
die  Rechtsphilosophie  als  eine  Disciplin  mit  der  vollen  Entfaltung 
und  Entwickelung  der  Rechtsprobleme  und  Rechtsbegriffe  sich 
zu  befassen  hat.  Wenn  aber  der  systematische  Zusammenhang 
der  Rechtsphilosophie  nicht  auf  die  Logik  beschränkt  werden 
darf,  wenn  sie  vielmehr  auf  Schritt  und  Tritt  mit  den  Problemen 


h4  Das  Naturrecht. 


und  Begriffen  der  Ethik  zusammenstösst,  so  begreift  es  sich^ 
dass  die  Rechtsphilosophie  auf  dem  Grunde  der  Ethik  mehr 
oder  weniger  bewusst  errichtet  und  behauptet  wird.  Ist  es 
doch  der  alte  Zusammenhang  des  positiven  Rechts  mit 
dem  Naturrecht,  der  immer  wieder  durchbricht.  Und  wie 
sehr  man  das  Naturrecht  bestreiten,  oder  gar  durch  den  Ersatz 
eines  richtigen  Rechts  ersetzen  zu  können  vermeint,  so  wird 
durch  solches  Anstürmen  das  Vernunftrecht,  welches  dem  Ge- 
danken des  Naturrechts  beiwohnt,  wobei  von  dessen  Ausführung 
ganz  abgesehen  werden  darf,  nur  desto  inniger  bekräftigt.  Der 
sittliche,  man  möchte  sagen,  der  heilige  Wert  dieses  weltge- 
schichtlichen Princips  wird  gerade  durch  alle  jene  Opposition 
nur  um  so  kräftiger  einleuchtend  und  eindringlich  gemacht. 

Der  Gedanke  des  Naturrechts  beruht  auf  dem  altgriechischen 
Urgedanken  der  ungeschriebenen  Gesetze  (ä^patpos  vd|i.oi).  Wie 
früh  man  auch  zur  schriftlichen  Festsetzung  von  Grundgesetzen 
geschritten  ist,  so  hat  man  doch  das  Bedürfnis  gefühlt,, 
von  allem  Schriftlichen  eine  Urform  der  Gesetzlichkeit  abzu- 
sondern, und  diese  zur  Grundlage  aller  Gesetzlichkeit  zu  machen. 
Es  muss  zugestanden  werden,  dass  dieser  Gedanke  mit  der  grie- 
chischen Religion  zusammenhängt;  aber  es  ist  nicht  die  Religion 
des  Kultus,  sondern  die  der  Sittlichkeit,  welche  in  diesen  primi- 
tiven Zeiten  mit  den  Anschauungen  über  Staat  und  Recht  zu- 
sammenwirkt. 

Bald  halte  dieses  eigene  Motiv  der  griechischen  Sittlichkeit 
unmittelbaren  praktischen  Nutzen  zu  stiften.  Die  Sophistik  brach 
herein,  und  sie  machte  aus  dem  Nomos,  der  bei  Pindar  der 
König  hiess,  den  Tyrannen  der  Konvention  und  der  Mode.  Da 
vertrat  das  ungeschriebene  Gesetz  die  ewige  Grundlage  der  Natur 
und  der  Wahrheit.  Es  macht  dem  Euripides  keine  Ehre,  dass 
auch   ihm  die  ungeschriebenen  Gesetze   nicht  sympathisch  sind. 

Seit  Sokrates  ging  die  Philosophie  ihre  eigenen  Wege, 
jenen  Ursinn  der  griechischen  Sittlichkeit  genauer  zu  bestimmen. 
Je  mehr  aber  der  klassische  Geist  der  Philosophie  verfiel,  desta 
mehr  klammerte  man  sich  wieder  an  das  Zauberwort  der  Natur^ 
in  welchem  damals  der  Gegensatz  ausgesprochen  wurde  gegen 
die  Satzung  der  l^ebereinkunft  und  der  Willkür.  So  wurde  in 
der   Stoa   die   Natur   zu  einem  Terminus    für  die  Bezeichnung 


Das  Uebersinnliche.  55 

Der  Wert  der  aesthetischen  Gefühle  liegt  in  der  eigenen 
Reinheit  und  Selbständigkeit  der  Werke  der  Genies.  Die  Kunst 
des  Genies  aber  geht  ihre  eigenen  Wege,  wie  sehr  sie  immer 
mit  der  Religion  sich  zu  verbinden  scheinen  mag.  Die  wahre 
Kunst  wird  niemals  der  Religion  dienstbar;  sie  bemächtigt  sich 
vielmehr  nur  des  religiösen  StolTs,  wie  des  mythischen  überhaupt, 
um  ihn  mit  ihren  eigenen  Mitteln  zu  ihren  eigenen  Zwecken 
und  zu  ihrem  eigenen  Inhalt  zu  gestalten.  Die  Kunst  wird  nicht 
von  der  Religion  abhängig,  wohl  aber  umgekehrt  die  Religion 
von  der  Kunst.  Dadurch  aber  wächst  die  Gefahr  der  Religion. 
Denn  sie  befestigt  sich  dadurch  im  Mythos,  von  dem  sie  durch 
die  Freiheit  der  Poesie  scheinbar  abgelöst  wird.  In  der  Kunst 
aber  tritt  sie  in  einen  neuen  Zauber  ein,  der  sie  für  das  Sitt- 
liche befangen  macht. 

Das  ist  ja  die  grosse  Macht  der  Kunst,  dass  sie  ihren  (iC- 
bilden  die  Illusion  der  Wirklichkeit  verleiht.  Da  nun  aber  die 
Religion,  w*ie  sie  sich  mit  der  Kunst  im  Kultus  verbindet,  das 
Verhältnis  zwischen  Gott  und  Mensch  zu  künstlerischer  Dar- 
stellung bringt,  so  zieht  sie  das  Uebersinnliche  in  die 
Reize  der  aesthetischen  Sinnlichkeit  hinein,  und  so  begibt 
sie  sich,  wie  freiwillig,  in  die  Urzeit  des  Mythos  zurück.  Die 
Kunst  gibt  ihr  das  seelische  Geleit.  Der  Abstand  der  Religion 
von  der  Ethik,  sofern  diese  auf  der  Verbindung  des  praktischen 
und  des  theoretischen  Interesses  berufit,  wird  dadurch  weiter 
und  gespannter. 

Indessen  entsteht  aus  der  innerlichen  Verbindung  von 
Religion  und  Kunst  noch  eine  andere  Gefahr,  welche  die  Religion 
für  die  Ethik  bildet.  Die  Kunst  entspricht  einer  eigenen  Richtung 
des  reinen,  erzeugenden  Bewusstseins.  Daher  bildet  die  Aesthetik 
ein  eigenes  Glied  des  philosophischen  Systems.  Diese  Kligenart 
lässt  sich  wiederum  nicht  ausschliesslich,  nicht  methodisch  durch 
Psychologie  entwickeln.  Vom  psychologischen  Gesichtspunkte 
aus  würde  man  denken  können,  die  Kunst  gehe  aus  einem  Kunst- 
triebe hervor,  wie  er  sich  auch  bei  den  Tieren  schon  zeige. 
Daher  scheint  unser  deutsches  Wort  so  bezeichnend:  Kunst  ist 
Können;  das  Vermögen  zu  schaffen  und  zu  bilden.  Bilder 
zu  entwerfen  und  zu  gestalten,  welche  im  Scheine  der  Wirk- 
lichkeit mit  der  Natur  wetteifern. 


66  Ethik  und  Rechtswissenschaft. 


Es  hat  sich  nun  aus  dieser  Verbindung,  welche  insbesondere 
bei  Hugo  zwischen  dem  Naturrecht  und  der  Kantischen  Philo- 
sophie sich  vollzog,  die  historische  Rechtsschule  e^ltwickelt, 
die  an  und  für  sich  daher  keineswegs  einen  Widerspruch,  oder 
auch  nur  einen  Gegensatz  gegen  die  naturrechtliche  Ansicht  bildet. 
Wenn  man  die  Rechtswissenschaft  nicht  borniert  auf  die  Tech- 
nik der  Auslegung  bestehender  Gesetze;  wenn  man  auch  die 
Wissenschaft  der  Gesetzgebung  in  ihr  anerkennt,  so  wird 
man  niemals  den  Geist  verleugnen  dürfen,  der  in  dem  alten 
Worte  des  Naturrechts  einen  Ausdruck  gefunden  hat.  Es  kann 
keine  Rechtswissenschaft  sich  ausdenken,  auf  ihre  letzten  Gründe 
sich  zurückdenken  lassen,  die  den  Zusammenhang  mit  der  Ethik 
verschmäht.  Das  Recht  des  Rechtes  ist  das  Naturrecht 
oder  die  Ethik  des  Rechts. 

Indessen  besinnen  wir  uns,  wie  wir  auf  die  bedenkliche 
Frage  des  Naturrechts  hier  zu  sprechen  kamen;  es  geschah  in 
dem  Gedankengange,  dass  die  Ethik  überall  von  aller  Wissen- 
schaft verlassen  schien;  dass  Kant  selbst  das  Naturrecht  von 
der  Ethik  abtrennte.  Wir  wollen  nun  aber  nicht  sowohl  von 
dem  Naturrecht  und  der  Rechtsphilosophie  hier  ausgehen,  sondern 
von  der  Ethik.  Die  Ethik  aber  soll  uns  nicht  zum  Naturrecht 
zurückführen,  sondern  zur  positiven  Rechtswissenschaft. 

Ob  dabei  und  darin  Rechtsphilosophie,  und  somit  eine 
neue  Art  von  Naturrecht  entstehen  kann,  das  mag  für  jetzt  auf 
sich  beruhen.  Hier  gilt  es,  dies  ins  Auge  zu  fassen,  dass  durch 
die  Hinweisung  der  Ethik  auf  die  Rechtswissenschaft  das  ge- 
suchte Analogon  eines  theoretischen  Faktums  gefunden  wird. 
So  wird  die  Ethik  von  ihrer  exklusiven  Bezogenheit  auf  Religion, 
Psychologie  und  auf  inexakte  Sammel Wissenschaften  freigemacht; 
und  die  Möglichkeit  einer  erkenntnissmässigen  Gewissheit  wächst 
ihr  damit  zu.  Die  moralische  Gewissheit  erlangt  theoretischen  Wert. 

Es  kann  für  einen  modernen,  sozial-ethisch  gestimmten 
Geist  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Verbindung  der 
Ethik  mit  der  Rechtswissenschaft  förderlich  und  notwendig 
ist.  Dass  dabei  die  sogenannten  übersinnlichen  Interessen  zu 
kurz  kämen  und  geschädigt  würden,  dieses  Bedenken  wird  nicht 
ernstlich  dagegen  aufkommen  können.  Das  wissenschaftlich 
Ernsthafte    an    diesen  Fragen  dürfte    in    dieser  Gesellschaft   der 


Religion  und  Politik.  57 

analog  der  Natur,  die  Objekte  der  Erkenntniss  zu  bilden  haben; 
der  ethischen,  wie  die  Tatsachen  der  Natur  die  Objekte  der 
theoretischen  Erkenntniss  bilden. 

Bevor  wir  diesen  Gedanken  weiter  verfolgen,  wollen  wir 
die  Betrachtung,  welche  die  Religion  betraf,  nunmehr  fortsetzen. 
Jetzt  haben  wir  die  neue  politische  Schöpfung  kennen  gelernt, 
mit  welcher  die  Religion  von  Anfang  an  Verbindungen  einzu- 
gehen sucht,  die  für  Beide,  für  die  Religion,  wie  für  den  Staat, 
unablässige  Kollisionen  und  Konflikte  mit  sich  führt;  schwere, 
bittere  Kämpfe,  an  denen  bald  die  Religion,  bald  der  Staat  zu 
verbluten  droht.  An  dieser  Stelle  soll  jedoch  nur  die  Schwierig- 
keit erwogen  werden,  welche  aus  jener  Verbindung  der  Re- 
ligion mit  der  Politik  für  die  Ethik  entsteht. 

Von  Anfang  an  hatten  wir  gesehen,  dass  es  sich  in  der 
Ethik  um  den  Begrifl"  des  Menschen  handelt;  dass  für  diesen 
Begriff  aber  es  ankomme  auf  die  richtige  Correlation  zu  dem 
Begritfe  des  Individuums.  Die  Mehrheit,  als  Besonderheit,  bildet 
nicht  das  entsprechende  Correlat;  vielmehr  nur  die  Allheit.  Es 
niuss  nun  darauf  ankommen,  welche  der  konkurrierenden 
Mächte,  die  Religion  oder  der  Staat,  die  richtige  Allheit  zu  liefern 
vermag. 

Dem  oberflächlichen  Scheine  und  dem  lauten  Ansprüche 
nach  will  die  Religion  alle  Besonderheit  aufheben  und  alle 
Menschen  in  eine  Allheit  vereinigen.  Der  Staat  dahingegen 
scheint  dieser  Allheit  Widerstand  zu  leisten,  indem  er  die  Viel- 
heit der  Völker  in  der  Fartikularität  der  Staaten  stabiliert. 
lndes.sen  schränkt  der  Staatsbegriff  diesen  Fartikularismus  durch 
ilas  Völkerrecht  und  durch  den  Staatenbund  wohl  oder  übel 
ein.  So  korrigiert  sich  die  scheinbar  unumgängliche  Besonder- 
heit in  dem  Plan  einer  Allheit,  der  mit  der  Methodik  des  Rechts 
entworfen  wird.  Man  denke  sich  dementsprechend  einen  Bund 
der  Religionen.  Der  Gedanke  scheint  einer  satyrischen  Utopie 
anzugehören. 

Warum  aber  ist  eine  solche  mit  der  eigenen  Methodik  der 
Religion  herbeizuführende  Verbindung  der  Religionen  ein  unmög- 
licher Gedanke,  an  dessen  Stelle  nur  die  Toleranz  und  der- 
gleichen Schlafmittel  treten  können?  Weil  die  Religion  eben  den 
Anspruch  auf  Wissen  erhebt;  weil  sie  das  Wissen  vom  Menschen 


68  Der  Wille  und  die  Handlung. 

strittig  sein;  das  Problem  des  Willens  muss  aufrecht  bleiben, 
oder  man  müsste  dem  Begriffe  der  Obligation  entsagen.  Die 
Verpflichtung  geht  auf  den  Willen. 

Der  Wille  ist  auch  mehr  als  bloss  Gesinnung,  was 
freilich  Voluntas  auch  ist.  Die  Gesinnung  ist  ein  Inneres,  das 
Innere  überhaupt.  Damit  ist  ein  tiefes  Moment  des  Willens  ge- 
troffen; aber  seine  eigentliche  Quelle  ist  dadurch  nicht  be- 
leuchtet. Sein  Weg,  seine  Laufbahn  wird,  zwar  nicht  klar  und 
unzweideutig,  aber  in  einer  gewissen  Richtung  durch  dieses 
fromme  Wort  allerdings  bezeichnet;  indessen  die  eigentliche 
Triebkraft  des  Willens  wird  durch  den  Hinweis  auf  das  Innere 
dennoch  gehemmt.  Der  Wille  geht  auf  das  Aeussere,  und 
nur  in  dieser  Selbstentausserung  vermag  er  sich  zu  entfalten  und 
zu  vollziehen.    Der  Wille  muss  Handlung  werden. 

Handlung  ist  das  Grundproblem  der  Ethik.  In  der 
Handlung  ofienbart  sich  der  Mensch.  Die  Handlung  ist  das 
Leben  des  sittlichen  Menschen.  Und  die  Handlung,  wir  sahen 
es  schon,  ist  gleichsam  zum  Ausdruck  des  Rechts  geworden. 
Die  Rechtshandlung  wird  beglaubigt  durch  die  Prozesshandlung. 
In  allem  Recht,  im  Privatrecht  ebenso,  wie  im  Strafrecht,  bildet 
der  Begriff  der  Handlung  die  durchgängige  Voraussetzung.  Sie 
beruht  freilich  auf  der  des  Willens,  aber  sie  fällt  nicht  mit  ihr 
zusammen. 

Die  eigentliche  Schwierigkeit  in  dem  Problem  der  Hand- 
lung besteht  in  der  Möglichkeit  ihrer  Zusammenfassung 
aus  den  einzelnen  Momenten,  aus  denen  sie  sich  zusammen- 
setzt. Die  Frage  ist  eben,  ob  sie  sich  aus  solchen  einzelnen  Bei- 
trägen zusammensetzen  lässt,  ob  sie  nicht  vielmehr  in  diese  zer- 
fallt. Es  gibt  doch  keine  Handlung,  schon  im  gewöhnlichen 
Sinne,  geschweige  in  dem  der  Rechtsgeschäfte,  welche  nicht  aus 
einer  schier  unübersehbaren  Menge  von  Ansätzen  und  Fortsätzen 
bestände.  Es  gibt  doch  keine  Handlung,  welche  blitzartig  auf- 
tauchte und  verliefe.  £iner  solchen  scheinbaren  Handlung  wird 
vielmehr  der  Charakter  einer  unwillkürlichen,  einer  Reflex- 
bewegung zuerteilt.  Man  kann  daher  sagen,  das  ganze  Problem 
der  Psychologie  komme  hier  zur  Erscheinung. 

In  aller  Psychologie  ist  eigentlich  nichts  Anderes  die 
Frage  als:  wie  Einheit  begreiflich  werde  bei  und  an  dieser 


Die  Einheit  der  Handlung  69 

wirren,  so  muss  es  scheinen,  Mannichfaltigkeit  von  Vorgängen 
und  Elementen;  wie  die  Einheit  des  menschlichen  Bewusstseins 
dabei  möglich  werde.  Sie  also  ist  überall  das  eigentliche  Pro- 
blem. So  ist  sie  es  vornehmlich  auch  in  der  Handlung.  Bliebe 
die  Bew^egung  in  diesen  atomistischen  Ansätzen  hängen,  so 
könnte  sie  nimmermehr  zur  Handlung  sich  ausweiten  und  sich 
verdichten.  Die  Ausdehnung  ist  zunächst  notwendig;  aber  sie 
darf  nicht  ein  Hangen  und  Schweben  bleiben;  sie  muss  Festig- 
keit und  Halt  gewinnen.  Diesen  Halt  und  Zusammenhang  kann 
nur  ein  Begriff  geben:  der  alte  Grundbegriff  der  Einheit.  Die 
Handlung  muss  Einheit  der  Handlung  werden.  Die  Ein- 
heit der  Handlung  macht  den  Begriff  der  Handlung  aus. 

Mit  dem  Begriffe  der  Einheit  eröffnet  sich  uns  sogleich  der 
Zusammenhang  der  Rechtswissenschaft  nicht  allein  mit 
der  Ethik,  sondern  auch  mit  der  Logik.  Nur  die  Logik  kann 
lehren,  was  die  Einheit  zu  bedeuten  hat;  dass  sie  vor  Allem  nicht 
mit  der  Einzelheit  verwechselt  werden  darf.  Und  so  zeigt  sich 
an  diesem  fundamentalsten  Begriffe  die  Voraussetzung,  welche 
die  Logik  für  die  Ethik  bildet.  Hier  kommt  es  uns  nun 
auf  die  Einsicht  an,  dass  die  Einheit  der  Handlung  eine  Voraus- 
setzung des  Rechts  bildet. 

Wir  werden  später  diese  Einheit  der  Handlung  eingehend 
zu  erörtern  haben;  hier  sei  nur  darauf  hingewiesen,  dass  von 
dieser  Einheit  der  Handlung  alle  die  anderen  Einheiten  abhängen, 
mit  denen  die  Rechtswissenschaft  operieren  muss.  Da  ist  vor 
Allem  die  Einheit  des  Rechtsobjekts,  welche  das  Rechts- 
geschäft voraussetzt.  Wie  alle  Objekte,  als  Körper  der  Natur- 
wissenschaften, in  Relationen  sich  vollziehen  und  in  ihnen  be- 
stehen, so  ist  dies  für  die  Rechtsobjekte  unmittelbar  erkennbar. 
In  den  Rechtsgeschäften,  welche  in  den  Verhältnissen  des  Ver- 
kehrs und  der  Verträge  geschlossen  werden,  wird  das  Rechts- 
objekt constituiert.  Die  Einheit,  welche  der  Begriff  dieses  Objekts 
erfordert,  besteht  in  dem  Relations-Charakter  dieser  Obligationen. 
Die  Einheit  der  Handlung  vollzieht  und  begründet  die 
Einheit  des  Objekts. 

Ebenso  geht  aber  auch  die  Einheit  des  Rechtssubjektes 
aus  der  Einheit  der  Handlung  hervor,  und  hat  in  ihr  ihren 
tiefsten  Grund.    Es   steht   vor  Allem   ausser  Zweifel,   dass  mehr 


70  Die  Einheit  des  Rechtssubjektes. 


noch  als  das  Rechtsobjekt  das  Rechtssubjekt  das  eigentliche 
Problem  der  Rechtswissenschaft  bildet.  Es  ist  für  alle  Rechts- 
geschäfte nicht  nur  der  Inhalt,  auf  den  sie  alle  hinzielen;  es  ist 
zugleich  der  Quellgrund,  aus  dem  sie  alle  herfliessen  und  her- 
geleitet werden  müssen.  Planmässiges,  zielbewusstes  Denken  hat 
die  Handlung,  hat  das  Rechtsgeschäft  zur  Voraussetzung.  Diese 
Voraussetzung  beschränkt  sich  nicht  auf  das  Problem  der  Hand- 
lung; sie  erstreckt  sich  auf  den  Träger,  auf  den  Urheber  dieser 
Handlung. 

Und  wenn  auch  nur  der  Träger  in  Frage  käme,  in  dem 
alle  Fäden  des  Rechtsgeschäfts  zusammenlaufen,  so  wäre  das 
Subjekt  schon  unerlässlich;  wieviel  mehr,  da  es  sich  in  der  Tat 
in  eminenten  Fällen  um  den  Urheber  handelt.  Macht  doch  das 
Recht  sogar  noch  besondere  materielle  Erschwerungen  für  den 
Begriff  des  Rechtssubjektes,  indem  es  z.  B.  den  Sklaven  als 
Menschen  zwar  anerkennt,  nicht  aber  als  Person.  Und  die 
Person  erst  bildet  das  Rechtssubjekt.  So  unverkennbar  ist 
es,  dass  das  Recht  in  einem  strengen  und  praegnanten  Sinne  den 
Begriff  des  Rechtssubjekts  fordert.  Und  zugleich  ist  schon  aus 
diesem  Beispiel  ersichtlich,  dass  es  die  Handlung  sei,  von  welcher 
das  Rechtssubjekt  abgeleitet,  und  mit  der  es  verknüpft  wird. 

Das  Rechtssubjekt  muss  Einheit  des  Subjekts  sein. 
Es  ist  kein  Subjekt  ohne  Einheit  denkbar.  Man  könnte  sich  vor- 
stellen, dass  es  dem  Objekt  an  Einheit  gebräche;  Subjekt  und 
Einheit  aber  decken  sich  vollständig.  Nun  haben  wir  schon 
überlegt,  wie  schwer  es  der  Psychologie  werden  mag,  aus  der 
übergrossen  Mannichfaltigkeit  der  psychischen  Vorgänge  die  Ein- 
heit des  Bewusstseins,  und  in  ihr  die  Einheit  des  Subjekts  fest- 
zustellen. Und  doch  ist  diese  das  letzte  Anliegen  der  Ethik. 
Wäre  es  da  nicht  ein  grosser  methodischer  Vorteil,  wenn  die 
Ethik  für  dieses  ihr  centrales  Problem  nicht  lediglich  auf  die 
Psychologie  angewiesen  wäre,  und  allenfalls  noch  auf  die  Theologie 
für  die  Abnormität  des  Bewusstseins  der  Sünde,  wie  auf  eine 
ethische  Pathologie;  wenn  sie  vielmehr  für  alle  Normalität 
und  Abnormität  das  Ich  von  der  Einheit  des  Rechts- 
subjekts ableiten  könnte. 

Nun  stellt  sich  hier  aber  gerade  eine  schwere  Bedenklich- 
keit entgegen.    Das  Recht  fordert  zwar  die  Einheit  des  Subjekts, 


Die  Associationen.  71 

and  es  muss  ihr  gelingen,  für  alle  Rechtsgeschäfte  dieselbe  durch- 
zusetzen; anderenfalls  würde  der  Begriff  des  Rechtsgeschäfts  hin- 
fällig. Eine  Rechtshandlung  lässt  sich  nicht  in  Teile  zerbrechen; 
und  das  Rechtssubjekt  lässt  sich  nicht  in  zwei  Inhaber  spalten. 
Nun  besteht  aber  nicht  bloss  ein  grosser  und  ein  wichtiger,  sondern 
ein  fundamentaler  und  epochemachender  Teil  der  Rechtsgeschäfte 
in  den  Associationen.  Wer  ist  in  diesen  Verbindungen,  welche 
in  vielartige  rechtliche  Bedeutungen  auseinandergehen,  wer  ist  in 
den  Mehrheiten,  in  denen  jede  dieser  Verbindungen  besteht,  die 
Einheit  des  Subjekts?  Scheint  es  nicht,  als  ob  die  Einheit  dabei 
in  die  Brüche  gehen  müsste;  als  ob  das  Ich  nicht  nur  zu  einem 
pathologischen  Doppel-Ich,  sondern  anscheinend  normalerweise 
in  ein  Quoten-Ich  verwandelt  würde?  Kann  denn  aber  ein 
Sammel-Ich  der  Einheit  des  Subjekts  gerecht  werden  und  ent- 
sprechen? 

Hier  zeigt  sich  nun  der  entscheidende  Wert,  den  wir  in  der 
Verbindung  der  Ethik  mit  der  Rechtswissenschaft  zu  erkennen 
haben.  Wir  sind  ja  von  vornherein  darauf  bedacht  gewesen, 
die  Correlation  von  Individuum  und  Allheit  all  das  eigentliche 
Problem  der  Ethik  zu  erkennen.  Das  ethische  Subjekt  muss 
also  zugleich  Allheit  und  Individuum  sein.  Der  Mensch  der 
Ethik  darf  nicht  nur  als  Individuum  gelten.  So  mag  ihn  die 
Religion  nehmen,  die  ihn  mit  einem  auswärtigen  Begriffe  ver- 
bindet. Wenn  anders  die  Ethik  dagegen  jeden  ihrer  Methodik 
fremden  Begriff  zu  vermeiden  hat,  um  den  Begriff  des  Menschen 
zu  finden,  so  ist  sie  von  vornherein  auf  die  Mehrheit  hingewiesen, 
in  welcher  allerwärts  der  Mensch  sich  darstellt. 

Es  ist  nur  Schein,  dass  er  lediglich  Individuum  wäre;  wenn 
er  es  ist,  und  so  weit  er  es  ist,  kann  er  es  nur  darin  und  da- 
durch sein,  dass  das  Individuum  vielmehr  die  Individuen  sind. 
Die  Mehrheit  kann  von  ihm  nicht  hinweggedacht  werden.  Es 
kommt  nur  darauf  an,  dass  die  Mehrheit  nicht  Mehrheit,  näm- 
lich nicht  Besonderheit  bleibe,  sondern  dass  sie  Allheit  werde. 
Wo  gibt  es  denn  aber  ein  Beispiel  für  diese  Allheit  in 
der  geschichtlichen  Menschenwelt?  Ist  man  nicht  auf  die 
Idee  der  Menschheit  dabei  verwiesen?  Und  kann  man  sich  nicht 
noch  glücklich  dabei  schätzen,  dass  die  Einheit  des  Menschen- 
geschlechts   durch    die  Rassenphilosophie    zwar    verhasst^   aber 


72  Die  Gemeinschaft. 


keineswegs  hinfallig  und  zu  nichte  gemacht  wird?  Muss  man 
sich  aber  wirklich  mit  der  Idee  der  Menschheit,  als  dem  Bei- 
spiel und  nicht  lediglich  dem  Vorbild  der^  Allheit  begnügen? 

Seit  alten  Zeilen  spielt  der  Begriff  der  Gemeinschaft  eine 
grosse  Rolle  in  allem  sittlichen  und  religiösen  Denken.  Gemein- 
schaft (xoivcDvia)  ist  ein  wichtiger  logischer  Begriff  in  Piatons 
Ideenlehre.  Und  ehe  die  Religion  zur  Kirche  wurde,  wurde  sie 
ja  als  Versammlung  die  Gemeinde.  Die  Gemeinde  der 
Betenden  und  das,  Wort  Gottes  Hörenden  war  die  Vorstufe  zur 
Kirche  der  Gläubigen.  So  liegt  für  die  Religion  die  Gemein- 
schaft im  Begriffe  der  Gemeinde.  Man  könnte  daher  annehmen, 
dass  die  Ethik  für  die  Allheit  in  dieser  Gemeinschaft  der  Glau- 
bensgemeinde ihr  geeignetes  Beispiel  besässe.  Indessen  haben 
unsere  früheren  Erwägungen  uns  schon  hiergegen  bedenklich 
gemacht.  Der  kirchlichen  Gemeinschaft  steckt  der  Sonderbund 
im  Blute.  Das  gerade  ist  das  böse  Beispiel,  vor  dem  die  Ethik 
sich  zu  hüten  hat.  Und  neuerdings  hat  ein  juristisches  Buc^  es 
zum  Erschrecken  klargestellt,  was  dabei  herauskommt,  weÄn 
man  die  Gemeinschaft,  von  biblischen  Zitaten  geleitet,  in  ein 
Gefüge  von  immer  nur  relativen  Gemeinschaften  auflöst.  Solche 
relative  Sonder -Gemeinschaften  sind  eben  nichts  Anderes  als 
Besonderheiten.  Aus  ihnen  kann  nimmermehr  eine  Allheit 
werden. 

Dahingegen  führen  uns  die  juristischen  Associationen 
auf  den  richtigen  Weg.  Schon  geschichtlich  haben  sie  ihre  sitt- 
liche Mission  bewährt,  und  noch  keineswegs  vollendet.  Die  So- 
cietas  ist  zunächst  zwar  ein  Kompagnie-Geschäft;  aber  ihi*  Titel 
weist  auf  die  Societas  und  Socialitas  des  Menschengeschlechts 
hin.  Es  hängt  Brüderlichkeit  (fraternitasj  an  ihr,  das  spricht 
ein  altes  Wort  des  römischen  Rechts  aus.  Und  so  ist  die  So- 
cietas nicht  sowohl  zur  Gemeinschaft  geworden  in  der  neuern 
Zeit;  es  ist  bedeutsam,  dass  dieses  Wort  nicht  gewählt  wurde; 
die  Community  ist  dem  administrativen  Gemeinwesen  vor- 
behalten worden;  aber  die  Gesellschaft  hat  im  Sturmlauf  der 
Revolution,  und  mehr  noch  im  langsamen  Lauf  der  geschicht- 
lichen Hören  die  sittliche  Erziehung  des  Menschengeschlechts 
auf  sich  genommen.  Unter  der  Devise  der  sozialen  Idee 
wird    die   Reformation   der   Staaten    angebahnt.     Vorauf- 


Die  Allheit  und  die  juristische  Person.  78 


gegangen  aber  ist  ihr  und  geht  ihr  die  juristische  Methodik  und 
Technik  im  Begriffe  der  Societas. 

Wir  werden  diesen  wichtigen  Punkt  eingehend  zu  bestimmen 
und  zu  beleuchten  haben.  Hier  sei  es  genug,  darauf  hinweisen 
zu  können,  dass  in  der  juristischen  Association  aller  Art  es  doch 
mehrere,  viele,  ja  bisweilen  nicht  abzählbar  viele  Subjekte  sind, 
welche  an  dem  Rechtsgeschäfte  teilnehmen  und  an  dem  Rechts- 
institute teilhaben.  So  könnte  es  scheinen,  dass  dabei  die  Ein- 
heit des  Rechtssubjektes  unmöglich  würde,  ja  als  ob  sie  geradezu 
ausgeschlossen  werden  sollte;  was  freilich  dem  Begriffe  des 
Rechts  und  der  Rechtshandlung  widersprechen  würde.  Es  stellt 
sich  demgemäss  vielmehr  heraus,  dass  auf  Grund  dieser 
Mehrheit  die  wahrhafte  Einheit  des  Rechtssubjektes  zu  stände 
kommt. 

Der  scheinbare  Widerspruch  wird  dadurch  gehoben,  dass 
diese  Mehrheit  nicht  Mehrheit,  sondern  Allheit  ist.  Allheit  aber 
bildet  keinen  Widerspruch  zur  Einheit,  sondern  zur  Einzelheit, 
welche  eben  der  Mehrheit  angehört.  Allheit  ist  selbst  höchste 
Einheit  wie  solche  von  der  Ethik  gefordert  wird.  Das  sittliche 
Individuum  soll  nicht  eine  partikulare  Einzelheit  bleiben;  sondern 
kraft  der  Allheit,  in  die  es  eingegliedert  wird,  zur  Einheit  des 
sittlichen  Individuums  erhoben  werden. 

Die  juristische  Person  wird  als  moralische  Person 
bezeichnet.  In  diesem  Worte  soll  freilich  nur  die  nicht  natürliche 
Wirklichkeit  der  Personen  zum  Ausdruck  kommen.  Lehrreich 
ist  es  aber,  dass  der  Begriff  der  juristischen  Person  erst  spät  in 
der  Entwickclung  der  Rechtswissenschaft  auftritt.  Auch  ist  es 
anerkannt,  dass  seine  Ausbildung  im  neueren  Rechte,  über  die 
frommen  Stiftungen  des  römischen  Rechts  hinaus,  mit  der  mo- 
dernen Entwickelung  der  Sittlichkeit  und  so  wohl  auch  der  Ethik 
zusammenhängt.  Auch  das  ist  lehrreich,  dass  die  Familie 
niemals  als  juristische  Person  definiert  wird,  obwohl  sie  doch 
von  allem  sittlichen  Nimbus  umgeben  ist.  Sollte  etwa  gerade 
ihre  Natürlichkeit  die  Fiktion  der  juristischen  Person  ver- 
scheucht haben? 

Wir  werden  später  im  Zusammenhange  mit  dem  Begriffe 
des  Volks  diese  Frage  zu  erörtern  haben.  Hier  sei  nur  her- 
vorgehoben,  dass   gerade   eine   natürliche   Corporation,    die  zur 


74  Die  Allheit  und  der  Staat. 


Einheit  eines  menschlichen  Wesens  und  zur  Personifikation  so 
viele  scheinbar  sittliche  Veranlassung  bietet,  dennoch  diese 
juristische  Definition  nicht  erfahren  hat.  Rein  abstrakte  Ver- 
hältnisse, Genossenscbaftsbildungen  dagegen  haben  diese 
Personifikation  herausgefordert.  Wie  sehr  diese  freilich  auch 
Besonderheiten  des  Erwerbslebens  darstellen,  so  beruhen  sie 
doch  auf  der  logischen  Zusammenfassung  der  Allheit,  wenn 
anders  ihnen  die  Konstituierung  eines  Rechtssubjektes  gelingen 
soll. 

Die  Fiktion,  wie  sie  genannt  wird,  ist  vielmehr  logische 
Fixierung.  Die  juristische  Person  entfernt  sich  von  dem  sinn- 
lichen Vorurteil  der  Einzelheit  und  ihrem  Charakter  der  Mehr- 
heit; sie  constituicrt  sich  auf  Grund  der  Allheit  als  Einheit  des 
Rechtssubjektes.  Dieses  Beispiel,  welches  die  Rechtswissenschaft 
der  Ethik  darreicht,  ist  mehr  als  ein  Beispiel;  es  ist  ein  Vor- 
bild, wie  solches  anderwärts  in  keiner  Form  des  Altruismus 
gefunden  werden  kann.  Wir  werden  das  später  genau  zu  prüfen 
haben. 

Endlich  hat  das  Recht,  als  Staatsrecht,  im  BegrilTe  des 
Staates  die  Einheit  einer  Allheit  zustande  gebracht,  welche  als 
das  unmittelbare  Vorbild  der  ethischen  Persönlichkeit  gelten 
muss.  Wir  waren  davon  ausgegangen,  dass  Plato  die  Seele  des 
Menschen  gleichsam  in  der  Seele  des  Staates  der  Untersuchung  dar- 
bietet. Die  Staatsseele  wird  ihm  eine  neue  Art  von  Weltseele. 
Diesen  grossen  Gedanken  haben  die  Zeiten  und  Weltalter  in  sich 
aufgenommen,  und  sie  haben  ihm  je  nach  den  verschiedenen 
Weltlagen  neue  Bedeutungen  abgewonnen. 

Das  Grundmotiv,  das  überall  den  Gärungsstoff  bildete, 
das  war  der  paradoxe  Gedanke:  der  Mensch  ist  nicht  das,  was 
er  in  seinem  sinnlichen  Selbstgefühle  zu  sein  glaubt;  in  seinem 
Staate  vielmehr  atmet  erst  seine  individuelle  Seele  auf.  Das 
ist  die  grosse  Paradoxie,  auf  die  man  wohl  den  heiligen  Spruch 
übertragen  kann:  Erfüll'  davon  Dein  Herz,  so  gross  es  ist.  Man 
darf  vielleicht  hinzufügen:  dass  gross  es  werde.  Dies  ist  der 
Weg  und  dies  ist  das  Mittel,  das  Selbst  zu  erweitern,  und  den 
BegrifT  des  sittlichen  Menschen  in  ihm  zu  erzeugen. 

Wir  haben  die  Antinomie  von  Gesellschaft  und  Staat 
schon  berührt,  indem  wir  allerdings  sahen,  dass  der  BegrifT  der 


Das  Staatsrecht  und  die  Ethik.  75 

Gesellschaft  der  ungeschichtlichen  und  der  unsittlichen  Vor- 
stellung eines  in  seinen  jeweiligen  Rechten  erstarrten  Staates  mit 
der  sittlichen  Urkraft  der  Societas  entgegentritt.  Aber  in  dieser 
Wirkung  liegt  immer  nur  eine  Bewegung,  eine  notwendige 
Richtung  der  Bewegung;  niemals  aber  wird  durch  sie  Ruhe  und 
Gleichgewicht  bestimmt.  Ohne  die  Voraussetzung  eines  solchen 
wie  immer  idealen  Gleichgewichts  gäbe  es  nicht  nur  keine 
dauernde  und  gesicherte  Vereinigung  von  Menschen,  sondern 
auch  nicht  einmal  die  Einheit  des  menschlichen  Subjektes. 
Daher  muss  die  Gesellschaft,  so  wohltätig  und  so  unersetzlich 
ihre  drangvolle  und  machtvolle  Einwirkung  ist,  dennoch  über 
sich  selbst  hinausgehen;  sich  selbst  aufheben  und  auf  den  Staat 
zusteuern:  in  dem  sie  das  Gleichgewicht  voraussetzt,  das  sie  für 
den  Sinn  ihrer  Bewegungen  voraussetzen  muss.  Wir  können  es 
logisch  einfacher  und  vielleicht  noch  schärfer  ausdrücken,  indem 
wir  die  Gesellschaft  als  die  Besonderheit,  den  Staat  aber 
als  die  Allheit  erkennen,  und  somit  erst  als  Einheit. 

Wir  werden  später  das  Verhältniss  zu  erörtern  haben,  in 
welchem  die  Begriffe  Volk  und  Staat  zu  einander  stehen.  Hier 
wollen  wir  nur  darauf  achten,  dass  wir  die  Einheit  des  Menschen 
nicht  ableiten  wollen  aus  der  etwaigen  Einheit  seines  Volks, 
sondern  aus  der  notwendigen  Einheit  des  Staates,  dem  der  sitt- 
liche Mensch  angehören  muss.  Das  Volk  ist  von  dem  logischen 
Blute  der  Familie;  es  stellt  die  Menschen  in  ihrer  sinnlichen 
Natürlichkeit  dar.  Der  Staat  dagegen  ist  ein  juristischer  Begriff; 
der  Begrift  einer  juristischen  Person;  das  Musterbeispiel  dieses 
Begriffes  für  den  Begriff  des  sittlichen  Menschen.  In  dieser 
Ausbildung  des  Rechts  zum  Staatsrechte  liegt  daher  die 
eminente  methodische  Bedeutung  der  Rechtswissen- 
schaft für  die  Ethik,  mit  welcher  weder  die  Psychologie» 
noch  die  Geschichte  und  die  Sociologie,  noch  auch  die  Religion 
in  der  Praecision  und  Praegnanz  der  Begriffe  auch  nur  entfernt 
sich  vergleichen  lassen  könnten. 

Was  ist  es  denn  im  letztenGrunde,  worauf  Alles  in  der 
Ethik  ankommt?  Von  tröstlichen  Hoffnungen  und  von  Aus- 
schmückungen und  Deutungen  mythologischer  Einbildungen 
dürfen  wir  füglich  absehen.  Nicht  darum  darf  es  der  Ethik  zu 
tun    sein,   was   man   glauben   dürfe,   um   hoffen  und  wünschen, 


76  Die  Einheit  des  Menschen. 

oder  gar  um  fürchten  und  zagen  zu  können;  sondern  darum 
allein  darf  es  sich  handeln,  was  ich  zu  tun  habe,  auf  dass  mein 
Tun  und  Treiben  den  Wert  einer  menschlichen  Handlung  erlange. 
Der  Begriff  der  Handlung  besteht  in  der  Einheit  der  Handlung. 
Die  Einheit  der  Handlung  begründet  die  Einheit  des  Menschen. 
In  der  Einheit  der  Handlung  vollzieht  sich  und  besteht 
die  Einheit  des  Menschen." 

Die  Einheit  des  Menschen,  wir  können  sie  als  das  letzte 
Ziel,  als  den  eigentlichen  Gegenstand  der  Ethik  bezeichnen.  Der 
Mensch  darf  nicht  zerrissen  und  zerfahren  bleiben  in  seinem  Tun 
und  Streben.  f>  darf  sich  nicht  in  jedem  Augenblick  in  ein 
anderes  Wesen  verwandeln.  Nicht  er  würde  sich  dann  ver- 
wandeln; sondern  die  Dinge  um  ihn,  vielleicht  auch  in  ihm 
hätten  ihn  verwandelt.  Auch  das  ist  noch  ungenau;  denn  er 
wird  gar  nicht  verwandelt,  weil  er  noch  gar  nicht  da  ist.  So 
lange  er  in  einer  Mehrheit  schwebt,  welche  aus  Einwirkungen 
auf  ihn  und  Gegenwirkungen,  die  von  der  Mehrheit,  die  in  ihm 
gelagert  ist,  ausgehen,  ist  sein  Selbst  noch  gar  nicht  vorhanden. 
Erst  die  Einheit  kann  es  ihm  geben;  kann  ihn  zum  sittlichen 
Wesen  machen. 

Und  diese  Einheit,  das  erkennen  wir  jetzt,  kann  erst  in  der 
Allheit,  wie  der  Staat  sie  darstellt,  ihm  gesichert  werden;  auch 
methodisch  ist  sie  in  dieser  Allheit  vorzugsweise  zu  begründen. 
Das  war  schon  der  Platonische  Gedanke.  Nicht  in  der  sinnlichen 
Einzelheit  und  Besonderheit  liegt  die  Einheit  des  Menschen, 
sondern  in  einer  abstrakten  Einheit,  die  dennoch  die  gediegenste 
Wirklichkeit  zur  Erzeugung  bringt:  in  der  Einheit  der 
staatlichen  Allheit,  in  der  Einheit  der  staatlichen 
Sittlichkeit. 

Dem  Staate  wird  nicht  nur  Macht  zugesproclien,  und  nicht 
nur  Handlungsfähigkeit,  sondern  auch  Wille.  Dieser  Wille  kann 
nur  in  einer  umgekehrten  Metapher  als  Trieb  gedacht  werden. 
Die  Ethik  soll  hier  als  Ethik  des  reinen  Willens  errichtet 
und  verfasst  werden.  Den  Begrifl  des  Reinen  kennen  wir  wohl 
von  der  Logik  her,  und  so  dürften  wir  ihn  hier  voraussetzen. 
Aber  die  blosse  Anw^endung  des  BegriflFs  auf  den  Willen  muss 
hier  unterbleiben,  weil  wir  den  Begriff  des  Willens  zwar  erwogen, 
aber  keineswegs  schon  zur  Bestimmung  gebracht  haben.    Daher 


Der  reine  Willle.  77 


<larf  die  Einleitung*  hier  abbrechen.  Die  Darstellung 
selbst  wird  den  Begriff  des  reinen  Willens  als  den 
Inhalt  der  Ethik  zu  entfalten  haben. 

Nur  dem  Vorurteile  konnte  die  Einleitung  noch  begegnen, 
als  ob  der  reine  Wille  nicht  in  gleicher  Weise  für  den  ge- 
(liegensten  Inhalt  der  Ethik  die  Disposition  darböte,  wie  der  Be- 
griff der  reinen  Erkenntniss  für  den  der  Naturwissenschaften. 
Indem  der  reine  Wille  auf  die  Rechtswissenschaft  und  auf  das 
Staatsrecht  bezogen  wird,  so  ist  jedes  Bedenken,  welches  nach 
der  Seite  jener  Skepsis  hinzielt,  von  vornherein  beseitigt.  Auf 
diese  grundsatzliche  Erledigung  muss  es  aber  bei  dem  Problem 
der  Ethik  vor  Allem  ankommen. 

Denn  Nichts  schädigt  das  Problem  der  Ethik  tiefer  und 
innerlicher  als  der  Verdacht  der  Subjektivität  ihres  Inhalts. 
Ein  matter  Schein  davon  fallt  ja  allerdings  auf  die  grundlegende 
Unterscheidung  von  Sein  und  Sollen,  wie  wir  dies  betrachtet 
haben.  Das  Sollen  muss  als  reines  Wollen  den  gesicherten  Wert 
des  Seins  behaupten  dürfen.  Jeder  Zweifel  daran  wäre  nicht  nur 
falscher  Idealismus,  sondern  Untergrabung  und  Vereitelung  des 
Idealismus.  Die  Idee  ist  nicht  Hirngespinnst,  sondern  frucht- 
barer und  unfehlbarer  Leitbegriff  der  Weltgeschichte.  Der  reine 
Wille  wird  zum  methodischen  Mittel  desjenigen  Inhalts  werden 
müssen,  den  die  Idee  der  Sittlichkeit,  den  der  ethische  Idealismus 
zu  verwirklichen  hat.  Der  reine  Wille  wMrd  der  Wille  des 
geschichtlichen  Seins,  der  geschichtlichen  Wirklich- 
keit werden.  Und  in  dieser  geschichtlichen  Wirklichkeit  wird 
er  den  Begriff  des  Menschen  zur  Erscheinung  bringen. 

Es  wird  sich  zeigen,  dass  der  Gegensatz  zwischen  Staat 
und  Menschheit  nur  ein  scheinbarer  ist.  Indem  wir  die  Ein- 
heit des  Menschen  in  der  Einheit  des  Staats  zu  begründen 
suchen,  reissen  wir  nicht  etwa  den  Menschen  von  der  Mensch- 
heit los;  vielmehr  bemächtigen  wir  dadurch  uns  des  rechten 
Mittels,  den  Gegensatz  zwischen  den  Einzelmenschen  und  der 
universellen  Menschheit  zu  einer  wahrhaften  Aufhebung  zu 
bringen.  Und  die  Menschheit  wird  erst  auf  diesem  methodischen 
Wege  eine  ethische  Idee;  während  sie  sonst  ein  Gedanke  des 
frommen  Glaubens  bleibt,  der  alsdann  im  günstigsten  Falle  auf 
sein  Widerspiel   sich  stützt,  nämlich    auf  einen   naturalistischen 


78  Staat  und  Menschheit 

BegrifT;   denn   mehr  als  dies   ist  doch  das  teleologische  Prinzip 
von  der  Einheit  des  Menschengeschlechts  nicht. 

Diese  Art  von  Begründung  liefe  al)er  schliesslich  auf  Das- 
seihe  hinaus,  worauf  der  Staat  reduziert  wird,  wenn  er  auf  die 
Einheit  des  Volkes  begründet  wird.  Der  reine  Wille  lenkt  von 
diesen  natürlichen  Illustrationen  ab;  er  sucht  die  begrifllichen 
(Konstruktionen  zu  venverten,  in  welchen  die  RechLswissensc^haft 
die  Einheit  der  juristisi*ben  Person  zu  constituieren  und  zu  bi*- 
gründen  vermag. 


Erstes  Kapitel. 

Das  Grundgesetz  der  Wahrheit 


Die  bisherigen  Erwägungen  bezogen  sich  auf  die  Eigenart 
und  die  Selbständigkeit  der  Ethik  gegenüber  den  Wissenschaften, 
die  ihr  etwa  ihr  Sonderrecht  streitig  machen  könnten.  Auch 
unter  den  Disziplinen  der  Philosophie  wurde  ein  solcher  Anspruch, 
den  die  Psychologie  erheben  könnte,  berücksichtigt  und  zurück- 
gewiesen. Nur  eine  Art  von  Bedingtheit  blieb  gewahrt  und  wurde 
nachdrücklich  behauptet:  das  Verhältnis  der  Ethik  zur  Logik. 
Die  Selbständigkeit  der  Ethik  den  anderen  Wissenschaften  gegen- 
über wurde  auf  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Logik  begründet. 
Das  geschichtliche  Faktum,  dass  Sokrates  den  Begriff  und  also 
die  Logik  im  Begriffe  des  Menschen,  also  in  der  Ethik  entdeckt 
hat,  dieses  Faktum  war  unser  Leitstern  und  soll  es  bleiben.  So 
verstanden  wir  auch  die  Unterscheidung  von  Sein  und  Sollen: 
erst  Sein,  dann  Sollen;  nicht  erst  Sollen,  dann  Sein.  Aber  auch 
nicht  etwa  Sein  allein;  so  wenig  als  Sollen  allein.  Logik  und 
Ethik  gehören  von  Anfang  an  zusammen. 

Lässt  sich  nun  aber  dieser  Gedanke,  der  zunächst  als  ein 
historischer  Leitgedanke  erscheint,  auch  sachlich  durchführen? 
Bedenken  wir  zuvörderst,  was  diese  Durchführung  zu  bedeuten 
hat.  Sie  wird  nicht  befriedigt  durch  den  Versuch  einer  Auf- 
lösung der  Ethik  in  Logik;  ganz  abgesehen  von  der  Frage,  ob 
der  Versuch  gelingen  könnte.  Der  Versuch  ist  unzulässig;  die 
Ethik  soll  selbständig  neben  der  Logik  bestehen;  durch  diese 
Nebenstellung  gerade  erst  selbständig  werden.  Die  Ueberspannung 
des  Gedankens  in  der  Sokratischen  Formel:   Tugend  ist  Wissen, 


80  Die  Summe  der  Logik. 


ist  als  solche  erkannt.  Bevor  wir  nun  aber  an  die  Erörterung 
herantreten,  wie  die  logische  Methodik  auf  die  Ethik  zur  Be- 
gründung derselben  anwendbar  werden  kann,  wollen  wir  einem 
andern  Gedanken  Raum  geben,  der  nicht  so  äusscrlich  in  seinem 
Grunde  ist,  wie  er  zunächst  scheinen  mag. 

Wenn  die  Ethik  von  der  Logik  abhängig  gemacht  wird, 
so  wird  dadurch  ihre  Selbständigkeit  zum  mindesten  einge- 
schränkt; wie  sehr  sie  immer  hinterher  durch  eigene  Begriffe 
befestigt  werden  mag.  Mit  diesem  Bedenken  operieren  die  Feinde 
der  wissenschaftlichen  Vernunft  gegen  die  philosophische  Ethik. 
Aber  der  Einwand  verdient  auch  ohne  diese  Rücksicht  eine  ge- 
nauere Betrachtung.  Diese  hat  sich  ebenso  tief  auf  die  Logik 
zu  erstrecken,  wie  auf  den  Untergrund  der  Ethik. 

In  der  Tat  wird  ein  neues  Glied  des  philosophischen  Systems, 
wenn  anders  es  als  ein  solches  Selbständigkeit  erlangt,  nicht 
lediglich  in  und  aus  der  Abhängigkeit  von  dem  voraufgehenden 
Gliede  entstehen  und  bestehen;  sondern  es  wird  zugleich  kraft 
der  eigenen  Selbständigkeit  das  Fundament  vertiefen,  aus  dem 
es  herauswachsen  konnte,  aus  dem  es  hervorgehen  musste.  So 
verhält  es  sich  mit  der  Ethik  gegenüber  der  Logik.  Wir  müssen 
den  gesamten  Ertrag  der  Logik  überschlagen,  indem  wir  das 
Neue  erkennen  wollen,  das  die  Ethik  für  das  Fundament  selbst 
hinzuzubringen  hat.  Nicht  an  die  einzelnen  methodischen  Mittel 
der  Logik  wollen  wir  jetzt  zurückdenken,  sondern  lediglich  auf 
die  letzte  Summe,  in  der  wir  den  Gesamtertrag  der  Erkenntniss 
zusammenfassen  dürfen.  Nicht  aus  den  Grundbegriffen,  als  den 
Summanden,  wollen  wir  diese  Summe  ziehen;  sondern  in  Rück- 
sicht auf  den  Umfang,  den  alles  jenes  Wissen  beschreibt,  auf 
welches  die  Logik  orientiert  ist. 

Diesen  Umfang  bildet  die  Natur,  und  zwar  die  Natur  der 
Naturwissenschaft.  Gehört  der  Mensch  auch  zu  dieser  Natur? 
Gehört  die  Weltgeschichte  auch  zu  dieser  Natur,  und  also  auch 
die  Einrichtungen  derselben  in  Recht  und  Staat?  Die  Logik 
der  reinen  Erkenntniss  hat  uns  darüber  belehrt,  dass  diese  Fragen 
keine  unbedingte  Bejahung  finden.  Nur  die  methodische*  Veran- 
lagung ist  in  der  Logik  zu  suchen;  die  Constituierung  der  eigenen 
begrifflichen  Inhalte  dieser  Art  überlässt  sie  der  Ethik.  So  ergibt 
sich   schon   hieraus,   dass    der  Umfang  der  Logik  eingeschränkt 


Die  Grundlagen  als  Grundlegungen.  81 

ist;  (lass  er,  was  den  Inhalt  der  Begriffe  betrifft,  auf  den  Menschen 
der  Weltgeschichte  sich  nicht  erstreckt. 

Von  diesem  Umfang  aus  lässt  sich  nun  aber  auch  der  all- 
gemeine Wert,  gleichsam  der  Wertumfang  des  Wissens  bemessen, 
über  den  die  Logik  verfügt.  Es  ist  immer  nur  das  theoretische 
Interesse  an  der  Natur,  das  die  Logik  verwaltet;  und  diese  Ver- 
waltung bleibt  angewiesen  auf  die  methodischen  Mittel  der 
Naturwissenschaft.  So  ist  auch  der  Erkenntnisswert  der  Logik 
durch  die  Natur  der  Naturwissenschaft  bedingt.  Wir  wissen  von 
der  Logik  her,  dass  die  letzten  Grundlagen  der  Erkenntniss  viel- 
mehr Grundlegungen  sind,  deren  F'ormulierungen  sich  wandeln 
müssen  gemäss  dem  Fortgang  der  Probleme  und  der  Einsichten. 
Es  ist  eitel  Wahn,  dass  darob  das  Gesetz,  das  A  priori,  das 
Ewige  verflüchtigt  und  subjektiviert  würde;  vielmehr  wird  in 
dem  geschichtlichen  Zusammenhange  der  Grundlegungen  die 
Ewigkeit  der  Vernunft  bestätigt. 

Das  Alles  hat  seine  Richtigkeit;  und  wir  werden  es  hier 
alsbald  von  neuem  zu  erwägen  haben.  Dennoch  aber  müssen 
wir  vorher  eine  Einschränkung  betrachten,  welche  dieser  logischen 
Gesetzlichkeit  an  sich  anhaftet.  Die  Grundlagen  sind  Grund- 
legungen. Die  Tätigkeit  des  Legens  eines  Grundes  setzt  das 
Objekt  voraus,  dem  der  Grund  zu  legen  sei.  Dieses  Objekt  ist 
zwar  nicht  schlechtliin  die  Natur,  aber  es  ist  die  Natur  der 
Naturwissenschaft.  Daher  wird  die  Natur  zunächst  wieder  in 
einer  Erkenntniss  zum  Objekte,  nämlich  in  der  Mathematik.  Aber 
auch  diese,  so  rein  sie  ist,  und  je  reiner  sie  ist,  ist  selbst  als 
Grund  der  Natur  gelegt.  Und  obzwar  die  Grundlagen  der  Logik 
nocli  über  die  der  Mathematik  hinausragen,  so  wissen  wir  doch, 
dass  diese  allgemeineren  logischen  Begriffe  mit  denen  der  Mathe- 
matik verwachsen  müssen,  um  Fleisch  und  Blut  anzunehmen, 
l'eberall  also,  in  den  letzten  Grundlagen  der  Logik  bleibt  die 
innere  Beziehung  auf  das  Sein,  auf  die  mathematische  Natur  der 
Naturwissenschaft  erhalten.  So  bleibt  die  Grundlage  buchstäblich 
Grundlegung.  -  Und  was  folgt  daraus  für  den  Wissenswert? 

Die  höchsten,  die  umfassendsten  Ausdrücke  für  den  Wert 
der  Erkenntniss  bleiben  in  der  Logik  die  Allgemeinheit  und 
die  Notwendigkeit.  Wir  haben  sie  in  ihrem  methodischen 
Werte    erkannt:    dass    sie    nicht    letzte     Ergebnisse     und    Fest- 

6 


82  Wahrheit  und  die  Idee  des  Guten. 


setzungeil  der  Erkenntniss  bedeuten,  sondern  vielmehr  neue  An- 
sätze bilden  für  die  neuen  Wege  der  Forschung.  Nicht  den 
Wert  von  Axiomen  und  Grundsätzen  haben  sie;  sondern 
als  Obersätze  des  syllogistischen  Beweisverfahrens 
werden  sie  brauchbar.  Welche  anderen  Ausdrücke  für  den 
Innern  Zusammenschluss  und  für  die  allgemeinere  Charakteristik 
der  Erkenntnisswerte  gäbe  es  aber  sonst?  Es  bleiben  nur  die 
Arten  des  Urteils  und  der  Kategorieen  als  die  allgemeinen  Grund- 
legungen übrig. 

Daher  entstehen  für  die  Logik  komische  Verlegenheiten, 
wenn  sie  —  die  Wahrheit  definieren  soll.  Die  Komik  ergibt 
sich  aus  der  Situation,  in  welche  die  Logik  mit  dieser  Frage 
gebracht  wird.  Sie  hat  es  mit  der  Richtigkeit  zu  tun.  Und 
ihr  letzter  Halt  ist  die  Reinheit.  Was  sonst  Wahrheit  be- 
deuten mag,  das  leistet  innerhalb  der  Logik  die  Rein- 
heit. Woher  kommt  der  Anspruch  der  Wahrheit  überhaupt  in 
die  Sprache  der  Vernunft? 

Wir  können  auch  diesen  zarten  Vorgang  in  der  griechischen 
Philosophie  belauschen.  Bei  Demokrit  tritt  zum  erstenmale  in 
wissenschaftlicher  Bestimmtheit  der  Unterschied  zwischen 
Sein  und  Schein  auf.  Aber  er  bezeichnet  das  Sein  nicht  so- 
wohl als  das  wahrhafte  Sein,  als  vielmehr  als  das  richtige  Sein 
(exsTQ  dv).  Der  Ausdruck  Wahrheit  mag  schon  ihm  angehören,  aber 
am  Sein  selbst  wird  er  von  ihm  nicht  verwendet.  Erst  bei 
Piaton  tritt  das  Wort  für  Wahrheit  (akrfisia)  in  die  Richtung  der 
Bedeutung  ein,  die  ihm  eigentümlich  geworden  ist.  Die  Idee 
überhaupt,  insofern  sie  sich  auf  das  Sein  der  Natur  bezieht,  also 
die  mathematische  Idee,  sie  wird  als  Sein,  als  seiendes  Sein  (Jvtcwc  f>) 
bezeichnet;  Wahrheit  bedeutet  eine  Klimax  zum  Sein  (ouoia  xai 
aKr^be^a).  Wahrheit  bezieht  sich  in  dieser  Steigerung  auf 
die  Idee  des  Guten.  Wahrheit  bezeichnet  den  Geltungswert  der 
ethischen  Erkenntniss.  Diese  Bedeutung  der  Wahrheit  hat  sich 
im  Sprachgefühle  trotz  allen  Verwirrungen  erhalten. 

Indessen  bevor  wir  an  dieses  Sprachgefühl  weiter  anknüpfen, 
müssen  wir  die  hauptsächliche  Verwirrung  beachten,  die  damit 
kompliziert  ist.  Nicht  die  Ethik  allein  hat  sich  den  Ausdruck 
der  Wahrheit  vorbehalten  können,  sondern  die  Religion  hat  ihn 
ihr  streitig  gemacht.    Nicht  zwar  von   der  griechischen  Religion 


Zusammenhang  der  Ethik  mit  der  Logik.  83 

wird  man  einen  praegnanten  Gebrauch  des  Wortes  für  ihre 
Götter  zu  tadeln  oder  zu  rühmen  haben;  wohl  aber  bemächtigt 
sich  der  Monotheismus  dieses  Wortes  für  den  einzigen  Gott. 
Gott  ist  wahr,  und  Gott  ist  die  Wahrheit,  das  sind  die  tiefen 
Ausdrücke,  mit  denen  die  Propheten  den  einzigen  Gott  erdenken. 
Vielleicht  darf  man  sagen,  dass  charakteristischer  noch  als  die 
Einzigkeit  die  Wahrheit  für  den  Gott  der  Religion  gegenüber 
den  Göttern  der  Mythologie  ist.  Denn  der  wahre  Gott  ist  der 
Grund  der  Sittlichkeit:  die  er  fordert,  und  deren  Forderung 
schlechterdings  sein  Wesen  ausmacht. 

Aber  das  ist  der  Unterschied,  das  ist  die  Kluft  zwischen 
Religion  und  Ethik,  dass  in  der  Ethik  kein  auswärtiger  Grund 
gelegt  werden  darf.  Auch  Gott  darf  für  sie  nicht  den  metho- 
dischen Grund  der  sittlichen  Erkenntniss  bilden.  Wahrheit,  wie 
die  Ethik  sie  zu  denken  hat,  muss  Wahrheit  der  Erkenntniss 
sein.  Erkenntniss  aber  ist  in  erster  Linie  Logik.  Und  von  dieser 
Linie  der  Logik  darf  die  Ethik  nicht  abweichen,  nicht  ablenken. 
Auch  bei  Piaton  bildet  die  Wahrheit  zwar  eine  Steigerung  zum 
Sein;  aber  das  Sein  bleibt  eben  doch  die  Voraussetzung.  Wahr- 
heit ohne  Voraussetzung  der  Logik  ist  unzulässig. 

Indessen  die  Logik  allein  hat  Richtigkeit,  Gesetzlichkeit, 
Aligemeinheit,  Notwendigkeit;  an  sich  aber  keine  Wahrheit.  Die 
Ethik  erst  bringt  die  Wahrheit  hinzu;  aber  sie  bringt  sie  hinzu; 
sie  kann  sie  nicht  aus  sich  selbst  schöpfen;  erst  in  Verbindung 
mit  der  Logik  wächst  sie  ihr  zu. 

Der  Ausdruck,  den  wir  zuletzt  gebraucht  haben,  ist  un- 
genau. Nicht  der  Ethik  allein  wächst  die  Wahrheit  zu,  indem  sie 
mit  der  Logik  sich  verbindet  und  gleichsam  mit  ihr  sich  misst; 
sondern  beiden  Arten  und  Interessen  der  Vernunft  erwächst  die 
Wahrheit,  als  ein  neues  Kennzeichen  der  Erkenntniss  und  als  das 
innere  Band,  das  sie  zusammenhält.  Ein  solches  inneres  Band, 
eine  solche  methodische  Verbindung  muss  gefordert  werden,  wenn 
anders  Wahrheit  die  Wahrheit  der  Erkenntniss  bedeuten  soll. 
Die  Erkenntniss  bildet  und  bezeichnet  die  Notwendigkeit  des 
Zusammenhangs.  Nun  kommt  aber  Alles  darauf  an,  in  diesem 
Zusammenhange  selber  und  allein  in  ihm  die  Wahrheit  zu  be- 
gründen; nicht  aber  etwa  allein  oder  auch  nur  vorzugsweise  in 
der  P2thik.    Das  würde  auf  den  Abweg  der  Religion  führen. 

6* 


84  Die  Religion  und  Prometheus. 

Es  ist  nur  die  Ausdnickswcise  des  religiösen  Affekts,  dem 
Plato,  wie  auch  Kant  sich  hingaben,  indem  sie  den  Vorzug  des 
ethischen  Problems  in  gewaltigen  Worten  betonten:  Plato  durch 
die  Transscendenz  des  Guten  zum  Sein  (sxexsiva  xyjc  oüoiac,  8üvd|i£t  xo? 
Tcpsaßsia  üicspeyovtoi;);  Kant  durch  den  Primat  der  praktischen 
Vernunft.  Der  Ethik  ist  durch  solche  Vorzugswerte  nicht  ge- 
dient. Wenn  im  Ucberschwang  des  sittlichen  Gefühls  die  Logik 
gegen  die  Ethik  herabgesetzt  wird,  so  mag  die  religiöse  Sittlichkeit 
darüber  triumphieren;  die  Ethik  und  die  ethische  Wahrheit  wird 
dadurch  nicht  gefördert. 

Im  Grunde  wird  auch  der  Religion  durch  Ucberschwang 
nicht  gedient.  Wenn  die  Religion  Gott  zum  Urquell  und  zum 
Bürgen  der  Sittlichkeit  macht,  so  will  auch  sie  von  ihrem  Gotte 
und  von  ihrer  Sittlichkeit  die  Natur  nicht  durchaus  abscheiden. 
Gott  ist  ihr  ebenso  der  Schöpfer  der  Natur,  wie  er  der  Urheber 
der  Sittlichkeit  ist.  Also  auch  die  Religion  will  keineswegs 
Natur  und  Sittlichkeit  von  einander  trennen.  Die  Erkenntniss 
hingegen  im  wissenschaftlichen  Sinne  geht  sie  für  beide  Objekte 
nichts  an.  Aber  hiervon  abgesehen,  führt  sie  die  Verbindung 
durch.  Gott  ist  als  Schöpfer  der  Schöpfer  des  Guten.  Welchen 
Sinn  hätte  es  daher,  von  diesem  Gotte  des  Guten  die  Sittlichkeit 
unabhängig  zu  machen? 

Prometheus  darf  sich  gegen  Zeus  empören,  der  den  Menschen 
das  Licht  vorenthalten  will;  diese  Stimmung  kann  nicht  gegen 
den  Schöpfer  des  Lichtes  und  des  Guten  aufkommen.  Er  wird 
auch  als  der  Gott  der  Erkenntniss  bezeichnet.  Die  Erkenntniss  ist 
ihm  nicht  fremd,  geschweige  feindlich.  Welchen  Sinn  hätte  die 
Prometheische  Stimmung  gegen  diesen  Gott  der  Natur  und  der 
Sittlichkeit?  Sollte  etwa  der  eigene  Schöpfertrieb  des  Menschen, 
der  seine  Gebilde  hegt,  gegen  ihn  sich  Luft  machen?  Dann 
würde  es  nur  fraglich,  ob  es  der  Machttrieb  im  Menschen  wäre, 
der  gegen  den  Allbezwinger  sich  auflehnt;  oder  aber  der  Kunst- 
trieb, der  die  eigenen  Gebilde  als  die  eigenen  hütet.  Es  wäre  in 
beiden  Fällen  aber  nicht  die  Sittlichkeit  und  die  Erkenntniss  der 
Sittlichkeit,  welche  gegen  den  Gott,  der  der  Gott  der  Wahrheit 
sein  will,  die  Sprache  des  Prometheus  führen  dürfte. 

Wenn  die  VAh'ik  daher  das  Problem  der  Wahrheit  als  ein 
ihr    eigenes    auf   sich    nimmt,   so   kann    sie   dies   nur    im    Ein- 


Wahrheit  in  der  Verbindung  von  Logik  und  Ethik.  85 

vernehmen  mit  der  Logik  tun.  Und  in  einem  ganz  neuen  Sinne 
wird  die  Wahrheit  von  ihr  zum  Problem  gemacht  werden 
müssen. 

W^ahrheit  bedeutet  den  Zusammenhang  und  den 
Einklang  des  theoretischen  und  des  ethischen  Problems. 

Dieser  Satz  muss  allem  Aufbau  der  Ethik  voraufgehen.  Wir 
bezeichnen  ihn  daher  als  den  Grundsatz  der  Wahrheit. 

Bevor  an  den  Aufbau  der  Ethik  herangetreten  werden  mag, 
bevor  der  Versuch  unternommen  wird,  eine  Erkenntniss  vom 
Menschen,  als  dem  Menschen  der  W^eltgeschichte,  zu  entwerfen, 
muss  diese  Gewissheit  festgestellt  werden,  dass  über  diesem  neuen 
Bau  der  alte  der  Logik  und  derNaturerkenntniss  nicht  hinfallig  wird. 
Und  wenn  der  neue  Bau  in  die  Wolken  ragte,  er  müsste  ein 
Luflgebilde  bleiben,  wenn  er  nicht  mit  der  Logik  im  letzten 
Grunde  vereinigt  wäre;  wenn  er  nicht,  wie  gediegen  immer  sein 
eigenes  Fundament  sein  mag,  dennoch  in  diesem  selbst  mit  jenem 
logischen  Fundamente  zusammenhinge  und  aus  ihm  entspränge. 

Das  muss  der  Grundgedanke  sein,  der  uns  von  der  Logik 
zur  Ethik  hinüberleitet;  der  uns  im  Beginne  der  Ethik  auf  die 
Logik  wieder  zurückfühii.  In  der  Logik  allein  gab  es  keine 
Wahrheit.  Aber  auch  in  der  Ethik  allein  kann  es  keine  Wahr- 
heit geben.  In  der  Verbindung  von  Logik  und  Ethik 
allein  ist  Wahrheit  zu  suchen;  für  diese  Verbindung  allein 
ist  sie  zu  fordern.  Nur  diese  Verbindung  gilt  uns  als  Wahrheit. 
Ohne  diese  Verbindung  Hessen  wir  es  ebenso  gern  bei  der 
logischen  Richtigkeit  und  Notwendigkeit  bewenden,  und  ver- 
zichteten auf  eine  Offenbarung  der  Sittlichkeil,  die  uns  über  die 
Bescheidenheit  der  Erkenntniss  hinaus  verlockt.  Kein  Glied  der 
Erkenntniss  für  sich  allein  darf  Wahrheit  beanspruchen;  in  der 
Kette  allein,  welche  die  Glieder  bilden,  darf  die  W^ahrheit  liegen 
und  bestehen.  Aber  die  Kette,  das  geistige  Band,  fordern  wir  als 
das  Grundgesetz  der  Wahrheit.  Wenn  es  am  Beginne  der  Ethik 
aufgestellt  wird,  so  erklärt  sich  dies  daraus,  dass  hier  erst  <las 
neue  Problem  entsteht. 

W^as  bedeutet  es  nun  aber,  dass  der  Grundsalz  der  W^ahr- 
heil  auf  die  Verbindung  <les  theoretischen  und  des  ethischen 
Problems  gerichtet  sein,  den  Zusammenhang  und  den  Einklang 
beider    Probleme    bedeuten    soll?      Wenn    keines    der    beiden 


8G  Lessings  Parabel. 


Glieder,  aus  denen  die  Kette  besteht,  die  Wahrheit  enthalten  soll, 
wie  kann  sie  dann  in  der  Kette  liegen?  Die  Frage  kann  weiter 
geführt  werden:  wie  können  die  Glieder  zu  einer  Kette  sich 
zusammenschliessen,  wenn  nicht  durch  eine  verbindende  Methode 
dieser  Zusammenschluss  eingerichtet  würde?  Diese  verkettende 
Methode  suchen  wir. 

Wir  suchen  diese  Methode  aber  von  vornherein  hier  als 
eine  vereinigende,  die  Ethik  mit  der  Logik  verknüpfende  Methode. 
So  fordert  es  das  Grundgesetz  der  Wahrheit.  Es  ist  nicht  ledig- 
lich eine  Uebertragung  der  in  der  Logik  fruchtbaren  Methode 
auf  die  Ethik,  zu  dem  Versuche,  ob  sie  auch  in  dieser  sich  frucht- 
bar erweisen  werde;  sondern  darin  greift  ihrerseits  die  Ethik 
über  die  Kompetenzen  der  Logik  zurück,  dass  sie  die  Einheitlich- 
keit der  Methode  für  beide  Vernunftinteressen  voraussetzt.  Diese 
Voraussetzung  vollzieht  das  Grundgesetz  der  Wahrheit.  Es  ist 
nicht  eine  Uebertragung,  sondern  es  ist  eine  Rückwirkung,  die 
sich  hier  geltend  macht.  Es  ist  ein  neues  Licht,  welches  das 
Prinzip  der  Wahrheit  über  die  Grundmethode  der  Logik  ergiesst: 
dass  sie  auch,  dass  sie  ebensosehr  die  Ethik  erzeugt.  Man  sieht, 
dass  die  Einheitlichkeit,  wie  sie  hier  begründet  wird,  sich  von 
der  mehr  oder  weniger  psychologischen  Ansicht  unterscheidet, 
welche  eine  Einheit  der  Vernunft  voraussetzt,  bei  der  absichtlich 
oder  unvermeidlich  der  Unterschied  der  Probleme  nivelliert  wird. 

Bevor  wir  nun  aber  diese  die  beiden  Arten  von  Problemen 
verbindende  Methode,  die  wir  nicht  erst  zu  nennen  brauchen,  in 
Erwägung  nehmen,  erscheint  es  nicht  überflüssig,  den  Sinn  und 
Wert  der  Wahrheit,  als  einer  Methode,  zu  betrachten.  Nach 
der  Parabel  bei  Lessing  hält  der  Vater  in  der  einen  Hand  die 
Wahrheit,  in  der  andern  das  Suchen  nach  Wahrheit.  Wir  ver- 
zichten dagegen  nicht  nur  auf  die  Gabe  der  einen  Hand;  sondern 
wir  erkennen  schlechterdings  den  Unterschied  der  beiden  Hände 
nicht  an.  Was  die  Wahrheit  für  den  Vater  bedeuten  mag,  ge- 
hört nicht  in  den  Umkreis  unserer  Probleme.  Und  wir  lassen 
uns  auch  den  Wert,  den  das  Suchen  nach  Wahrheit  hat,  nicht 
durch  die  Skepsis  vereiteln,  dass  es  eine  Wahrheit  anderer  Hand 
gäbe.  Das  Suchen  der  Wahrheit,  das  allein  ist  Wahrheit.  Die 
Methode  allein,  mittelst  deren  Logik  und  Ethik,  beide  zugleich, 
nicht  eine  allein,  erzeugbar  werden,  diese  vereinigende,  diese  ein- 


Die  Sittlichkeit  in  Wissenschaft  und  Recht.  87 

heitliche  Methode,  sie  vollbringt  und  verbürgt  die  Wahrheit. 
Wenn  man  zwei  Hände  unterscheiden  will,  so  geben  sie,  die 
eine  Logik,  die  andere  Ethik.  Aber  beide  geben  kraft  derselben 
Methode.    Und  diese  Kraft  gilt  uns  als  Wahrheit. 

Die  Wahrheit  besteht  in  der  einheitlichen  Methode  der 
Logik  und  der  Ethik.  Sie  kann  nicht  als  ein  Datum  offenbart 
werden.  Sie  kann  nicht  als  eine  Tatsache  der  Natur,  oder  der 
Geschichte,  vorliegend  oder  enthüUbar  angenommen  werden. 
Sie  ist  kein  Schatz,  sondern  ein  Schatzgräber.  Sie  ist  Methode; 
aber  keine  isolierte,  noch  isolierbare  Methode;  sondern  eine 
solche,  welche  die  grundsätzliche  Verschiedenheit  von  Vernunft- 
interessen harmonisiert.  Der  Methode  der  Wahrheit  spricht  es 
Hohn,  die  Logik  und  die  Wissenschaft  verächtlich  zu  machen, 
insofern  man  ihre  Notwendigkeit  in  Zweifel  zieht  und  ihre 
Reinheit  verdunkelt.  Alles  fromme  Gerede  vom  Stückwerk  des 
menschlichen  Wissens  ist  vom  Uebel,  gehört  in  diejenige  Päda- 
gogik, welche  Mephisto  an  dem  Schüler  ausübt.  Die  Wahrheit 
besteht  in  der  Anerkennung  der  wissenschaftlichen  Vernunft. 
Sie  beruht  auf  ihr. 

Aber  sie  erstreckt  sich  weiter.  Es  spricht  ebenso  der  Wahr- 
heit Hohn,  wenn  Staat  und  Recht  als  etwas  Menschliches,  demnach 
Irriges  und  Sündhaftes  dargestellt  werden.  Sie  sind  Gebilde  des 
sittlichen  Geistes.  Sie  sind  nicht  Ausgeburten  des  Instinktes  und 
des  Machttriebes.  Das  mag  auf  den  Bienenstaat  passen.  Aber 
so  wenig  in  deren  Bau  die  Mathematik  zur  Wissenschaft  er- 
wacht und  geistig  lebendig  wird,  so  wenig  ist  der  Geist  des 
Rechtes  und  des  Staates  in  jenen  Gebilden  des  Instinktes  zu 
erkennen.  Der  Instinkt  widerspricht  der  Wahrheit  in  Bezug  auf 
die  Ethik.  Es  gibt  keine  andere  Sittlichkeit  als  die  in  Recht 
und  Staat. 

Wenn  die  Religion  etwas  Anderes  und  Eigenes  zu  sein  be- 
hauptet, so  unterschlägt  sie  die  Beziehungen,  welche  sie  selbst 
auf  Recht  und  Staat  in  sich  hat  und  unterhält;  und  ferner  begibt 
sie  sich  aus  dem  praktischen  Vernunftinteresse  heraus  und  etabliert 
sich  als  Wissenschaft,  ohne  sich  freilich  als  dieselbe  auszugeben. 
Damit  aber  wird  ihr  Anspruch  xmd  Einspruch  hinfallig;  denn 
sie  ist  nicht  Wissenschaft.  Nur  Logik  macht  W^issen  zur  Wissen- 
schaft.   Und    nur    Ethik,    im  Zusammenhange    und    auf   Grund 


88  Die  Methode  der  Reinheit. 

der  Logik,  ermöglicht  Sittlichkeit  nach  dem  Grundgesetze  der 
Wahrheit. 

Bevor  wir  aber  weiter  die  schier  unerschöpfliche  Bedeutung 
dieses  Grundgesetzes  der  Wahrheit  erwägen,  müssen  wir  endlich 
an  die  Bestimmung  und  Beleuchtung  der  verbindenden  Methode 
selbst  herangehen.  Wir  kennen  sie  von  der  Logik  her.  Und 
indem  wir  die  Quintessenz  der  Logik  der  neuen  Wahrheit  gegen- 
über ziehen  wollten,  nannten  wir  die  Reinheit.  Die  Reinheit 
macht  die  Logik  zur  Logik  der  reinen  Erkenntniss.  Sie  begründet 
den  LehrbegrifT  des  Idealismus.  Sie  ist  die  schöpferische  Methotle 
Piatons.  Aber  auch  hier  ist  der  Zusammenhang  von  Logik  und 
Ethik  unverkennbar.  Freilich  hat  Plato  in  dem  reinen  Scliauen, 
als  dem  Erschauen,  für  die  Mathematik  die  Reinheit  vorzugs- 
weise wirksam  gemacht,  und  bis  auf  den  Namen  ist  sie  bei  ihr 
erhalten  geblieben;  aber  das  reine  Schauen  selbst  war  doch  aus 
den  leiblichen  und  seelischen  Reinigungen  hervorgegangen,  welche 
der  orphische  Kreis  zur  Seelsorge  machte.  So  ist  die  Reinheit 
sittlichen  Ursprungs.  Und  diesen  Ursprung  hat  sie  nicht  nur  bei 
Piaton  bewahrt,  sondern,  wo  in  der  neueren  Philosophie  das 
Reine  auftritt,  da  wird  es  zunäclist  zwar  auf  den  hitellekt  be- 
zogen; es  soll  aber  auf  den  Willen  und  auf  die  Sittlichkeit  hin- 
zielen. So  beruht  die  Wahrheit  auf  der  Reinheit.  So  entfaltet 
sich  die  Reinheit  zur  Wahrheit. 

Um  nun  aber  das  Reine  für  die  Ethik  in  Kraft  zu  setzen, 
vergegenwärtigen  wir  uns  zuvörderst,  was  es  in  der  Logik  zu 
bedeuten  hat,  und  zu  leisten  vermag.  Vor  Allem  befreit  es  uns 
von  dem  Vorurteil  der  Dinge;  von  dem  falschen  Anfang  mit 
den  Dingen,  vor  dem  schon  Descartes  gewarnt  hat,  indem  er  das 
reine  Denken  wieder  lebendig  machte.  Die  Gegebenheit  von 
Dingen  darf  uns  nicht  berücken,  als  ob  sie  den  unerlässlich 
richtigen  Anfang  der  Untersuchung  bildete;  als  ob  man  sclilechter- 
dings  an  diese  Gegebenheit,  als  an  die  unerlässlichc  Gewissheit, 
anknüpfen  müsste.  Die  Reinheit  lehrt  dagegen:  nicht  die  Dinge 
sind  das  Erste,  worauf  die  Untersuchung  der  Dinge  selbst,  sowie 
die  auf  den  Wert  dieser  Erkenntniss  gerichtete,  zu  achten  hat; 
sondern  die  Erkenntniss  von  den  Dingen,  sofern  sie  in  einer 
Wissenschaft  gegeben  ist,  muss  allemal  das  Erste  .sein.  Nicht 
also  die  Dinge,  sondern  die  wissenschaftlichen  Erkenntnisse  sucht 


Das  Ding  und  die  Sache.  89 

die  Reinheit  klarzuslellen.  Dadurch  erst  können  die  Dinge  selbst 
festgestellt  werden.  Sie  sind  nur  scheinbar  gegeben.  Die  Rein- 
heit erst  bringt  sie  an  den  Tag.  Nur  im  Dämmerlichte  des 
Problems  und  des  Vorwurfs  scheinen  sie  gegeben  zu  sein. 

Bedarf  nicht  etwa  auch  die  Ethik  dieser  Methode  der  Rein- 
heit, um  von  dem  Vorurteil  der  Dinge  zu  emancipieren?  Die 
Dinge  heissen  hier  die  Sachen.  Schon  logisch  ist  die  Methode 
notwendig,  um  den  Begrift  der  Sache  zu  erzeugen  und  zu  ent- 
wickeln; wie  er  zu  einer  Sache  der  Wirtschaft  wird,  zu  einem 
Gut,  zu  einer  Ware;  und  wie  das  Recht  ihn  zu  einem  Rechts- 
objekt stempelt,  zu  einem  Eigentum. 

Aber  schon  das  Verhältniss  von  Wirtschaft  und  Recht  lässt 
den  Nutzen  der  theoretischen  Reinheit  übergehen  auf  das  ethische 
Gebiet.  Denn  die  Sache,  die  als  Ware  in  der  Wirtschaft  ver- 
braucht wird,  ist  gemeinhin  nicht  ein  Naturprodukt,  sondern 
ein  Produkt  der  Arbeit.  Deckt  sich  nun  aber  ihr  Begriff  mit 
dem  Arbeitsertrage  des  Arbeiters  im  rechtlichen  Sinne?  Ist  sie  das 
Eigentum  des  Arbeiters?  Man  sieht,  wie  das  ethische  Problem 
schon  im  Begritle  der  Sache  mit  dem  theoretischen  zusammenstösst. 
Und  so  ist  überall  die  Methode  der  Reinheit  die  erste  Bedingung 
für  die  Bestimmung  der  sittlichen  Dinge,  der  sittlichen  Güter. 

Bei  Aristoteles  stösst  uns  Nichts  so  empfindlich  ab,  wie 
seine  Gleichgiltigkeit  gegenüber  dem  innern  Unterschiede  in  den 
Gütern  der  Kultur.  Die  äusseren,  die  äusserlichen  Lebensgüter, 
die  nur  so  lange  von  Wert  sind,  als  eine  einseitige  Richtung  der 
Politik  sie  aufrecht  erhält,  werden  von  ihm  als  nützliche  Werk- 
zeuge der  Tugend  anerkannt.  Auf  diesem  Opportunismus,  der 
den  Geburtsadel  als  ein  sittliches  Moment  konserviert,  beruht 
innerlichst  sein  Gegensatz  zum  Idealismus.  Die  Methode  der 
Reinheit  fordert  Unabhängigkeit  gegenüber  den  Mächten,  den 
Tatsachen,  den  Einrichtungen  und  Besitztiteln  der  Kultur. 
Opportunismus  wurzelt  im  Naturalismus  und  Materialismus.  Die 
grosse  Wirkung,  welche  von  Rousseau  ausging,  hatte  ihren 
Grund  und  ihr  Recht  in  dieser  Freiheit  und  Tapferkeit  gegenüber 
allen  den  grossen  Dingen  und  Mächten,  die  sich  untei  dem  Namen 
der  Kultur  zusammenzufassen  pflegen.  Deshalb  predigte  er  gegen 
diese  Kultur  die  Natur;  er  meinte  aber  die  Reinheit.  Was  er 
gemeint  hat,  das  hat  Kant  gelehrt. 


90  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein. 

Die  Methode  der  Reinheil  bezieht  sich  nicht  allein  auf  den 
Begriff  des  Objekts  und  der  Sache,  sondern  ebenso  auch  auf  den 
Begriff  des  Subjekts,  der  Person.  Die  neuere  Zeit  wird  seit  der 
Renaissance  von  einem  Terminus  förmlich  gestachelt,  der  im 
Altertum  gar  nicht  vorhanden  ist,  obwohl  das  Problem  das  ganze 
Altertum  in  seiner  Tiefe  durchzieht.  Das  Bewusstsein  ist  dieser 
neue  Ausdruck.  Freilich  hängt  die  Renaissance  überall  mit  der 
Antike  zusammen,  und  so  auch  in  diesem  praegnantesten  Ter- 
minus. Conscientia,  Mitwissen,  stammt  wahrscheinlich  aus  der 
stoischen  oüvc'Srjai;.  Und  in  der  stoischen  Terminologie  ist  die 
Begleitung,  welche  hier  dem  Wissen  zuerteilt  wird,  deutlich  zu 
erkennen.  Sie  besteht  in  den  kontrollierenden  höheren  geistigen 
Instanzen,  welche  die  Stoa  der  Vorstellung  bfeigeselll. 

Dennoch  aber  wird  man  versucht,  dem  Mitwissen  des 
modernen  Bewusstseins  eine  andere  innere  Sprachform  zu  er- 
denken. Es  ist,  als  ob  in  diesem  Mitwissen  die  beiden  Rich- 
tungen des  Bewusstseins  vereinigt  worden  seien.  Ist  es  doch 
ohnehin  manchmal  zweifelhaft  in  den  modernen  Sprachen,  ob 
unter  diesem  mitwissenden  Bewusstsein  nicht  sogar  vorzugsweise 
das  moralische  Bewusstsein,  das  Gewissen  verstanden  wird.  Und 
so  mag  es  sich  aus  dem  Problem  der  Wahrheit  erklären  lassen^ 
dass  Bewusstsein  das  Grundwort  geworden  ist,  welches  die  neue 
Zeit  von  der  Antike  unterscheidet. 

In  der  Philosophie  der  neuern  Zeit  hat  sich  demzufolge 
das  Bewusstsein  zum  Selbstbewusstsein  praezisiert.  Das  Schick- 
sal der  neuern  Philosophie  von  Descartes  ab  lässt  sich  an  der 
Entwickelung  dieses  Begriffs  beschreiben.  Aus  dem  Cogito 
Descartes'  wird  die  Einheit  der  Apperception  bei  Kant,  der 
diese  beiden  Begriffe,  die  er  von  Leibniz  übernahm,  seinerseits 
vereinigte.  Und  die  Philosophie  der  Romantik  operiert  voll- 
ständig mit  dem  Zauberwort  des  Selbstbewusstseins. 

Indessen  das  Selbstbewusstsein  hat  eine  nähere,  eigene 
sachliche,  vielmehr  persönliche  Bedeutung,  welche  unabhängig 
ist  von  der  Bedeutung,  die  ihm  als  einem  Prinzip  der  syste- 
matischen Philosophie  gegeben  oder  zugemutet  wurde.  Und  für 
diese  nächste  Bedeutung  hatte  Kant  vor  Allem  Descartes  gegen- 
über zu  arbeiten  und  zu  kämpfen.  Die  Paralogismen  der  ratio- 
nalen Psychologie  mussten  aufgedeckt  werden,    um    das  Ich  von 


Subjekt  und  Person.  91 

dem  dogmatischen  Seelenbegriffe  frei  zu  machen,  um  es  aus 
dem  Horizont  einer  dogmatischen  Psychologie  zu  entfernen,  und 
zu  einem  Zielpunkte  der  Ethik  zu  machen.  Darin  hat  sich  die 
Methode  der  Reinheit  für  den  Begriff  des  Subjekts  zu  bewähren 
und  durchzuführen.  Nicht  sowohl  um  das  Seelen-Subjekt  der 
Psychologie  handelt  es  sich,  als  vielmehr  um  das  Rechtssubjekt, 
um  die  Person  der  Ethik.  Die  Trennung,  die  Unterscheidung 
beider  Probleme,  des  psychologischen  und  des  ethischen,  im  Be- 
griffe des  Subjekts  ist  selber  ein  wichtiger  Ertrag  der  Methode 
der  Reinheit.    Aber  er  ist  keineswegs  der  einzige. 

Denn  die  gesamte  ethische  Constituierung  des  Subjekts,  der 
sittlichen  Person  wie  des  Rechtssubjekts,  vollzieht  sich  kraft 
dieser  Methode.  Wir  würden  unsern  Aufbau  vorwegnehmen 
müssen,  wenn  wir  im  Einzelnen  diese  Durchführung  darlegen 
wollten.  Nur  dies  sei  hervorgehoben,  dass  die  sittliche  Person 
nicht  als  gegeben,  oder  in  gewissen  natürlichen  Anlagen  und 
Bedingungen  bestimmt  angenommen  werden  darf.  Kein  Vor- 
urteil'des  Charakters,  des  guten  oder  des  bösen  Willens  darf 
uns  beirren  und  beengen.  Das  Subjekt  ist  nicht  die  Seele,  die 
daher  ethisch  so  leicht  zum  Gespenst  wird;  und  das  Subjekt 
wird  nicht  schlechterdings  geboren,  und  nicht  schlechterdings 
vererbt;  sondern,  wieviel  immer  Geburt  und  Vererbung  zu  be- 
rücksichtigen sein  mögen,  es  bleibt  doch  immer  ein  neues  und 
eigenes  Problem,  welches  keineswegs  in  den  gegebenen  Momenten 
und  Bedingungen  restlos  aufgeht.  Auch  für  den  Begriff  des  Sub- 
jektes also  befreit  die  Methode  der  Reinheit  von  den  Vorurteilen, 
denen  zufolge  heute  mehr  als  jemals  Vernunft  Unsinn  und  Wohl- 
tat Plage  wird. 

Diese  Bedeutung  unserer  Methode  ist  so  sehr  eingreifend 
und  so  sehr  grundlegend,  dass  man  ihretwegen  allein  die  Ethik 
mit  ihr  errichten  müsste.  Denn  welchen  Sinn  hätte  die  Ethik, 
wenn  das  Subjekt  als  gegeben,  als  geboren  und  in  seinem  Milieu 
erzogen,  schlechterdings  zu  fassen  wäre?  Die  Ethik  ginge  dann 
eben  in  Anthropologie  auf,  die  ihrerseits  dieses  menschliche  Sub- 
jekt zur  Demonstration  brächte.  Die  Methode  der  Reinheit  da- 
gegen sucht  diejenigen  Bedingungen  und  Begriffe  zu  ermitteln, 
welche  den  Begriff  des  Menschen,  wie  wir  jetzt  sagen  dürfen, 
nach  dem  Grundgesetze   der  Wahrheit   zu  Stande   bringen.     Die 


92  Die  Zweideutigkeit  des  Gesetzes 

Wahrheit  anerkennt  nicht  ausschliesslich,  noch  vorzugsweise  das 
theoretische  Interesse  an  dem  Menschen  der  Natur:  sie  fordert 
zugleich  das  ethische  Interesse  an  dem  Menschen  der  Kultur  und 
der  Weltgeschichte. 

Die  Methode  der  Reinheit  erläutert  indessen  nicht  nur  den 
Begriff  des  Objekts  und  den  Begriff  des  Subjekts;  sondern  ebenso 
auch  denjenigen  Grundbegriff,  der  das  Ziel  aller  Erkenntniss 
bildet:  den  Begriff  des  Gesetzes.  Wir  sind  schon  darauf  auf- 
merksam gewesen,  wie  an  diesem  Worte  in  der  griechischen 
Sprache  und  Kultur  alle  Richtungen,  Parteiuungen  und  Irrungen 
sich  widerspiegeln.  Der  Nomos  ist  das  Zugeteilte,  also  auch  die 
Satzung  ($'jv^V;xr^).  Andererseits  ist  er  aber  auch  der  Zuteiler, 
also  auch  das  Gesetz.  In  dem  einen  Falle  bedeutet  er  die  Will- 
kür und  den  Wechsel  der  Convention,  in  dem  andern  das  Ewige, 
dessen  Herkunft  man  nicht  kennt;  und  daher  das  Unverbrüch- 
liche, das  alle  menschliche  Bestimmung  überragt,  und  allem 
Guten  in  den  menschlichen  Gesetzen  als  schöpferischer  Keim  zu 
Grunde  liegt.  * 

So  schwankt  der  Begriff  des  Gesetzes  von  der  Politik,  und 
nicht  minder  auch  von  der  Religion  her,  auch  in  der  Ethik  seit 
dem  Zeitalter  der  Sophisten.  In  der  Tat  ist  die  Dogmatik  des 
Gesetzes  nicht  minder  verwirrend,  als  die  des  Objekts  und  des 
Subjekts.  Wie  man  vergängliche,  auch  in  der  Schätzung  der 
Menschen  vergängliche  Güter  fälschlich  als  sittliche  ausgibt, 
und  wie  man  die  Seele  nach  dem  Gleichniss  eines  Italieners  der 
Renaissance  auf  den  Stuhl  setzen  zu  können  glaubt,  um  in  ihr 
die  sittliche  Person  zu  etablieren,  so  schreckt  man  mit  dem 
Wort  des  Gesetzes  nicht  nur  den  Zweifel,  sondern  auch  die  Be- 
gründung zurück.  Und  es  ist  nicht  allein  die  Satzung,  die  in 
dem  Gesetze  nachwirkt;  sondern  auch  das  Feste  und  Unab- 
änderliche, welches  dem  Gesetze  den  dogmatischen  Nebensinn 
erhält.  Dieser  Dogmatismus  ist  Naturalismus  und  Empirismus 
in  der  Ethik,  wie  in  der  Logik. 

Die  Logik  der  reinen  Erkenntniss  hat  hauptsächlich  den 
Platonischen  Grundgedanken  wieder  zur  Entdeckung  gebracht, 
dass  aller  Grund  des  Seins  nicht  sowohl  in  an  sich  gegebenen 
Grundlagen  angenommen  und  gesucht  werden  dürfe,  sondern  in 
Grundlegungen.    Die  Idee  ist  Hypothesis.     Das  ist  die  einzig 


Das  Sichere  der  Hypothesis.  93 

zulängliche  Charakteristik  und  Bezeichnung  der  Idee.  Dass  sie 
Substanz,  dass  sie  das  wahrhatte  Sein  bedeute,  das  ist  nicht  die- 
jenige Bedeutung,  welche  Piaton  eigentümlich  ist.  Diese  hat 
er  von  Pythagoras  und  von  Parmenides  übernommen.  Und 
dass  sie  Begriff  sei,  auch  darin  besteht  keineswegs  Piatons  letzte 
Bestimmung.  Diese  hat  er  vielmehr  dem  Sokrates  entnommen. 
Die  Originalität  Piatons  besteht  allein  in  der  Charakteristik  der 
Idee  als  Hypothesis. 

Es  ist  ein  Symptom  für  den  äusserlichen  Zustand,  in  dem 
sich  die  selbständig,  nämlich  isoliert  einherziehende  Geschichte 
der  Philosophie  befindet,  dass  sie  diesen  Terminus  in  den  Pla- 
tonischen Worten  nicht  aufzufinden,  und  ihn  in  den  Mittelpunkt 
seines  Lehrgebäudes  einzufügen  vermochte.  Und  doch  haben 
die  grossen  Geister  der  mathematischen  Renaissance,  Copernicus, 
wie  Kepler,  ihn  als  den  eigentlichen  Anker  hervorgezogen. 
Aber  auch  hier  ist  es  wie  bei  dem  Gesetze  ergangen.  Auch  die 
Hypothese  schwankt  in  ihrer  Bedeutung. 

Bald  ist  sie  der  Ausgang  und  der  Grund  der  Theorie;  bald 
ist  sie  nicht  viel  mehr  als  Vermutung.  Auch  hier  bildet  der 
Dogmatismus  als  Naturalismus  und  Empirismus  die  Wurzel  des 
Vorurteils.  Alle  Theorie,  alles  Gesetz  kann  keinen  andern  Grund 
haben,  als  den  die  Grundlegung  legt.  Und  keine  andere  Sicher- 
heit und  Gewissheit  kann  es  geben,  als  welche  in  der  Grund- 
legung besteht.  Das  Sichere  der  Hypothesis  (i6  docpaXsc  xf^^  üro&eoscu;), 
so  beglaubigt  Plato  selbst  seine  Hypothesis.  Und  doch  ist  sie 
auf  die  Uebereinstimmung  mit  den  Erscheinungen  angewiesen, 
auf  den  Erfolg,  den  sie  für  die  zusammenhängende  Erklärung 
der  Erscheinungen  und  der  Probleme  zu  erzielen  vermag.  Erzielt 
sie  diesen  Erfolg  nicht,  so  hat  sie  sich  eben  als  Hypothesis  nicht 
bewährt;  aber  den  Geltungswert  der  Hypothesis  kann  das  einzelne 
Beispiel  derselben  nicht  erschüttern.  Die  Hypothesis,  sofern  sie 
ihren  Begriff  erfüllt,  hat  Sicherheit  und  Gewissheit.  Eine  andere 
Gewissheit  gibt  es  nicht. 

So  durchbricht  der  Begriff  der  Hypothesis  das  Vorurteil 
des  Gesetzes  für  die  Naturerkenntniss,  das  V^orurteil  des  Natur- 
gesetzes. Nicht  minder  verwirrend  für  das  gesamte  Problem 
der  Ethik  ist  diese  falsche  Ansicht  vom  Gesetze  im  Sittengesetz. 
Von    dem   Befehl   einer  auswärtigen   Macht  dürfen  wir  absehen; 


^  Psyche  und  Ethos. 

darin  liegt  die  geringere  Gefahr.  Denn  wenn  Gott,  wie  im  Mono- 
theimus,  als  der  gute  Gott,  als  der  Gott  des  Guten  gedacht  wird, 
so  mag  er  immerhin  befehlen;  kann  er  doch  nur  das  Gute  be- 
fehlen. Es  bleibt  alsdann  nur  der  methodische  Unterschied 
zwischen  der  Wissenschaft  der  Ethik  und  der  Religion  übrig, 
die  dadurch  zur  Wissenschaft  werden  müsste,  indem  sie,  was 
Sittlichkeit  sei,  lehren  will,  während  sie  die  Methodik  der  Be- 
gründung, die  zum  Lehren  gehört,  nicht  besitzt  und  sich  nicht 
aneignen  kann.  Sonst  aber  ist  der  Sinn  des  göttlichen  Ge- 
setzes keineswegs  die  grösste  Gefahr  für  den  Begriff  des  Sitten- 
gesetzes. 

Die  Gefahr  des  wissenschaftlichen  Dogmatismus  liegt  in  dem 
philosophischen,  dem  angeblich  metaphysischen  Vorurteil,  dass 
das  Fundament  der  Moral  als  ein  Naturgesetz  zu  denken 
sei,  als  ein  Gesetz  in  unseren  Gliedern.  Und  nun  teilen  sich  von 
dieser  Einheit  aus  die  Wege  und  die  Richtungen.  Die  Einen 
sagen,  wir  täten  Alles  nur  aus  Mitleid;  die  Anderen  dagegen, 
nur  aus  Rache.  In  alle  Winde  splittert  sich  der  sogenannte 
moralische  Sinn.  Und  überall  hin  wirkt  er,  und  wird  er  wie 
ein  Fatum  gedacht;  wird  er  doch  schon  in  allen  Richtungen  und 
Deutungen  als  solches  offenbart.  Das  sei  der  einzige  Halt  in 
allen  Gedanken  und  Anschauungen  der  Sittlichkeit  unter  den 
Menschen;  dieser  Halt  liegt  in  ihrer  Psychologie;  genauer  müsste 
man  sagen,  in  der  Physiologie;  denn  die  Affekte  hat  man  stets 
in  die  schmale  Grenzlinie  beider  Gebiete  verlegt. 

Es  ist  interessant,  dabei  den  Unterschied  in  den  griechischen 
Worten  zu  beachten.  Die  Psychologie  knüpft  an  die  Psyche 
an;  die  Ethik  dagegen  an  das  Ethos.  Sicherlich  ist  das  Ethos 
eine  Art  objecti vierter  Psyche;  denn  was  ist  der  Charakter 
Anderes?  Aber  darauf  gerade  ist  es  abgesehen,  dass  die  Ethik 
nicht  von  der  Psyche  ausgeht;  nicht  auf  die  Psyche  centriert  ist; 
sondern  dass  ein  vieldeutiges  Wort  dagegen  zum  Problem  ge- 
macht wird.  Wenn  man  aber,  wie  es  die  Naturalisten  des 
Affektes  tun,  das  Sittengesetz  nur  als  ein  Naturgesetz  zu  denken 
vermag,  so  kommt  man  eben  auf  die  Seele  und  auf  die  Meta- 
physik der  rationalen  Psychologie  zurück;  und  das  eigene 
Methodengebiet  der  Ethik,  die  an  das  Ethos  anknüpft,  geht 
verloren. 


Die  Hypothesis  das  Werkzeug  der  Wahrheit.  95 


Wie  alle  unkritische  Metaphysik  im  letzten  Grunde  mit 
dem  Naturalismus  und  dem  Empirismus  verquickt  ist,  so  zeigt 
es  sich  auch  hier.  In  den  Gliedern  sucht  man  das  Ewige  des 
Sittengesetzes  zu  fassen;  in  der  Geschichte  dagegen  soll  Alles 
wandelbar  und  vergänglich  sein.  Da  soll  es  nichts  Festes  und 
Bleibendes  geben  dürfen;  da  soll  Alles  nur  dem  Wechsel  unter- 
worfen sein.  Im  Sittlichen  also,  wie  es  in  der  Geschichte  der 
Menschheit  sich  ^vollzieht,  soll  es  nichts  Absolutes  geben;  das 
Absolute  reserviert  man  für  den  Verkehr  und  den  Vertrag  mit  der 
Religion.  Für  die  Sittlichkeit  bleibt  daher  nur  der  platte 
Relativismus  übrig.  Die  sittlichen  Lehren  werden  Meinungen. 
Und  die  Meinung  ist,  wie  der  HegeFsche  Witz  lautet,  die 
Meinige. 

Weil  die  Güter  des  Lebens  und  der  Kultur,  wie  sie  ins- 
gemein verstanden  wird,  von  zweifelhaftem  Werte  sind;  von 
einem  Werte,  der  in  den  Relationen  der  unsittlichen  und  der 
sittlichen  Verhältnisse  hin-  und  herschwankt,  darum  sollen  die 
Begriffe  des  Sittlichen  schlechterdings  eines  gesetzlichen  Charakters 
entbehren  müssen.  Die  Missdeutung  des  Sittengesetzes  als  eines 
Naturgesetzes  führt  zu  der  Verwechselung  des  sittlichen  Begriffs 
und  Gesetzes  mit  einem  angeblichen  sittlichen  Objekt  und  einem 
Gute  der  Kultur.  Der  methodische  Grund  dieser  Missdeutung 
und  dieser  Verwechselung  liegt  jedoch  in  dem  Nichtverstehen 
der  Reinheit  und  ihres  Ertrages  in  der  Hypothesis. 

So  bewährt  sich  die  Hypothesis  als  das  Werkzeug 
der  Wahrheit.  Es  gibt  keine  zwiefache  Wahrheit;  die 
Hypothesis  bildet  auch  für  das  Naturgesetz  den  Grund  der  Ge- 
wissheit. Daher  ermangelt  auch  die  Ethik  der  Gewissheit  nicht, 
wenn  sie  auf  einer  Grundlegung  sich  aufbaut.  Sie  darf  ein  an- 
gebliches Naturgesetz  verschmähen,  dessen  wahrer  Wert  doch 
vielmehr  nur  auf  einer  Grundlegung  beruht.  Sie  darf  des  Ewigen, 
auf  das  sie  baut,  gewiss  bleiben,  indem  sie  dasselbe  in  einer 
methodischen  Grundlegung  errichtet.  So  fordert  es  das  Grund- 
gesetz der  W^ahrheit.  Frage  bleibt  nur,  ob  die  Reinheit,  wie 
sie  für  die  Begriffe  des  Objekts,  des  Subjekts  und  des  Gesetzes  in 
Aussicht  genommen  wird,  an  dem  Material  sich  durchführen 
lässt,  auf  welches  das  Objekt,  das  Subjekt  und  das  Gesetz  in  der 
Ethik  angewiesen  sind. 


96  Der  Trieb 


In  der  Logik  kennt  man  das  entsprechende  Material;  es 
besteht  im  Denken.  Welche  psychologische  Tätigkeitsform  ent- 
spricht dem  Denken  für  die  Aktion  der  Sittlichkeit?  Die  Berück- 
sichtigung der  Psychologie  ist  jetzt  nicht  zu  vermeiden;  so  wenig, 
als  in  der  Logik  beim  Denken.  Aber  so  wenig  in  der  Logik  der 
Gebrauch  des  Wortes  Denken  zu  einer  weitern  Abhängigkeit 
von  der  Psychologie  zu  führen  braucht,  dieweil  für  diese  das 
Denken  nichts  Anderes  als  Vorstellung  bleiben  müsste,  so  wenig 
droht  uns  an  diesem  Kreuzwege  der  Konflikt  mit  der  Psychologie. 
Der  natürlichen  Reflexion  wird  die  Einsicht  entnommen,  dass 
das  Wesen  des  Menschen  in  seinem  Tun  und  Treiben  sich  dar- 
legt. Das  Tun  aber  erscheint  der  natürlichen  Beobachtung  als 
das  Resultat  von  Etwas,  für  welches  das  Treiben  eine  Ursache  in 
der  Sprache  ansetzt.  Das  Treiben  rührt  vom  Triebe  her.  Aus 
ihm  entspringt  alles  Tun.  So  wird  im  Triebe  eine  psychische 
Qualität  bestimmt.  Der  Trieb  wird  zur  Grundlage  des 
Geschöpfes.  Im  Hebräischen  steht  Eine  Wurzel  für  Trieb  und 
Geschöpf.  Der  Trieb  ist  der  Herd  alles  Tuns.  In  ihm  liegt  der 
Quell  alles  Regens  und  Begehrens. 

Bei  dieser  natürlichen  Psychologie  darf  es  aber  nicht  ver- 
bleiben; und  es  ist  dabei  nicht  geblieben.  Wir  haben  es  schon 
beachtet,  dass  Plato  seine  Psychologie  ebenso  in  der  Ethik,  wie 
in  der  Logik,  erzeugt  und  entwickelt;  ebenso  in  der  Charakteristik 
des  Willens,  wie  in  der  des  Denkens  und  der  Erkenntniss.  Wir 
werden  daher  zu  verfolgen  haben,  wie  die  Methode  der  Reinheit 
den  Begriff*  des  Willens,  des  reinen  Willens  zu  erzeugen  hat. 
Der  reine  Wille  entspricht  dem  reinen  Denken,  dem 
Denken  der  reinen  Erkenntniss. 

Nur  eine  wichtige  Vorfrage  ist  hier  noch  zu  erörtern.  Sie 
betrink  unser  Grundgesetz  der  Wahrheit;  nämlich  die  Einheit- 
lichkeit der  Methode  für  Logik  und  Ethik.  Lässt  sich  auch  für 
das  in  Aussicht  stehende  psychologische  Material,  für  den  reinen 
Willen,  wie  für  die  Grundbestimmungen  des  reinen  Denkens, 
die  Durchführung  der  Methode  erwarten  und  in  Angrifl'  nehmen? 

Diese  Frage  ist  methodologisch  von  entscheidender  Be- 
deutung; das  Problem  der  Ethik,  als  einer  Ethik  des  reinen 
Willens,  hängt  an  ihr.  Aber  auch  positiv  führt  sie  der  Aus- 
führung näher.    Stellen  wir  also  getrost  die  Frage:   ob   sich   die 


Anwendbarkeit  der  Continuität  97 


GrundbegrifTe,  welche  die  Logik  für  das  Denken  der  reinen  Er- 
kenntniss  auszeichnet,  auch  auf  die  Ethik  des  reinen  Willens 
zur  Anwendung  bringen  lassen. 

Die  Logik  vollzieht  und  begründet  die  Reinheit  im  letzten 
Grunde  durch  das  Urteil  des  Ursprungs.  Der  Ursprung  ist 
der  tiefste  Ankergrund,  den  das  reine  Denken  festlegt.  Nichts 
darf  dem  reinen  Denken  als  gegeben  gelten;  auch  das  Gegebene 
muss  es  sich  selbst  erzeugen..  Auch  das  Was,  als  das  Etwas, 
darf  ihm  nicht  das  letzte  Wort  der  begriflflichen  Sprache  sein. 
Vor  dem  Nichts  darf  es  nicht  zurückschrecken.  Es  selbst  zwar 
bleibt  ein  Ungedanke,  aber  als  ein  Mittel  des  reinen  Denkens 
wird  es  anerkannt.  Es  ist  ein  Umweg,  den  das  Denken  gehen 
muss,  weil  es  bei  dem  Etwas  nicht  Halt  machen  darf.  Um  dem 
Etwas  auf  den  Grund  zu  kommen,  wird  von  ihm  selbst,  als 
einem  letzten  Grunde,  abgesehen. 

Wird  doch  das  Sein  selbst  sogar  zu  einem  blossen  Worte, 
zu  einem  Relationsbegriff.  Für  den  Grund  des  Seins  tritt  eine 
andere  Kategorie  ein.  Da  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  dass 
das  Etwas  nicht  am  Anfang  stehen  kann,  so  wenig  als  das  Sein. 
Darum  darf  aber  auch  an  der  Paradoxie  kein  ernstlicher  Anstoss 
genommen  werden,  welche  in  unserer  Charakteristik  das  unend- 
liche Urteil  bildet.  Ist  es  doch  dasjenige  Urteil,  in  welchem  trotz 
allem  scheinbaren  Spiele  mit  dem  Nichts  der  Grundsatz  der 
Continuität  sich  ausprägt. 

Darüber  aber  entsteht  die  eigentliche  schwere  Frage:  ob 
das  Gesetz  der  Continuität  von  der  Logik  auf  die  Ethik 
als  übertragbar  gelten  kann.  Mag  immerhin  der  Ursprung 
sich  für  den  reinen  Willen  noch  denkbar  erweisen;  das  lässt 
sich  wenigstens  annehmen.  Mag  demnach  auch  immerhin  die 
Realität  selbst  für  die  Ausführung  des  reinen  Willens  als  an- 
wendbar gedacht  werden  können ;  die  durchgreifende  Frage  bleibt 
immer,  ob  das  Denkgesetz  der  Continuität  auch  für  den  Willen 
und  also  für  die  Ethik  anwendbar  werden  kann.  Es  regt  sich 
der  Verdacht,  als  ob  es  sich  hier  nur  um  eine  blosse,  leere 
Metapher  handeln  könnte. 

Die  Continuität  ist  ja  etwas  ganz  Anderes  als  die 
Identität.  Diese,  so  sehr  sie  das  reine  Denken  bedingt,  mag 
auf  den  reinen  Willen  übertragbar  werden;   denn   auch   in  ihm 


98  Der  Begriff  des  Willens. 

ist  Denken  vorhanden  und  nicht  auszulöschen.  Die  Continuitat 
dagegen  müsste  sich  ja  auf  das  Wollen  selbst  übertragen  lassen, 
wenn  anders  dieses  Wollen,  gemäss  der  Continuitat,  aus  seinem 
Ursprünge  erzeugt  und  dadurch  zum  reinen  Wollen  gemacht 
werden  muss.  Hier  entsteht  also  die  Gefahr,  dass  der  mathe- 
matische Vollwert  der  Continuitat  in  Misskredit  geraten  könnte, 
wenn  dieser  Begriff  für  die  Ethik  zu  einer  historischen  Metapher 
missbraucht  würde;  wie  sehr  immer  für  den  historischen  Sprach- 
gebrauch dieselbe  von  Nutzen  sein  mag.  Die  Methode  der  Rein- 
heit, auf  Grund  der  Wahrheit,  fordert  die  Einhaltung  des  strengen 
Sinnes  der  Continuitat 

Dieser  Zweifel  an  der  Anwendbarkeit  der  Continuitat  auf 
den  ethischen  Begriff  des  Willens  beruht  jedoch  auf  einer  mangel- 
haften Einsicht  von  dem  ethischen  Problem  und  seinem  Ver- 
hältniss  zum  Begriffe  des  Willens.  Mit  anderen  Worten,  es  ist 
psychologische  Befangenheit,  unter  der  dieses  Bedenken  sich  ein- 
nistet. Man  meint  eben,  die  Psychologie  und  nur  sie  habe  den 
Begriff  des  Willens  zu  entwickeln;  und  man  hält  es  nicht  für 
buchstäblich  richtig,  dass  die  Psychologie  keine  Competenz,  ja 
keinen  Anlass  hätte,  vom  Willen  zu  handeln,  —  vom  Willen, 
nicht  von  Trieb  und  Begierde  —  wenn  nicht  die  Ethik  den 
Begriff  entdeckte. 

Ein  Begriff  ist  es,  mit  allen  Complicationen  und  Schwierig- 
keiten des  Begriffs,  als  der  der  Wille  zu  bestimmen  ist.  Es  ist 
keineswegs  eine  unmittelbare  Naturtatsache,  die  zu  analysieren 
wäre.  Wenn  es  sich  aber  um  eine  Complication  begrifflicher 
Momente  handelt,  und  um  eine  Vereinigung  derselben  in  die 
Einheit  des  Begriffs  vom  Willen,  so  lässt  es  sich  verstehen,  dass 
das  Gesetz  der  Continuitat  bei  dieser  Begriffsbildung  des  Willens 
in  Kraft  treten  kann;  wenn  anders  die  Continuitat  nicht  lediglich 
in  der  Mathematik  und  Physik  zum  Vollzug  kommt. 

Der  Unterschied  in  der  Erörterung  des  Willens,  wie  die 
Ethik  sie  anzustellen  hat,  gegenüber  der  Psychologie,  liegt  in  der 
Berücksichtigung  des  Begriffs  der  Handlung.  Für  die  Ethik 
kann  und  darf  es  kein  Wollen  geben,  das  nicht  in  Handlung  sich 
vollzieht.  Wie  sehr  man  den  Entstehungsgründen  des  Willens 
nachspüren  und  ihrer  Entwickelung  nachgehen  muss,  so  darf 
man   doch   darauf  sich   nicht  beschränken;   sondern  man  muss 


Der  Wille  und  die  Handlung.  09 


ebenso  genau  immer  auf  das  Ende  achten.  Ohne  den  Ausgang, 
den  das  WoDen  nimmt,  ist  kein  Wollen  anzunehmen.  Die  so- 
genannte Absicht  und  die  Gesinnung  entziehen  sich  mensch- 
licher Einsicht. 

Wie  sehr  femer  auch  ein  Antrieb  angeboren  und  ererbt 
sein  mag,  so  darf  er  dennoch  nicht  als  der  Herd  und  Quell  des 
Willens,  wie  die  Ethik  ihn  braucht,  anerkannt  werden.  Alle 
diese  Psychologie  gehört  in  die  Metaphysik  des  Ding  an 
sich,  die  die  Rätsel  der  Welt  als  Rätsel  aufgibt,  um  sie  in  Rätsel- 
worten lösbar  erscheinen  zu  lassen.  Die  Ethik  trennt  den  Anfang 
des  WoUens  nicht  von  seinem  Ende  ab.  Daher  gehört  für  sie 
der  Wille  und  die  Handlung  zusammen.  Das  ist  schon 
das  erste  Zeichen  von  der  Bedeutung  der  Continuität  für  die 
Ethik  des  Willens. 

Aber  sie  erstreckt  sich  weiter.  Schon  bem  Wollen  tut  sich 
eine  schier  unübersehbare  Menge  und  Mannigfaltigkeit  von 
Elementen  und  Ansätzen  hervor,  die  auf  Triebbewegungen  zurück- 
zugehen scheinen.  Und  indem  es  aus  diesem  Gewirr  heraus 
dennoch  zur  Handlung  kommt,  so  türmen  sich  hier  dieselben 
Hemmnisse  nur  noch  gesteigert  auf.  Zu  dem  Gewühl  von 
Trieben  tritt  das  Gemisch  und  Gewirr  von  Gedanken 
und  Vorstellungen  hinzu.  Wie  soll  es  dabei  zu  einer  Ein- 
heit der  Handlung  kommen,  die  dennoch  aber  gefordert  wird; 
ohne  die  der  BegritTder  Handlung  nicht  zustande  kommen  kann? 

Hier  gerade  wird  das  Denkgesetz  der  Continuität  der  Ethik 
seine  Hilfe  leisten.  Und  hier  wird  das  Urteil  des  Ursprungs, 
und  ebenso  das  der  Realität  sich  wirksam  erweisen;  wirksam 
und  hilfreich.  Denn  es  ist  freilich  ja  eine  Nachwirkung  der 
Logik,  von  der  die  Ethik  hier  ihren  Nutzen  zieht.  Aber  das  ist 
ja  ihr  Recht  und  ihre  Aufgabe.  So  fordert  es  das  Grundgesetz 
der  Wahrheit. 

Wir  w^ollen  nicht  weiter  in  der  Darlegung  dieser  Beziehung 
des  Ursprungs,  der  Realität  und  der  Continuität  auf  den  Begrifl 
des  Willens  eingehen;  würden  wir  dadurch  doch  nur  der  Dar- 
legung dieses  BegrifTs  vorgreifen.  Nur  ein  Moment  sei  noch  her- 
vorgehoben, weil  es  mit  dem  Problem  der  Wahrheit  zusammen 
gehört.  In  dem  Willen,  insbesondere  auch  in  der  Handlung 
bildet  das  Moment  der  Bewegung  die  hauptsächliche  Schwierig- 


7» 


100  Bewegung  und  Bewusstsein. 


keit.  Der  Wille  gilt  als  etwas  Inneres;  und  wenn  er  noch  so 
sehr  auf  Ansätze  und  Impulse  zurückgeführt  wird,  so  werden 
diese  als  geheimste  Regungen  des  Innern  angesehen. 

Daher  konnte  der  Gedanke  entstehen  und  Grundlage  einer 
Weltanschauung  werden,  und  als  solcher  sich  immer  wieder  er- 
neuern, dass  der  Wille  und  der  Intellekt  Dasselbe  seien. 
Die  Handlung  dagegen  macht  auf  den  Unterschied  aufmerksam. 
Sie  beachtet  man  daher  nicht  als  einen  integrierenden  Bestand- 
teil des  Willens,  wenn  man  auf  die  Identität  ausgeht.  In  der 
Handlung  erstreckt  sich  die  Bewegung.  Und  diese  Bewegung 
kann  nicht  lediglich  als  eine  innere  genommen  werden,  wie  jene 
keimhaften  Triebbewegungen;  denn  sie  geht  geradezu  auf  das 
Aeussere  und  auf  die  Veräusserung  aus.  So  deckt  sie  denn  den 
Gegensatz  auf,  der  in  dem  Willen  gelegen  ist. 

Dieser  Gegensatz  wird  zum  Widerspruch  unter  der  herr- 
schenden Ansicht  von  dem  Begriffe  der  Bewegung,  demzufolge 
die  Bewegung  zur  Materie  gehöre:  Matter  and  Motion;  das 
Denken  allein  aber  das  Bewusstsein  charakterisiere.  Wenn 
daher  in  der  Handlung  und  also  auch  im  Willen  Bewegungen 
sich  vollziehen,  so  entsteht  das  schwere  Bedenken,  dass  dadurch 
der  Wille  materialisiert  würde.  Oder  aber  es  entsteht  kein  Be- 
denken darüber,  und  man  zieht  die  Folgerung  daraus,  dass  nicht 
nur  der  Unterschied  im  Allgemeinen  hinfallig  sei,  was  uns  hier 
nicht  weiter  zu  irritieren  braucht;  sondern  auch  dass  er  für  den 
Begriff  des  Willens  irrelevant  sei.  Diese  Consequenz  würde  aber 
nur  dem  psychologischen  Vorurteil  zustatten  kommen;  denn 
für  die  Ethik  dürfte  es  doch  wohl  nicht  gleichgiltig  scheinen, 
ob  die  Handlung  aus  so  heterogenen  Elementen,  wie  die  materielle 
Bewegung  und  das  abstrakte  Denken  sind,  zur  Einheit  gebracht 
werden  kann. 

Unsere  Logik  der  reinen  Erkenntniss  hat  nun  aber  zeigen 
wollen,  dass  diese  Heterogeneität  nicht  vorhanden  ist:  dass  viel- 
mehr im  Denken  selbst,  in  den  reinsten  P'ormen  des  Denkens 
die  Bewegung  auftaucht  und  sich  durchsetzt.  So  hat  sie  sich 
im  Urteile  der  Mehrheit  und  in  der  Kategorie  der  Zeit 
bereits  als  das  schaffende  Motiv  erwiesen.  Es  ist  also  kein 
Widerspruch  zwischen  Bewegung  und  Denken,  wie 
zwischen   Materie   und   Bewusstsein;   sondern    im  Denken  selbst 


Projektion  des  Voreinander.  101 


i^'altet  die  Bewegung.  Und  das  Denken  selbst  könnte  nicht  nur 
nicht  zur  Vollendung,  nicht  zur  Entwickelung  kommen;  sondern 
es  könnte  gar  nicht  seine  Erzeugung  des  wissenschaftlichen  In- 
haltes beginnen,  wenn  es  nicht  als  reine  Bewegung  sich  zu  voll- 
ziehen vermöchte. 

Wenn  aber  die  Bewegung  schon  Denken  ist,  so  kann  nicht 
nur  widerspruchslos  im  Willen  Bewegung  enthalten  sein;  die 
Eigenart  des  Willens  darf  zugleich  sich  behaupten,  welche  in 
der  Bewegung  des  Triebes  und  der  Handlung  sich  darlegt;  sie 
braucht  nicht  zum  Denken  des  Intellekts  nivelliert  zu  werden. 
Bewegung  und  Denken  sind  Beide  Bewusstsein;  Beide 
aber  selbständige  Arten  des  Bewusstseins,  die  zwei  Arten 
der  Vernunftinteressen  vertreten. 

Unsere  logische  Charakteristik  der  Zeit  wird  hier  von  be- 
sonderem Nutzen.  Wir  fassen  die  Zeit  nicht  als  Succession  des 
Nacheinander,  sondern  als  die  Projektion  gleichsam  des  Vor- 
einander. Die  Zukunft  geht  uns  voran,  und  die  Vergangenheit 
folgt  nach.  In  dieser  Anticipation  der  Zukunft,  auf  welcher  die 
Zeit  beruht,  betätigt  sich  nun  aber  auch  die  Bewegung  und  die 
Begehrung. 

So  zeigt  es  sich,  dass  die  logische  Charakteristik  der  Be- 
wegung und  der  Zeit  zugleich  in  sich  enthält  die  psychologische 
Analyse,  von  welcher  die  Charakteristik  des  Willens,  welche  die 
Ethik  anzustreben  hat,  nicht  absehen  kann.  Ja,  es  bedarf  gar 
nicht  einmal  der  psychologischen  Analyse  als  einer  Vermittelung; 
vielmehr  steht  die  ethische  Begriffsbestimmung  unmittelbai*  auf 
dem  logischen  Grunde.  Und  was  Logik  und  Ethik  von  Be- 
wegung und  Willen  lehren,  davon  hat  die  Psychologie  auszugehen. 

Man  sieht  nun  aber  hieraus  zugleich,  dass  es  nicht  eine 
Anpassung  ist,  in  welcher  die  Methode  der  Reinheit  von  der 
Logik  auf  die  Ethik  übertragen  wird.  Denn  diese  Reinheit, 
welche  in  der  logischen  Charakteristik  der  Bewegung  zu  Tage 
tritt,  ist  an  und  für  sich  auf  die  Ethik  bezogen;  man  könnte 
denken  berechnet.  Die  Art  des  Willens  wird  bereits  durch- 
sichtig bei  dieser  Beleuchtung  der  Art  des  Denkens. 
Denn  das  war  es  doch  immer,  was  den  Willen,  was  die  Begierde 
vom  Denken  unterschied,  dass  sie  gleichsam  vor  uns  herhüpft, 
während    das    Denken   bedächtig    einherschreitet;    Schritt    nach 


102  Bewegung  im  Denken  und  Wollen. 


Schritt;  nicht  Schritt  vor  Schritt.  Jetzt  aber  sieht  man  nun, 
dass  ebenso  auch  das  Denken  springt  und  vorauseilt,  und  in 
diesem  Vorauseilen  und  Vorwegnehmen  Reih  und  Glied  erst 
bildet;  in  dieser  Anticipation  seine  Ordnung  nicht  nur,  sondern 
auch  seinen  Inhalt  erzeugt. 

Von  dieser  Gleichartigkeit  aus,  die  so  in  Bewegung  und 
Denken,  und  also  in  Willen,  Handlung  und  Denken  erkennbar 
wird,  eröffnet  sich  die  Möglichkeit,  die  volle  Statthaftigkeit  der 
Anwendung  des  Grundgesetzes  der  Continuität.  Aber  das 
wollen  wir  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  ausführen.  Dahingegen 
sei  hier  nur  noch  betrachtet,  was  sich  an  diesem  Beispiel  für  unser 
Grundgesetz  der  Wahrheit  herausstellt.  Es  bedeutet  uns  die 
Einheitlichkeit  des  theoretischen,  des  logischen  und  des  ethischen 
Problems.  Wir  hatten  gesagt,  dass  weder  in  der  Logik  allein, 
noch  in  der  Ethik  allein  Wahrheit  bestehe;  dass  sie  vielmehr 
lediglich  in  der  Verbindung,  in  der  Harmonie  Beider  enthalten 
sei.  Es  war  aber  dabei  der  Ausdruck  untergelaufen,  dass  die  Wahr- 
heit der  Logik  erst  von  der  Ethik  her  zuwachse.  Wir  hatten  den 
Ausdruck  sogleich  zu  verbessern  gesucht.  Jetzt  sehen  vär  es  nun 
aber  deutlich,  wie  innerlich  diese  Einheitlichkeit  eingerichtet  ist. 

Schon  im  Denken  regt  sich,  um  es  einmal  schroff  und  un- 
genau, auszudrücken.  Wollen;  denn  im  Denken  regt  sich  Be- 
wegung. Da  kann  es  denn  wohl  nicht  Wunder  nehmen,  dass 
das  Problem  des  Willens,  wenn  es  als  ein  solches  ausgewachsen, 
ausgereift  ist,  in  innigster  methodischer  Eintracht  mit  dem  Pro- 
blem des  Denkens  allein  zu  formulieren,  zu  behandeln  und  zu 
lösen  ist.  Die  Methode  der  Reinheit  wird  nicht  lediglich  von 
der  Logik  auf  die  Ethik,  so  gut  es  eben  gehen  will,  zu  über- 
tragen sein;  in  ihrer  ersten  Betätigung  am  Denken  selbst  strahlt 
sie  auf  das  Wollen  aus.  Daher  kann  die  Ansicht  von  einem 
Widerspruch,  oder  auch  nur  von  einem  Gegensatz  der  beiden 
Probleme  und  Interessen  nur  auf  einem  verhängnissvollen  Irrtum 
beruhen,  der  ebenso  schwer  der  Logik  anhaften  muss,  wie  er 
die  Ethik  belastet.  Das  Grundgesetz  der  Wahrheit,  das  keine 
doppelte  Buchführung  anerkennt,  fordert  nicht  nur  die  Einheit- 
lichkeit der  Methode  der  Reinheit;  sondern  es  geht,  sofern  es 
von  der  Logik  ausgeht,  zugleich  von  der  Zuversicht  aus,  dass 
diese  Forderung  gnmdsätzHch  in  Erfüllung  gehe. 


Das  logische  und  das  ethische  Problem.  108 

Anstatt  der  Uebertragung,  welche  man  vermutet  und  arg- 
wöhnt, ist  es  daher,  wie  es  sich  zeigt,  nur  eine  Verwandlung 
des  Problems,  als  welche  der  Unterschied  von  Ethik  und 
Logik  sich  herausstellt.  Und  wie  alle  Verwandlung  bei  allen 
neuen  Elementen,  welche  dafür  in  Aufnahme  kommen,  im 
Grunde  doch  nur  eine  Selbstverwandlung  ist,  so  ist  es  auch  hier 
der  Fall.  Das  Denken,  das  die  Bewegung  mit  sich  führt,  ver- 
wandelt sich  selbst  in  Wollen  und  Handlung.  Doch  das  ist  hier 
schon  zuviel  gesagt;  nur  dies  darf  ausgesprochen  werden,  dass 
das  logische  Interesse,  das  Interesse  an  der  Wissenschaft  der 
Natur,  sich  selbst  verwandelt  in  das  ethische  Interesse  an  dem 
Begriffe  des  Menschen,  seiner  Handlung  und  seiner  Weltgeschichte. 
So  entsteht,  auf  Grund  der  Wahrheit,  das  Problem  des  reinen 
Willens. 


Zweites  Kapitel. 

Die  Qrundlegfung:  des  reinen  Willens. 

Das  Problem  der  Ethik  haben  die  bisherigen  Erwägungen 
als  das  Problem  des  reinen  Willens  eingeführt;  wie  das  Problem 
der  Logik  das  der  reinen  Erkenntniss  ist.  Selbst  der  Schein 
künstlicher  Abstraktion  muss  von  diesen  Terminis  sich  entfernen; 
insbesondere  aber  von  dem  des  reinen  Willens.  Von  der  Er- 
kenntniss kann  man  denken,  dass  sie  immerhin  an  sich  schon 
da  gewesen  und  als  Erkenntniss  bezeichnet  worden  sei,  bevor  sie 
als  reine  Erkenntniss  erkannt  und  bezeichnet  wurde.  Pvtha- 
goras  und  Demokrit  sind  vor  Piaton  dagewesen.  Der  Wille 
dagegen  war  noch  gar  nicht  zur  Bezeichnung  gekommen,  ehe  er 
als  reiner  Wille,  als  Wille  der  Ethik  entdeckt  worden  war.  Und 
es  scheint  paradox,  aber  es  entspricht  dem  genauen  Sachverhalt 
bei  Piaton,  dass  er  die  Methode  der  Reinheit  auf  das  Problem 
des  Willens  angewendet  hat,  während  der  Terminus  des  Willens 
bei  ihm  noch  verschleiert  ist.  Wie  mag  es  zu  erklären  sein, 
dass  der  Begriff  und  der  Gedanke  des  Willens  —  denn  um  den 
Gedanken  selbst  handelt  es  sich  bei  dieser  Frage  —  so  spät  zur 
Klarheit  erwacht   und  zur  Auszeichnung  gekommen  sind? 

Man  kann  der  Frage  durch  eine  andere  Frage  begegnen. 
Die  Kunst  ist  eine  der  allerfrühesten  Betätigungen  des  mensch- 
lichen Geistes;  sie  geht  der  Wissenschaft  vorauf.  Und  von  An- 
fang an  hat  sie  nicht  nur  mächtig  die  Gemüter  ergriffen,  sondern 
auch  der  Zauber  ihrer  Wirkung  ist  früh  ein  Gegenstand  des 
Nachdenkens  geworden.  Und  dennoch  konnte  es  geschehen, 
dass  erst  im  Ausgange  des  18.  Jahrhunderts  eine  eigene  psycho- 
logische Qualität,  ein  sogenanntes  Seelenvermögen  für  die  aesthe- 


Die  Tragödie  und  das  Problem  des  Willens.  105 

tische  Richtung  des  Bewusstseins  zur  Benennung  kam.  Dies  ist 
ein  sehr  lehrreiches  Beispiel  für  die  Abhängigkeit  der  Psycho- 
logie bis  in  ihre  Nomenclatur  hinein  von  den  sachlichen  und 
systematischen  Aufstellungen  der  Probleme.  Warum  aber  ist  das 
aesthetische  Problem  so  ungewöliniich  spät  zur  systematischen 
Aufstellung  gekommen? 

Der  Grund  ist  ein  ähnlicher,  wenngleich  nicht  ein  so  ein- 
greifend wirkender,  wie  bei  der  Ethik.  Die  Kunst  trat  von  vorn- 
herein in  eine  innere  Verbindung  mit  der  Religion  und  mit  dem 
Kultus  ein.  Bei  günstigster  Auffassung  wurde  sie  daher  mit  der 
sittlichen  Richtung  des  Bewusstseins  in  eins  gesetzt.  Andererseits 
wurde  sie  aber  auch  von  der  Erkenntniss  nicht  grundsätzlich 
unterschieden;  daher  blieb  in  dem  wissenschaftlichen  Interesse 
auch  das  künstlerische  mitenthalten.  Die  Eigenart,  zu  welcher 
das  aesthetische  Bewusstsein  sich  qualificiert,  sollte  vielleicht 
gerade  hintangesetzt  bleiben,  damit  man  nur  ihre  innerliche  Ver- 
bindung mit  Wissenschaft  und  Sittlichkeit  durchaus  nicht  in 
Zweifel  ziehe. 

Aehnlich  geht  es  nun  auch  mit  dem  W^illen.  Man  darf 
vielleicht  sagen,  dass  er  erst  in  der  Tragödie  zur  Entdeckung, 
zur  Geburt  gekommen  ist.  Was  vorher  dem  menschlichen 
Interesse  am  W^illen  entspricht,  das  ist  nicht  der  menschliche, 
sondern  allenfalls  ein  göttlicher  Wille.  Wenn  der  mythische 
Mensch  bis  in  die  Anfänge  der  Poesie  hinein  fragt,  woher  all 
dieses  Treiben  in  der  Menschenwelt  stamme,  so  macht  er  keinen 
Unterschied  zwischen  der  Menschenwelt  und  der  allgemeinen 
Natur.  Diese  aber  wird  durch  ein  Schicksal  geleitet,  welches 
mächtiger  ist  als  die  Götter,  als  der  Göttervater  selbst.  Erst  die 
Tragödie  stellt  das  Problem  des  Willens  auf;  ihr  Springpunkt 
ist  dieses  Problem.  Auch  hier  bildet  das  Schicksal  die  Vor- 
aussetzung; aber  diese  tritt  in  den  Hintergrund.  Das  Schicksal 
wird  zum  Untergrund  der  Sage;  und  von  dieser  Unterlage  hebt 
sich  das  Drama  ab.  Der  Held  ist  zwar  ein  Geschöpf  des  Schick- 
sals; aber  er  bleibt  dies  nicht.  Und  indem  er  sich  zu  einem 
Andern  macht,  so  erzeugt  er  das  Problem  des  Willens.  Der 
WMlle  tritt  gegen  das  Schicksal  auf. 

Nachdem  so  bei  Aeschvlus  und  immerhin  auch  bei 
Sophokles   das  Problem   des  Willens   entstanden   war,   konnte 


106  Der  göttliche  Wille  und  der  Logos. 

Plato  es  zur  begrifflichen  Erörterung  bringen.  Wer  möchte 
aber  glauben,  dass  ohne  den  Vorgang  der  Tragödie  die  Platonische 
Ethik  in  ihrer  reifen  Tapferkeit  erklärbar  wäre.  Noch  weniger 
wäre  sie   dies,   als  ohne  den  aestetischen  Reiz   der  Erscheinung 

« 

die  Correlation  von  Idee  und  Erscheinung  in  Piatons  Termi- 
nologie verständiich  wäre.  Mithin  ist  die  Ethik  der  Kunst  ge- 
folgt. Wie  könnte  es  da  Wunder  nehmen,  dass  die  Ethik  selbst 
bei  der  Entdeckung  des  Problems  vom  Willen  es  noch  nicht 
zur  Definition  des  Willens  gebracht  hat. 

Auch  Plato  entsagte  keineswegs  in  Sturm  und  Drang  dem 
sanften  Zwang  seiner  vaterländischen  Religiosität;  vielmehr 
suchte  er  sich  an  der  sittlichen  Erneuerung  derselben  eifrig  zu 
beteiligen.  Die  Gottheit  blieb  auch  ihm  der  Urquell  aller  Macht 
des  Guten;  und  das  Gleich  werden,  das  sich  Gleichmachen  der 
Gottheit  (o|ioitt)0'<;  &£({>),  dies  blieb  auch  ihm  die  allgemeine  Devise 
der  Sittlichkeit.  So  lange  der  Wille  aber  vorzugsweise  der  gött- 
liche Wille  ist,  so  lange  kommt  er  als  menschlicher  Wille  nicht 
zu  seiner  genauen  Bestimmung;  zu  einer  solchen,  die  ihn  vom 
göttlichen  Willen  unterscheidet.  Und  so  lässt  es  sich  wohl  ver- 
stehen, dass  er  nicht  einmal  zur  terminologischen  Auszeichnung 
gelangt. 

Wenn  im  christlichen  Weltalter  endlich  der  Wille  als  ein 
psychologischer  Faktor  auftritt,  so  dürfte  der  Theologie  dieser 
Fortschritt  zuzuschreiben  sein.  Und  der  Logos  des  Juden  Philo 
dürfte  hier  als  der  treibende  Grund  zu  erkennen  sein.  Der  Wille 
Gottes  tritt  hier  gegen  das  Wort  Gottes  zurück.  Das  Wort  ver- 
tritt die  Sprache;  und  die  Sprache  die  Vernunft.  Im  Logos 
wird  der  Wille,  der  göttliche  Wille  zum  Intellekt. 

Die  wahrhafte  Transscendenz  würde  durch  die  Causalität 
des  Willens  verletzt.  So  wird  der  Wille  im  Wesen  Gottes  ent- 
behrlich; er  spricht,  und  es  geschieht;  sein  Denken  ist  seine  Tat. 
Damit  aber  wird  dem  Willen  für  den  Menschen  der  Spielraum 
geöffnet.  Nachdem  Gott  so  zu  sagen  den  Willen  verloren  hat, 
fangt  der  Mensch  an,  ihn  zu  besitzen.  Und  andererseits  sieht 
man  von  hier  aus  zugleich,  dass  die  Metaphysik,  die  immer 
eigentlich  nur  Religionsphilosophie  ist,  weil  sie  die  Wesensgleich- 
heit zwischen  Gott  und  Mensch  festhält,  auch  die  Identität  von 
Willen   und  Intellekt  pantheistisch  behauptet.    Dieser  Wille  der 


Der  reine  Wille  der  Sittlichkeit  107 

Metaphysik  ist  daher  gar  nicht  Wille,  sondern  Vor-Wille;  Schick- 
sals-Wille; nicht  psychologischer  Wille.  Dieser  entsteht  erst  als 
ethischer,  als  reiner  Wille. 

Indem  Plato  das  Problem  des  reinen  Willens  entdeckte, 
wurde  er  von  dem  Problem  der  reinen  Erkenntniss  geleitet.  In 
diesem  letztern  Problem  aber  schloss  er  sich  an  die  Kritik  der 
Wahrnehmung  an,  welche  seit  Heraklit  das  Denken  beschäftigte; 
welche  in  Parmenides  und  in  Demo  kr it  zu  gewaltigen  Conse- 
quenzen  geführt  hatte.  F^reil ich  hatte  auch  schon  in  dem  Pytha- 
goreischen Bunde  diese  Kritik  der  Empfindung  eine 
moralisierende  Richtung  genommen.  Und  die  gesamte  Mysterien- 
lehre mit  ihrem  Kultus  hatte  die  Naivität  des  sinnlichen  Be- 
wusstseins  angegriffen  und  zerstört.  Wir  sehen  es  im  Phaedrus, 
wie  energisch  diese  Entfremdung  von  der  Sinnlichkeit  auf  Piaton 
eingewirkt  hat.  Es  ist  ein  Zwiegespann,  von  dem  der  Mensch 
getummelt  wird;  und  nicht  ein  einheitlicher  Zügel  lenkt  diese 
verschiedenartigen  Rosse.  Wie  nun  das  reine  Denken,  als  das 
Denken  der  reinen  Erkenntniss,  von  der  Empfindung  abgeschieden 
wurde,  so  musste  demgemäss  auch  der  reine  Wille,  als  der 
Wille  der  Ethik,  als  der  Wille  der  Sittlichkeit  von  der  Em- 
pfindung, von  aller  Sinnlichkeit  abgelöst  werden. 

Man  braucht  diesen  Willen  gar  nicht  analog  der  reinen 
Erkenntniss  als  den  der  reinen  Sittlichkeit  zu  bezeichnen.  Denn 
Erkenntniss  gab  es  wenigstens;  in  der  Mathematik  war  sie  vor- 
handen; Plato  hatte  nur  zu  zeigen,  dass  diese  Erkenntniss  auf 
reiner  Erkenntniss  beruht;  und  allenfalls  auch,  dass  und  inwie- 
weit sie  solche  enthält.  Sittlichkeit  dagegen  gab  es  als  solche 
gar  nicht,  bevor  sie  als  solche  erkannt  war.  Was  sonst  dafür 
gehalten  werden  konnte,  war  Religion  und  Recht  und  Staat. 
Und  die  Sophisten  setzten  alle  diese  Sittlichkeit  auf  die  An- 
klagebank; nicht  aber,  um  eine  bessere  Sittlichkeit  anstatt  ihrer 
zu  errichten;  sondern  um  alle  Sittlichkeit  als  eitel  zu  erklären 
und  abzuschaffen.  Wenn  Plato  also  für  die  Sittlichkeit  das 
Problem  des  Willens  in  die  Erörterung  brachte,  so  musste  dieser 
Wille  als  der  reine  Wille  sogleich  gedacht  werden;  so  musste 
die  Methode   der  Reinheit   bei  seiner  Entstehung  sich  betätigen. 

In  der  Kritik  der  Erkenntniss  war  Plato  bemüht,  die 
Scheidung   so   radikal    durchzuführen,   dass   er   das  Denken  der 


108  Begehrung  und  Vorstellung. 

Krkenntniss  gänzlich  und  allein  auf  die  eine  Seite  rückte;  auf 
die  Seite  der  Empfindung  dagegen  auch  die  Vorstellung.  Man 
sollte  meinen,  die  Vorstellung  hätte  doch  auch  Anteil  am  Denken^ 
oder  vielmehr  das  Denken  Anteil  an  der  Vorstellung.  Plato  da- 
gegen macht  einen  scharfen  Schnitt,  und  weist  die  Vorstellung 
grundsätzlich  der  Empfindung  zu.  Dies  hat  nun  seine  Folge 
für  die  Charakteristik  und  demgemäss  für  die  psychologische 
Construktion  des  Willens. 

Das  Analogon  der  Empfindung  ist  die  Begehrung.  Man 
kann  zwar  noch  zweifeln,  ob  eine  genaue  Analogie  zwischen 
Beiden  anzunehmen;  ob  nicht  vielleicht  ein  Unterschied  zwischen 
Trieb  und  Begierde  zu  urgieren  sei,  und  der  Trieb  allein 
das  Analogon  zur  Empfindung  bilde;  während  die  Begierde  viel- 
leicht schon  das  Analogon  zur  Vorstellung  ist.  Jedenfalls  kann 
man  dieses  Bedenken  erheben  in  Bezug  auf  die  Auszeichnung 
des  Begehrens  als  einer  Art  der  Seele.  Plato  bezeichnet  diese 
Seelenart  nicht  als  Trieb,  oder  als  das  Triebhafte;  sondern  als 
das  der  Begehrung  Zugehörige,  die  Begehrung  Bildende  (€ki- 
Ö'yiiTjTtxov). 

In  dieser  seelischen  Qualität  muss  man  unzweifelhaft  ein 
Verhältniss  zur  Vorstellung  anerkennen.  Es  entspricht  dies  dem 
Wortlaut  der  Platonischen  Erörterungen;  und  es  entspricht  dem 
Sachverhalte  des  Problems.  Denn  es  gilt  eben  die  Unterscheidung 
und  die  Abtrennung  von  allem  Sinnlichen,  also  auch  von  der 
Vorstellung.  Und  andererseits  darf  auch  für  den  Willen  nicht 
vom  Denken  abgesehen  werden;  aber  dasjenige  Denken,  von 
dem  die  Unterscheidung  zu  vollziehen  ist,  ist  eben  das  sinnliche 
Denken  der  Vorstellung.  So  hat  sich  die  Methode  der  Reinheit 
vor  Allem  dahin  zu  richten,  dass  sie  von  der  Begehrung  ausgeht^ 
und  trotz  genauer  Anerkennung  der  Eigenart  in  ihr  zugleich 
doch  auch  ihrem  Zusammenhange  mit  der  Vorstellung  nachspürt^ 
um  mit  der  Bekämpfung  der  Begehrung  auch  die  Vorstellung 
mitzutreffen. 

Was  entspricht  nun  aber  dem  reinen  Denken  im  Willen? 
Es  kann  nichts  Anderes  sein  als  der  reine  Wille  selbst;  aber 
der  ist  bei  Piaton  als  solcher  nicht  benannt.  Und  mit  dem  reinen 
Willen  fehlt  der  Wille  überhaupt.  Ein  Mittelding  tritt  dafür 
ein,  unter  einem  Namen,  dessen  schwere  Uebersetzbarkeit  schon 


Piatons  Terminologie.  109 


ein  Symptom  sein  dürfte  für  die  Compliciertheit  und  mangel- 
hafte Bestimmtheit  des  Begrifl's;  das  Eiferartige  (ftü{io£tSs(;)  wird  es 
gewöhnlich  übersetzt.  Aber  der  Eifer  gibt  den  Sinn  des  Wortes 
nicht  genau  wieder.  Der  Zorn  ist  seine  Grundbedeutung.  Zorn 
(orjjr^  steht  aber  bei  Homer  für  die  Gemütsbewegung  überhaupt, 
also  auch  für  den  Eifer  (^ühöq);  während  dieser  in  seinem  grie- 
chischen Worte  schon  etymologisch  allgemein  für  die  Seele 
steht,  die  Rauchseele  (fumus).  Was  konnte  denn  nun  wohl 
Plato  dabei  gedacht  und  damit  beabsichtigt  haben,  dass  er  zwei 
Worte  von  derselben  Wurzel  für  einen  so  wichtigen  Unterschied, 
auf  dem  die  neue  Ethik  basiert,  einsetzte?  Man  erkennt  in  der 
Bildung  des  zweiten  Wortes,  dass  er  nur  die  Art  und  Gruppe 
(sISoi;)  des  &ü|jlo(;  dem  neuen  Begriffe  zuordnen  mag;  aber  diese 
Einschränkung  dürfte  doch  für  eine  solche  fundamentale  Unter- 
scheidung nicht  recht  hinreichend  scheinen. 

Die  griechische  Sprache  hat  jedoch  in  dem  ersten  dieser 
beiden  Worte,  in  der  Begierde  in  scharfer  Deutlichkeit  die  sinn- 
liche Beziehung  kenntlich  gemacht.  In  der  Praeposition  gegen 
{iz\)  ist  die  aggressive  Subjektivität,  die  auf  ein  äusseres  Ding  hin- 
strebt, ausgedrückt  und  biossgestellt.  Wenn  wir  dafür  Gegen- 
strebung,  Gegenbegehrung  sagen  würden,  so  wäre  der  Sinn  nicht 
getroffen;  denn  dieses  unser  Gegen  bezieht  sich  auf  eine  corre- 
lative  Strebung;  während  die  griechische  Vorsilbe  auf  ein  Ding, 
als  den  Gegenstand  der  Begehrung,  hinweist.  Dieser  Hinweis  auf 
ein  äusseres  Ding  macht  für  den  griechischen  Denker  den 
Unterschied  fühlbar  und  genau  zwischen  der  Begierde  und  der 
andern,  der  neuen  Art,  welche  zwar  auch  mit  dem  Gemüte  zu- 
sammenhängt; bei  welcher  aber  das  Gemüt  als  Gemüt  hervor- 
gehoben bleibt,  und  das  Hinschielen  oder  vielmehr  das  Los- 
steuern auf  Etwas,  was  nicht  im  Gemüte  liegt,  was  ihm  äusser- 
lich  und  fem  ist,  nicht  nur  nicht  zum  Ausdruck  gelangt,  sondern 
durch  den  Gegensatz  gerade  abgewehrt  wird.  So  mag  es  zu  ver- 
stehen sein,  dass  Plato  dieser  auffälligen  terminologischen  Neu- 
bildung sich  bedient  hat. 

Was  hätte  er  denn  für  das  Desiderat  des  Willens  wählen 
sollen?  Er  verschmäht  ja  das  griechische  Wort  für  Wollen 
nicht;  er  bildet  auch  das  Abstraktum  der  Tätigkeit  daraus 
(ßo-y/.rjoi;).    Aber  gerade  weil  das  griechische  Wort  von  derselben 


110  Rat  und  Vernunft. 


Wurzel  ist,  wie  das  lateinische,  und  wie  unser  Wollen,  so  kann 
man  es  verstehen,  dass  Plato  es  vermeiden  mochte,  das  neue 
Seelenvermögen  dieser  etymologischen  Wurzel  zu  entnehmen; 
denn  das  entsprechende  Wort  ist  dort  bereits  vorhanden;  aber 
es  bedeutet  Beschluss  und  Rat  (ßoüXi^^;  und  es  ist  die  Frage,  ob 
man  nicht  vielmehr  sagen  muss,  Rat  und  Beschluss.  Die  Be- 
ratung, die  Ueberlegung  spielt  also  in  diesem  Worte  eine  wich- 
tige, vielleicht  die  entscheidende  Rolle.  Das  ist  aber  gerade  das 
andere,  das  theoretische,  das  Vorstellungs-Element,  welches  nicht 
in  den  Vordergrund  treten,  welchem  nicht  das  Uebergewicht 
zufallen  sollte.  Daher  lässt  es  sich  verstehen,  dass  Plato  diese 
ganze  Sprachwurzel  verlassen  musste,  wenn  er  das  neue  seelische 
Moment  beleuchten  wollte. 

Die  Versuchung,  bei  diesem  Worte  zu  bleiben,  ist  anderer- 
seits freilich  sehr  beträchtlich.  Denn  welche  Richtung  immer 
das  neue  Wollen  einschlagen  soll,  so  muss  es  doch  mit  der  Vor- 
stellung, weil  mit  dem  Denken  verbunden  bleiben.  Daher  wird 
der  Ausdruck  für  Vernunft,  mit  dem  seit  Anaxagoras  ein  grosser 
Spuk  getrieben  wurde,  für  dieses  Problem  benutzt;  kann  er  aber 
auch  auf  dasselbe  eingeschränkt  werden?  Der  Nus,  dem  das 
mythologische  Denken  der  Griechen  die  göttliche  Personification 
zu  verleihen  nur  allzu  geneigt  war,  er  wird  jetzt  als  die  sittliche 
Vernunft  des  Menschen  praecisiert.  Das  ist  der  Wille,  und  so 
hätten  wir  das  andere  Wort  für  Willen,  welches  Plato  tatsächlich 
häufig  und  nachdrücklich  gebraucht.  Aber  gerade  an  diesem 
Worte  kann  man  wieder  die  Gefahr  erkennen,  die  der  neue  Ge- 
danke zu  bestehen  hatte.  Dieser  selbe  Nus  steht  auch  für  die 
theoretische  Vernunft,  für  das  reine  Denken  der  Erkenntniss; 
und  er  wird  mit  der  Erkenntniss  der  Wissenschaft  (sinaxT^iir^) 
gleichgesetzt. 

Hier  macht  sich  nun  wieder  der  Einfluss  des  originalen 
Sokratischen  Gedankens  geltend,  dass  die  Tugend  Wissen  sei, 
wodurch  jedoch  das  neue  Wilienselement  unterdrückt  und  unter- 
bunden wird.  Der  Schatten,  der  bei  allem  Licht  von  diesem 
Einfluss  geworfen  wird,  zieht  sich  durch  die  gesamte  ethische 
Terminologie  der  Griechen.  Dass  die  Tugenden  bei  Piaton  und 
ganz  besonders  auch  bei  Aristoteles  an  der  Grenze  von 
Theorie    und    Praxis    liegen,    hängt    damit   zusammen.    Und 


Der  Affekt.  111 

auch  die  praktische  Vernunft  (voO;  ^loaxTixo;),  die  von  Aristoteles 
ab  durch  die  Welt  geht,  beruht  auf  diesem  Sokratischen  Grunde 
des  Wissens.  Obzwar  nun  aber  der  Hinweis  auf  die  Handlung 
in  diesem  Terminus  gelegen  ist,  wollen  wir  dennoch  den  des 
reinen  Willens  vorziehen;  aber  allerdings  gemäss  der  Platonischen 
Orientierung  auf  den  Eifer,  den  wir  besser  und  genauer  über- 
setzen durch  Affekt. 

In  der  Terminologie  des  Affekts  und  der  Affekte  ist  es 
interessant  und  lehrreich,  die  terminologische  Rolle  zu  beachten 
in  welcher  der  ^ytid;  von  der  Stoa  ab  schwankt.  Bald  ist  er 
selbst  nur  einer  der  Affekte,  während  der  Ausdruck  für  den 
Begriff  des  Affekts  die  Gemütsbewegung  (^ct^oc)  ist;  bald  bedeutet 
er  den  zusammenfassenden  Terminus  für  alle  Gemütsbewegungen 
samt  den  Eigenschaften;  der  Ausdruck  des  Pathos  dagegen  wird 
mehr  auf  den  seelischen  Eindi*uck  überhaupt,  also  auch  auf  die 
Empfindung  bezogen.  Von  diesem  Schwanken  in  der  Termino- 
logie des  Affekts  ist  Notiz  zu  nehmen.  Der  Affekt  ist,  als  &ü|xd(;, 
nicht  nur  und  lediglich  einer  der  Affekte,  sondern  es  gilt,  sie 
alle  zusammenzufassen,  aber  unter  demselben  Ausdruck;  kein 
anderer  ist  in  gleicher  Weise  bezeichnend.  Es  bleibt  bei  dem 
Ausdruck,  auf  den  Piaton  zurückging,  und  an  den  er  seinen 
neuen  Begriff  anschloss. 

Beim  Willen  muss  vor  Allem  der  Affekt  in  helles  Licht 
gesetzt  werden.  Es  darf  nicht  bei  der  Vorstellung  und  beim 
Denken  verbleiben;  um  so  weniger,  als  Vorstellung  und  Denken 
durchaus  nicht  ausgeschaltet  werden  dürfen.  Man  darf  auch  nicht 
die  Terminologie  auf  den  Kopf  stellen,  wie  es  Spinoza  getan  hat, 
der  den  einen  scholastischen  Fehler,  demzufolge  er  Willen  und 
Intellekt  gleichsetzte,  durch  den  andern,  originalen  Fehler  zu  ent- 
kräften suchte,  dass  er  das  sittliche  Denken  selbst  zum  Affekt 
umstempelte.  Die  sittliche  Vernunft  muss  nach  ihrem  innersten 
Zusammenhange  mit  dem  reinen  Denken  gewahrt  bleiben;  die 
Kraft  der  Erkenntniss  darf  in  ihr  nicht  umgestimmt,  noch  um- 
gedeutet werden.  Aber  allerdings  auch  der  Affekt  muss  in  ihr, 
in  seiner  eigenen  Art  und  Kraft  isoliert  in  Geltung  bleiben. 
Darauf  aber  muss  die  Frage  gehen,  ob  diese  Isolierung  mit  der 
Reinheit  sich  verträgt;  ob  sie  ihr  zugemutet  werden  kann.  Diese 
Frage  bildet  die  Schwierigkeit  im  Begriffe  des  Affekts. 


112  Die  Gesinnung. 


Es  ist  indessen  nur  ein  Vorurteil,  dass  die  Reinheit  des 
Willens  lediglich,  oder  auch  nur  vornehmlich  auf  das  Element 
des  Denkens  im  Willen  bezogen  werden  dürfe.  Dieses  Vorurteil 
ist  genährt  worden  durch  das  lateinische  Wort  für  den  Willen, 
in  welchem  dem  juristischen  Sprachgebrauche  des  römischen 
Rechts  gemäss  die  Absicht  vorwiegend  wird.  Indessen  würde 
das  juristische  Moment  der  Absicht  das  theoretische  Element 
<les  Willens  noch  nicht  zu  einer  übergreifenden  Geiahrlichkeit 
und  Zweideutigkeit  gebracht  haben,  wenn  nicht  ein  kompliciertes 
religiöses  Motiv  dabei  mitspielte  und  zu  einer  sehr  vordringlichen 
Mitwirkung  gekommen  wäre.  Voluntas  wird  geradezu  diesem 
Sprachgebrauche  gemäss  gleichbedeutend  mit  Gesinnung.  Und 
in  der  Gesinnung  glaubt  man  den  Charakter  des  Willens  be- 
stimmen und  begründen  zu  können. 

Dies  ist  das  dichteste  und  schädlichste  Vorurteil,  mit 
dem  der  reine  Wille  zu  kämpfen  hat,  dass  er  nur  in  der  Ge- 
sinnung wurzeln  dürfe,  und  nur  als  Gesinnung  in  die  Erscheinung 
treten  könne.  Nicht  darauf  geht  unser  Einwurf,  dass  das  Innere 
der  Gesinnung  nicht  in  die  Erscheinung  treten  könne;  vielmehr 
soll  der  reine  Wille  es  zur  Erscheinung  bringen;  aber  dagegen 
richtet  sich  die  Frage,  ob  es  ausschliesslich  die  Gesinnung 
sein  dürfe  und  sein  müsse,  welche  in  die  Erscheinung  tritt,  als 
ob  nicht  auch  die  Erscheinung  selbst,  das  in  die  Er- 
scheinung Treten  und  das  in  die  Erscheinung  Bringen 
von  einer  eigenen  Bedeutung  und  von  sittlicher  Selb- 
ständigkeit wären. 

Nach  der  gewöhnlichen  Vorstellung  liegt  die  Sittlichkeit, 
also  der  reine  Wille  in  der  Gesinnung  beschlossen.  Sie  ist  das 
Innere,  und  auf  dies  allein  kommt  es  an.  Das  Aeussere  ist  das 
Aeusserliche,  das  Nebensächliche,  das  Fremde,  was  gar  nicht  zur 
Sache  gehört.  Das  ist  der  Fehler.  So  wird  der  Wille  schlechter- 
dings zum  Denken.  Dass  er  in  eine  Tat  übergeht,  das  steht  auf 
einem  andern  Blatt.  Darin  liegt  nur  die  Veräusserlichung,  zu 
der  der  Wille  gleichsam  verdammt  ist.  Ist  es  denn  aber  wirklich  und 
wahrhaftig  dem  Willen  äusserlich  und  unwesentlich,  dass  er  in 
einer  Tat  sich  auslöst?  Wäre  es  ausreichend  für  ihn,  würde  er 
seinen  Begriff  und  seine  Aufgabe  erfüllen,  wenn  er  in  der  Ge- 
sinnung eingesenkt  bliebe? 


Die  Polemik  gegen  das  Gesetz.  113 

Wir  stehen  hier  vor  einer  ernsten  Collision  zwischen  der 
Ethik  und  der  religiösen  Ansicht.  Die  ganze  Zweideutigkeit 
der  Religion  liegt  hier  wie  in  einer  Nuss.  Und  die  Zwei- 
deutigkeit betrifTt  hier  nicht  die  theoretischen  Interessen  der 
Vernunft,  sondern  die  ethischen;  und  zwar  bis  ins  Populäre 
hinein  die  moralische  Grundansicht,  lieber  den  guten  Sinn 
freilich,  den  die  Religion  mit  der  Gesinnung  verbindet,  kann 
kein  Zweifel  sein.  Die  Religion  ist  aus  dem  Heidentum  ent- 
sprungen, also  aus  dem  Opferdienst.  Das  Opfer  hat  eine  weite 
Speisekarte;  es  erstreckt  sich  vom  Moloch-  und  Astarte-Dienst 
bis  zum  Tieropfer  und  seinen  symbolischen  Ueberbleibseln. 
Gegen  diese  Auffassung  des  Gottesdienstes,  als  der  Sittlichkeit, 
musste  die  Religion  Einspruch  erheben.  Diese  Taten  durften 
nicht  als  die  zulängliche  Tat  des  reinen  Willens  in  Geltung 
bleiben.  Gegen  diese  Tat  rufen  die  Propheten  und  die  Apostel 
das  Gewissen  auf  Gott  sieht  ins  Herz.  Gott  erkennen,  das  heisst 
daher  Gott  lieben  und  ihm  dienen.  Ein  Gott  der  Gesinnung  ist 
der  Herr;  so  darf  man  wohl  den  Plural  des  Wortes  übersetzen, 
welches  im  Singular  Wissen  und  Einsicht  bedeutet.  So  ist  auch 
im  Neuen  Testament  die  Gesinnung  in  bedeutungsvoller  Weise 
hervorgehoben  worden.  Nicht  in  der  legalen  Befolgung  von  Ge- 
bräuchen, denen  das  Alte  Testament  und  der  Talmud,  wenn- 
gleich in  Unterscheidung  von  dem  rein  Sittlichen,  dennoch  aber 
in  einem  lebendigen  Zusammenhang  mit  diesem,  den  Charakter 
und  den  Wert  eines  religiösen  Gesetzes  zuerteilten,  liegt  der 
wahre  Gottesdienst,  die  unzweideutige  sittliche  Tat.  Das  ist  eine 
klare  geschichtliche  Tendenz,  die  von  entscheidender  Bedeutung 
geworden  und  geblieben  ist.  Dennoch  sind  auch  hier  die  Zwei- 
deutigkeiten sogleich  hervorgetreten,  die  bei  dieser  Ignorierung 
der  Tat,  bei  dieser  Pointierung  der  Gesinnung  unvermeidlich  sind. 

Schon  die  Attaque  gegen  das  Gesetz  schiesst  über  das  Ziel 
hinaus,  insofern  unter  dem  Gesetze  nicht  allein  der  Ritus  be- 
kämpft, sondern  in  der  kühnen  Consequenz  des  Gedankens  auch 
das  sittliche  Gesetz  in  den  Zehn  Geboten  mitgetroffen  wird.  Und 
femer,  wie  könnte  irgend  eine  Religion  auf  den  Gottesdienst  des 
Gebetes  und  der  festlichen  Versammlung  verzichten?  Könnte  es 
etwa,  oder  müsste  es  die  reine  Ethik  für  die  Sammlung  der 
Menschen  zu  sittlichen  Gedanken  und  Gefühlen?     Die  einseitige 


114  Die  Schranke  in  der  Beurteilung  des  Willens. 

Betonung  der  Gesinnung  drängt  das  einseitige  Element  des  Denkens 
hervor;  und  diese  Einseitigkeit  wird  um  so  gefahrlicher,  wenn 
dieses  Denken  es  doch  nimmermehr  zur  Erkenntniss  zu  bringen 
vermag.  In  der  Sprache  des  Neuen  Testaments  ist  diese 
Schwierigkeit  schon  in  dem  Worte  für  Gesinnung  (Stdvoia)  nahe- 
gelegt. Es  ist  dies  das  Wort,  welches  Plato  für  die  strengste 
Form  des  wissenschaftlichen  Denkens,  für  das  mathematische 
auszeichnet.  Und  dieses  abstrakte  Denken  oder  ein  demselben 
wie  entfernt  immer  vergleichbares  sollte  zum  Beweggrund  des 
Willens  werden  können? 

Dasselbe  Wort  kommt  in  der  griechischen  Sprache  freilich 
auch  sonst  für  das  Denken  im  Allgemeinen  und  für  eine  Ver- 
innerlichung  des  Bewusstseins  vor,  welche  der  Gesinnung  nahe- 
kommt. Dennoch  würde  sich  der  religiöse  Sprachgebrauch  zu 
solcher  Praegnanz  nicht  wohl  entwickelt  haben,  wenn  der  Ge- 
danke nicht  aus  dem  Grundverhältniss,  aus  dem  Wechselver- 
hältniss  von  Gott  und  Mensch  erwüchse.  Gott  hat  das 
Denken,  welches  zugleich  Wollen  ist,  w^il  es  zugleich  Tun  und 
Ausführen  ist.  Ferner  prüft  und  kennt  Gott  allein  das  Innerste 
der  Menschen.  Für  ihn  ist  daher  die  Gesinnung  ein  Gegenstand 
des  Wissens,  wie  sie  sein  Wissen  als  Wollen  erfüllt  und  er- 
schöpft. Die  menschliche,  die  sittliche  Beurteilung  soll  zwar 
für  die  Erzeugung  und  Ent Wickelung  des  Willens  auf  diese 
Quelle  hinweisen;  aber  sie  darf  dieselbe  niemals  ausschliesslich 
als  das  Symptom  und  als  den  zulänglichen  Erklärungsgrund 
des  Willens  betrachten.  Andernfalls  entsteht  geistlicher  Hoch- 
mut; Ueberschätzung  der  Fähigkeit  und  der  Competenz,  den 
letzten  Grund  des  Willens  klar  und  rein  darzulegen,  zu  recog- 
noscieren  und  zu  würdigen.  Die  Ausführung  glaubt  man  dann 
als  etw^as  Aeusserliches  nicht  eingehend  beachten  zu  müssen;  ist 
sie  doch  mangelhaft  in  Bezug  auf  die  Durchsichtigkeit  und  auf 
die  Consequenz.  Dass  hingegen  notwendigerweise  dieser  Mangel 
aller  Tat  anhaftet,  und  dass  in  dieser  Mangelhaftigkeit  sowohl  alle 
unsere  Tat  sich  vollzieht,  w4e  demgemäss  auch  alle  unsere  Be- 
urteilung unserer  Taten:  über  diese  notwendige  Bescheidenheit 
unseres  praktischen  sittlichen  Urteils  setzt  man  sich  dabei 
hinweg.  Und  doch  ist  diese  der  Hauptgrund  und  Schutz  der 
Gesinnung. 


Die  Absiebt  115 

Wir  stehen  an  diesem  Punkte  vor  einem  Schiboleth  in  der 
Religionsgeschichte.  Die  Gesinnung  wird  zum  Glauben  im 
Kampf  gegen  die  Werke.  Freilich  wenn  die  Werke  die  Opfer- 
werke der  Kirche  sind,  und  wenn  diese  das  unfehlbare  und  zu- 
längliche Zeugniss  der  Gesinnung  sein  sollen,  so  muss  der  Glaube 
dagegen  aufgerufen  werden.  Aber  die  Zweideutigkeit  beginnt, 
wenn  die  Tat  als  die  Frucht  des  Glaubens  dennoch  bezeichnet 
wird.  Wenn  sie  die  Frucht  ist,  so  muss  die  Blüte  bis  in  die 
Reifung  der  Knospe  nachwirken.  Sie  darf  nicht  zum  Abfall  der 
Gesinnung  werden.  Bis  in  die  äussersten  Ausläufer  der  Tat  muss 
die  Gesinnung  mitwirken. 

Und  sie  muss  auf  dieses  Auslaufen  in  der  Tat  von  Anfang 
an  bis  zum  Ende  hinzielen.  Man  darf  sich  da  nicht  der  Illusion 
hingeben,  als  ob  die  Tat  der  natürliche  Erfolg  wäre,  der  sich 
von  selbst  einstellt;  es  muss  vielmehr  ein  innerlicher  Zusammen- 
hang zwischen  der  Gesinnung,  zwischen  dem  Glauben  und  der 
Tat  anerkannt  werden.  Wenn  man  sich  aber  so  die  Frage 
stellt,  so  muss  man  zu  der  andern  Frage  fortschreiten:  ob  man 
der  Gesinnung  und  also  dem  Denken  allein  die  Hervorbringung 
der  Tat  zusprechen  darf;  ob  nicht  vielmehr  noch  ein  anderer 
psychischer  Faktor  neben  dem  Denken  in  dem  Willen,  für  die 
Erzeugung  des  Willens  angenommen  werden  muss. 

Der  Irrtum,  dem  wir  entgegentreten,  lässt  sich  auch  ausser- 
halb der  religiösen  Sphäre  nachweisen ;  er  ist  nicht  der  religiösen 
Befangenheit  etwa  eigentümlich.  In  der  allgemeinen,  und  zwar 
nicht  nur  populären  Reflexion  unterscheidet  man  ähnlich  die 
Absicht  von  der  Tat.  Sie  bezeichnet  die  Tragweite,  welche  dem 
Denken  in  Bezug  auf  die  Tat  eingeräumt  wird.  Es  scheint  eine 
weite  Kluft  zwischen  Beiden  zu  liegen;  die  Absicht  aber  soll  sie 
bequem  überbrücken  können.  Man  würde  dem  Denken  diese 
Machten^'eiterung  nicht  zumuten,  wenn  nicht  in  alles  moralische 
Denken  hinein  ein  Grundbegriff  umfassend  und  beherrschend 
eingriffe:  der  Begriff  des  Zwecks. 

Man  sieht  sogleich,  wie  die  grundsätzliche  Bekämpfung  des 
Zwecks  bei  Spinoza  mit  seiner  Hervorhebung  des  Affekts  zu- 
sammenhängt. Wenn  das  sittliche  Denken  Affekt  werden  sollte, 
so  musste  der  Zweck  ausgestossen  werden.  Allerdings  verdeckt 
der  Zweck    die  Distanz,   welche  z^vischen  dem  Denken  und  der 

8* 


Ilt5  Der  Vorsatz. 

Tat  liegt.  Der  Zweck  heisst  ja  auch  das  Ziel;  wie  Beide  auch 
mit  dem  Ende  dasselbe  Wort  haben.  Der  Zweck  scheint  nur 
gedacht  zu  werden ;  da  er  nun  aber  auch  das  Ende  und  das  Ziel 
ist,  so  wird  auch  das  Ziel  nur  gedacht;  nur  als  das  Ende  vor- 
gedacht.   Damit  würde  der  AtTekt  ganz  ausfallen. 

Ohnehin  ist  für  Sokrates  schon  der  Begriff  nichts  Anderes 
als  der  Zweck.  Die  Sittlichkeit  ist  daher  nur  Wissen  bei  ihm. 
Der  Gegenstand,  der  Begriff  des  Wissens  ist  ihm  daher  zugleich 
der  Zweck  des  Wollens.  Bei  Aristoteles  dagegen  verbinden 
sich  Logik  und  Theologie  zu  dem  eigentümlichen  Typus  der 
Metaphysik  in  den  Grundbegriffen  der  Substanz  und  des  Zwecks. 
Beide  werden  von  ihm  gleichgesetzt.  Daher  verliert  der  Zweck 
den  offenen  Schein  eines  theoretischen  Begriffs,  und  gewinnt  das 
Ansehen  eines  unmittelbaren  Beweggrundes,  die  Würde  eines 
schöpferischen  Prinzips.  So  wird  durch  die  Vermittelung  des 
Zwecks  die  Absicht  in  der  Befugniss  festgesetzt  und  begründet, 
als  der  zureichende  Grund  der  Tat  gelten  zu  dürfen.  Die  Ab- 
sicht wird  als  die  subjektive  Seite  des  Zwecks  vorgestellt,  der  der 
umfassende  objektive  Grund  alles  Tuns  und  alles  Seins  ist;  der 
schöpferische  Grund  des  Seins. 

Nun  verfolgt  aber  schon  die  populäre  Reflexion  die  Tendenz, 
sicherlich  ebenso  sehr  durch  die  Praxis  der  Justiz,  wie  durch 
die  religiösen  Formen  der  Gelübde  dazu  veranlasst,  die  Absicht 
dergestalt  zu  praecisieren,  dass  sie  nicht  schlechterdings  mit  dem 
Zweck  und  dem  göttlichen  Zweck  gleichgesetzt  und  verwechselt 
bleiben  konnte.  Die  Absicht  musste  als  Vorsatz  in  schärfere 
Prüfung  genommen  werden.  Der  Vorsatz  entspricht  in  der 
antiken  Ethik  der  Stellung,  welche  in  der  modernen  dem  Problem 
der  Freiheit  eigen  ist.  Zwar  nimmt  Aristoteles  Freiheit  an, 
wo  er  den  Vorsatz  (Tcpooipsa»;)  ausschliesst;  aber  demungeachtet 
sieht  man  gerade  daraus,  wie  genau  er  es  mit  dem  Vorsatze 
nimmt.  Sofern  der  Vorsatz  für  die  Tat  gefordert  wird,  die 
bei  den  Griechen  eben  schon  als  Handlung  bezeichnet  wurde,  so 
sollte  es  nicht  bei  der  Absicht,  als  dem  ausschliesslichen  Grunde 
derselben,  sein  Bewenden  haben. 

Der  Vorsatz  tritt  der  Meinung  entgegen,  als  ob  der  Absicht 
gegenüber  die  Tat  nur  ein  äusscrlicher  Anhang,  eine  in  sich 
unselbständige  Folge    wäre,   die   auch    ausbleiben,    etwa    durch 


Impulsas  und  propensione.  117 

äussere  Einwirkung  gehemmt  werden  könnte,  ohne  dass  dadurch 
die  Willenstat  hinfällig  und  nichtig,  noch  nicht  zum  Sein  ver- 
vollständigt würde.  Der  Vorsatz  geht  über  die  Absicht  hinaus, 
und  in  die  Richtung  der  Tat  über.  In  der  Praeposition  des 
deutschen,  wie  des  griechischen  Wortes  ist  die  Vorwegnahme 
des  Satzes  und  der  Ausführung  bezeichnet.  Diese  kann  nicht 
der  Vorstellung  und  dem  Denken  zufallen.  Sie  muss  in  einem 
Schwung  bestehen,  den  das  Bewusstsein  sich  zu  geben  vermag, 
in  welchem  die  Tat  entspringt;  und  in  ihr  der  Wille. 

Man  wird  versucht,  für  das  Eigentümliche  dieses  Vorsatzes 
an  die  sprachlichen  Bemühungen  und  Anstrengungen  zu  denken, 
welche  Galilei  erkennen  lässt,  um  seinen  neuen  Begriff  der 
Bew-egung,  für  den  der  mathematische  Begriff  noch  nicht  ent- 
deckt war,  in  einem  ersten  Ansatz  und  Anhub  zum  Ausdruck 
zu  bringen.  Neben  Impetus  und  Impulsus  tritt  da  auch  die 
propensione  auf.  Auch  durch  sie  soll  das  Uebergreifen  und 
Vorausgreifen  in  einer  aktiven  Vorneigung  ausgedrückt  w^erden. 
Wir  werden  darauf  genauer  einzugehen  haben.  Hier  mag  be- 
sonders für  den  Vorsatz  auf  die  juristische  Bedeutung  desselben 
hingewiesen  werden.  Der  theologischen  Allwissenheit  gegenüber 
wird  im  Rechte  das  Gewissen  geschärft  für  eine  gerechtere 
Methode  der  Beurteilung,  als  sie  unter  dem  Scheinbild  der 
religiösen  Gesinnung  möglich  wird. 

Und  hier  tritt  der  Wert  und  der  Segen  der  Rechtsformen 
und  Formeln  eindringlich  hervor.  Der  Unterschied  von  Vor- 
satz und  Absicht  kann  hier  zu  fruchtbarer  Deutlichkeit  ge- 
bracht werden;  wenn  nämlich  das  Eigentümliche  des  Vorsatzes 
der  Vorstellung  und  dem  Denken,  und  somit  auch  der  Absicht 
gegenüber  erkannt  und  klargestellt  wird.  Wir  werden  auch 
hierauf  zurückzukommen  haben.  Es  soll  jetzt  nur  erst  die  Auf- 
merksamkeit auf  den  Vorzug  gelenkt  werden,  den  schon  aus 
dem  Gesichtspunke  der  praktischen  und  persönlichen  Moral  und 
Gewissenhaftigkeit  die  juristische  Technik  vor  der  Gesinnungs- 
Ethik  voraus  hat.  Zwischen  der  Gesinnung  und  der  Tat  liegt 
eine  weite  Strecke,  die  nicht  öde  ist;  sondern  die  von  dem 
Willen  und  zum  Willen  in  mannigfachen  Ansätzen  imd  Ab- 
sätzen abgestuft  bearbeitet  wird.  Eine  solche  Furche  bildet  der 
Vorsatz. 


118  Affectus  und  Affectio. 


Unser  Gedanke  ist  darauf  gerichtet,  das  Eigentümliche  des 
Willens,  und  zwar  des  reinen  Willens  im  Affekte  zur  Klärung 
zu  bringen.  Der  Affekt  soll  es  verhüten,  dass  man  die  Vorstellung 
und  das  Denken  überschätzt  und  überbürdet;  zugleich  aber  auch, 
dass  man  die  Tat  zu  einem  blossen  Effekt  macht.  Mit  dem  Be- 
gehren und  dem  Trieb  kommt  man  nicht  aus;  das  hat  sich 
schon  bei  Piaton  gezeigt.  Den  ^jj^oc  aber,  in  dessen  Art  er  den 
Ursprung  des  Willens  verlegt,  suchen  wir  im  Affekte  wieder  zu 
erkennen  und  auf  dieser  Spur  zu  bestimmen.  Was  liegt  eigent- 
lich gegen  den  Affekt  vor,  dass  er  in  solchem  Misstrauen  und 
Verdachte  steht,  als  ob  er  der  Reinheit  durchaus  widerstreben 
müsste? 

Es  ist  hergebracht,  bei  dem  Affekte  an  ein  Uebermass  zu 
denken,  welches  in  dem  Masse  auch  die  Norm  überschreite. 
Die  Norm  und  das  Mass  pflegt  man  dem  Denken  vorzubehalten; 
während  das  Uebermass,  wie  sehr  in  ihm  die  Kraft  überschäumen 
mag,  diese  Kraft  dem  pathologischen  Auswuchs  zu  verdanken 
habe.  In  dem  Plus  wird  immer  nur  die  Ueberschreitung  und 
Verletzung  des  Masses  angenommen;  nicht  aber  der  notwendige, 
der  innerlich  sich  vollziehende  Uebergang  und  Fortschritt. 

Sollte  doch  vielmehr  schon  der  sprachliche  Zusammenhang 
des  Affectus  und  der  Affectio  darauf  aufmerksam  machen, 
dass,  wie  die  Affectio  den  notwendigen  Erscheinungsmodus  der 
Substanz  bezeichnet,  so  auch  der  Affectus  die  notwendige  Er- 
scheinungsweise des  Willens  in  der  Tat;  die  notwendige  Ent- 
wickelungsform,  welche,  jenseit  des  Denkens  und  aller  Vor- 
stellung, das  Bewusstsein  zu  vollziehen  hat,  wenn  es  in  der  Tat 
den  Willen  verwirklichen  soll.  Ohne  diesen  eigenartigen  Innern 
Drang  wird  der  eigene  Beitrag  hinlallig  und  vernichtigt,  der  in 
der  Erscheinung,  in  der  Verwirklichung  selbst  liegt,  und  liegen 
muss.  Mag  immerhin  der  Reiz  der  Sympathie  preiszugeben  sein, 
welche  der  Affekt  fordert;  die  Selbständigkeit  der  Affektion  hin- 
gegen, in  welcher  der  Wille  einzelne  Wirklichkeit  wird,  sie 
spricht  für  die  Normalität  des  Affekts. 

Der  eigentliche  Grund  jedoch,  der  den  Verdacht  gegen  den 
Affekt  allezeit  aufrecht  erhalten  hat,  liegt  in  der  Ansicht,  in 
welcher  die  Logik  mit  der  Psychologie  übereinkam  in  Bezug 
auf  den  Begrilf  der  Bewegung.     Die  Psychologie   aber   war  es, 


Bewegung  und  Bewusstscin.  119 

welche  den  Einfluss  ausübte.  Sie  war  indessen  ihrerseits 
durch  die  Physiologie  beeinflusst  und  daher  unterstützt.  Die 
Logik  hingegen  kam  andererseits  auch  mit  der  allgemeinen 
Metaphysik,  mit  der  systematischen  Philosophie  der  Welt- 
anschauung hierin  überein.  Wie  Materie  und  Bewusstsein  als 
die  beiden  Pole  des  Seins  gedacht  wurden,  so  auch  Bewegung 
und  Denken;  so  wie  Vorstellung  überhaupt.  Bewegung  und  Be- 
wusstsein wurden  zu  Widersprüchen. 

Da  nun  aber  die  Tat  Muskelbewegung  ist,  so  muss  sie  dem 
Willen  entrückt  werden,  wenn  anders  dieser  Bewusstsein  bleiben 
soll;  denn  die  Bewegung  ist  schlechterdings  dem  Bewusstsein 
entrückt,  weil  widersprechend. 

Diese  Ansicht,  auf  die  wir  schon  aufmerksam  geworden 
waren,  muss  erschüttert,  muss  beseitigt  werden.  Und  wir  haben 
gesehen,  dass  die  Logik  in  ihrer  Grundlegung  die  Entwurzelung 
dieses  Vorurteils  zu  vollziehen  suchte.  Die  Bewegung  ist  keines- 
wegs das  Attribut  der  Materie;  so  dass  sie  nur  an  dieser  zur  be- 
grifflichen Bestimmung,  und  zwar  in  ursprünglicher  Termino- 
logie kommen  könnte.  Vielmehr  führt  die  methodische  Ter- 
minologie die  Bewegung  auf  das  Denken  und  auf  das  Urteil  hin. 
Dieser  Zusammenhang  des  Problems  der  Bewegung  mit  der 
Logik  der  reinen  Erkenntniss,  und  somit  auch  nach  der  gewöhn- 
lichen Ansicht  mit  der  Metaphysik,  soll  an  dieser  Stelle  nicht 
weiter  verfolgt  werden. 

Dahingegen  wollen  wir  jetzt  den  Zusammenhang  der 
Bewegung  mit  der  Psychologie  und  der  Physiologie  be- 
trachten. Für  die  Auffassung  dieser  beiden  Gebiete  soll  die  Be- 
wegung als  Bewusstsein  dargethan  werden.  Nach  der  gewöhn- 
lichen Terminologie  haben  es  diese  beiden  Gebiete  der  Forschung 
mit  dem  Bewusstsein  zu  tun,  und  zwar  gerade  nach  dem  Zu- 
sammenhange mit,  also  aber  auch  nach  ihrem  Unterschiede  von 
der  Materie  des  Central-Nervensystems.  In  den  feinsten  Be- 
ziehungen, in  welche  die  Physiologie  die  Entwickelung  des  Be- 
wusstseins  zu  zerlegen  hat,  muss  die  Mitwirkung  und  Durch- 
wirkung der  Bewegung  erkannt  und  abgeschätzt  werden,  wie 
z.  B.  bei  der  Frage  der  Raumvorstellung.  Nichtsdestoweniger 
soll  die  Bewegung  der  Materie  angehörig  bleiben;  obzwar  ohne 
sie  der  Raum,  also  eine  Grundform  des  Bewusstseins,  nicht  mög- 


120  Die  centripetale  und  die  centrifugale  Bewegung. 


lieh  wird.  Diese  falsche  Heterogeneität  muss  durchaus  auf- 
gegeben werden.  Sie  wäre  sicherlich  in  der  Physiologie  nicht 
entstanden,  wenn  sie  sich  nicht  von  der  Physik  auf  sie  ver- 
erbt hätte. 

Für  die  populäre  Vorgeschichte  der  Physik,  die  sich  als 
empiristische  Krankheit  fortpflanzt,  ist  die  Bewegung  an  der  Ma- 
terie und  als  Materie  gegeben.  Man  vergisst,  dass  man  ihrer 
erst  von  dem  Momente  an  habhaft  wurde,  als  Galilei  sie  defi- 
nierte; der  sie  aber  eben  nicht  als  gegeben  annahm,  sondern  sie 
rein  erzeugte.  Diese  Bewegung  der  reinen  Erkenntniss  ver- 
kennt man,  wenn  man  die  Bewegung  an  und  für  sich  als  Materie 
annimmt.  Und  so  wird  sie  denn  erst  recht  in  der  Physiologie, 
und  mit  neuer  Verschuldung  in  der  Psychologie  als  gegeben,  als 
die  Erscheinung  der  Materie  angenommen.  Man  glaubt  noch 
eine  besondere  logische  Verpflichtung  hierzu  zu  haben.  Wenn 
das  Bewusstsein  nach  seinem  Verhältniss  zur  Materie  das  Pro- 
blem bildet,  diese  aber  in  der  Bewegung  zur  notw^endigen  Er- 
scheinung kommt,  so  glaubt  man  in  der  Bewegung  die  Ursache 
des  Bewusstseins  erkennen  und  ermitteln  zu  müssen.  Damit 
aber  wird  der  Cirkel  geschlossen,  so  dass  es  nunmehr  kein  Ent- 
rinnen gibt. 

Jetzt  w^erden  zw  ei  Arten  der  Bewegung  unterschieden: 
die  centripetale  und  die  centrifugale.  Hiernach  könnte  es 
scheinen,  als  ob  die  Bewegung  dennoch  wieder  dem  Bewusstsein 
an-  und  eingegliedert  würde.  Aber  das  bleibt  ein  freundlicher 
Schein.  Die  centripetale  Bewegung  ist  nur  soweit  Bewegung,  als 
sie  in  den  Nerven  verläuft.  Sobald  sie  aber  dort  ihren  Lauf 
vollendet  hat,  tritt  auf  Grund  der  Arbeit  des  Centrums  das  No- 
vum  des  Bewusstseins  auf.  Es  wäre  schon  irrig  zu  sagen,  dass 
die  Bew^egung,  die  bis  zum  Centrum  hin  und  in  demselben  statt- 
findet, sich  etwa  in  Bewusstsein  verwandelte;  denn  das  wäre  nicht 
der  Uebergang  in  eine  andere  Art,  der  hier  eben  grundsätzlich 
angenommen  wird.  Alle  Identitäts-Spekulation,  wenn  sie  nicht 
systematische  Identitäts-Philosophie  ist,  kapituliert  vor  dieser  Feste; 
denn  die  Bewegung  ist,  als  die  allgemeine  Form  der  Materie,  die 
Ursache  derjenigen  Bewegung,  welche  in  den  Nerven  verläuft. 

Man  glaubt  der  Logik  zu  folgen,  indem  man  auf  das  Ge- 
gebensein  der  Bewegung   nicht  verzichtet,   sie  nicht  erst  im  Be- 


Der  Uebergang  von  Denken  in  Bewegung.  121 


wusstsein  etwa  entstehen  lässt.  Und  über  die  logische  Schwierig- 
keit, dass  die  materielle  Be>vegung  ein  Anderes,  nämlich  Bewusst- 
sein  soll  erzeugen  können,  hat  man  schon  in  der  Skepsis  des 
Altertums  und  ebenso  auch  im  modernen  Sensualismus  sich 
hinweggesetzt.  Der  Agnosticismus,  der  die  Miene  des  Kriticismus 
annahm,  hatte  darüber  hinweggeholfen;  wir  verstanden  die  Be- 
wegung nicht  besser  und  nicht  schlechter  als  das  Bewusstsein. 
Das  mochte  eine  Antw^ort  scheinen,  so  lange  die  Frage  nur  nach 
der  einen  Seite  geht,  auf  die  Entstehung  des  Bewusstseins  in 
Folge  der  Bewegung;  w^ie  aber,  wenn  die  Frage  auch  nach  der 
andern  Seite  gestellt  wird,  auf  die  Entstehung  der  Bewegung  in 
Folge  des  Bewusstseins?  Und  sollte  man  etwa  in  dieser  andern 
Richtung   die   Frage   nicht  stellen  dürfen,  nicht  stellen  müssen? 

Es  ist  dies  der  tiefe  methodische  Fehler  in  der  Ethik  und 
daher  auch  in  der  Psychologie  des  Willens,  dass  man,  von  der 
Logik  und  Metaphysik  verleitet,  nur  nach  der  erstem,  nicht 
nach  der  letztern  Richtung  diese  Frage  gerichtet  hat.  Auch  die 
Freiheit  des  Willens  hat  den  Anstoss  nach  der  andern  Richtung 
der  Frage  nicht  gegeben;  vielleicht  hat  sie  sogar  eine  Hemmung 
dazu  gebildet;  denn  der  Wille  wurde  der  Freiheit,  wie  man  sie 
dachte,  zufolge  vorzugsweise  als  theoretischer  Wille  gedacht. 
Indem  wir  dagegen  den  Willen  bis  in  die  Fingerspitzen  der  Tat 
verfolgen,  so  muss  uns  diese  scheinbar  rückläufige  Bewegung  in 
den  Vordergrund  treten.  Es  muss  demgemäss  für  uns  dies  zur 
eigentlichen  Frage  werden*  wie  Vorstellung  und  Denken  den 
Uebergang  in  dieses  Andere  der  Bew^egung  erleiden  können  sollen. 

Das  wäre,  in  der  Sprache  der  alten  Metaphysik  ausgedrückt, 
das  Problem  des  Willens,  zumal  des  reinen  Willens.  Oder  glaubt 
man  etwa,  die  Bewegung,  auf  welche  doch  die  Vorstellung  und 
das  Denken  in  dem  Willen  hinzielt  und  hinsteuert,  sie  ginge 
das  Bewusstsein  nichts  mehr  an;  sie  sei  eine  Folge  und  eine 
Erscheinungsform  der  Säurebildung  in  den  Muskeln?  So  kann 
man  nur  denken  zu  dürfen  glauben,  wenn  man  die  Ausführung 
der  erzielten  Bewegung  nicht  mehr  zum  Willen  rechnet;  dann 
kann  man  meinen,  sie  auch  zum  Bewusstsein  nicht  mehr  rechnen 
zu  müssen.  Und  die  Unterscheidung  der  Bewegung  in  den 
Muskeln  und  in  den  Nerven  kann  einen  Vorwand  dieser  An- 
schauung darbieten,  welche   den   Zusammenhang  zwischen  dem 


122      Die  Unterscheidung  der  sensibeien  und  der  motorischen  Centren. 


Bewusstsein  und  der  Nervenbewegung  allenfalls  zugesteht;  da- 
gegen den  zwischen  dem  Bewusstsein  und  der  Muskelbewegung 
für  entfernter,  also  für  bestreitbarer  hält.  Indessen  sind  alle 
diese  W^endungen  durchaus  verkehrt. 

Wir  haben  es  schon  in  Betracht  gezogen,  dass  die  Be- 
wegung bei  den  tiefsten  und  feinsten  Vorstellungsbildungen  mit- 
zuwirken hat.  Es  ist  jetzt  hinzuzufügen,  dass  es  in  hervorragender 
Weise  Muskelbewegungen  sind,  wie  die  der  Augenmuskeln,  auf 
die  es  hierbei  ankommt.  Aber  wie  könnte  man  überhaupt  diese 
Unterscheidung  der  Bewegung  an  den  Nerven  und  an  den  Muskeln 
ernst  nehmen?  Es  ist  nur  eine  Art  der  materiellen  Bewegung, 
welche  hier  in  Frage  kommen  darf.  Und  es  gilt  daher,  das 
ungleiche  Mass  zu  erkennen,  mit  dem  die  Bewegung  dem  Be- 
wusstsein gegenüber  gemessen  wird,  wenn  sie  centrifugal,  oder 
wenn  sie  centripetal  ist. 

Ist  sie  centripetal,  so  trägt  man  kein  Bedenken,  das  Be- 
wusstsein zur  Wirkung  der  Bewegung  zu  machen.  Die  centii- 
petale  Bewegung  der  Reizwelle  hat  jedoch  Muskeln  und  Nerven 
und  Centren  zur  Voraussetzung.  Dennoch  trägt  man  kein  Be- 
denken, das  Bewusstsein  als  Resultante  davon  anzunehmen  und 
anzuerkennen.  Die  Homogeneität  wird  durch  den  angeblich 
gleichmässigen  Agnosticismus  hergestellt.  Warum  misst  man 
nun  aber  mit  anderem  Masse  die  centrifugale  Bewegung? 

Jetzt  sollen  die  Nerven  und  die  Muskeln  die  Scheidewand 
bilden  zwischen  dem  Bewusstsein,  das  hier  auf  einmal  abbreche, 
und  der  Muskelbewegung,  die  das  Bewusstsein,  die  den  Willen 
gar  nicht  angehe.  Warum  auf  einmal  diese  Sprödigkeit?  Diese 
Äluskeln  werden  ja  doch  auch  durch  Nerven  in  Bewegung  gesetzt; 
und  diese  Nerven  haben  doch  auch  ihre  Centren.  Wie  lässt 
sich  dieses  doppelte  Mass  verstehen,  geschweige  rechtfertigen? 

Eine  gewisse  Stütze  könnte  man  für  diese  Inconsequenz  in 
der  Unterscheidung  ansehen,  welche  die  Physiologie  nicht  nur 
zwischen  den  sensibeln  und  motorischen  Nerven,  sondern  auch 
zwischen  den  sensibeln  und  den  motorischen  Centren  macht. 
Man  könnte  einen  Unterschied  der  psychischen  Qualität  darin 
bestätigt  finden,  so  dass  nur  das  sensible  Centrum  in  unmittel- 
barem Zusammenhange  mit  dem  Bewusstsein  stände,  während 
<las  motorische  Centrum  der  Vermittelung  des  sensibeln  bedürfte. 


•  Die  Centren  nur  negative  Bedingungen.  123 

Und  die  Reflexbewegung  würde  hiergegen  keine  Aushilfe 
bieten,  wenn  sie  selbst  jegliche  Vermittelung  eines  sensibeln 
Centrums  ausschlösse,  weil  sie  ja  eben  ihrem  Begriffe  nach 
einen  Gegensatz  zum  Willen,  als  dem  eigentlichen  Bewusstsein, 
bildet.  So  könnte  es  scheinen,  als  ob  das  motorische  Centrum 
in  einer  geschwächten  Beziehung  zum  Bewusstsein  stände.  In- 
dessen ist  auch  dieser  Einwand  und  Vorwand  nicht  stichhaltig. 
Und  die  Illusion  beruht  auf  einer  falschen  Ansicht  von  der 
psychologischen  Bedeutung  der  Central- Apparate. 

Die  nervösen  Centren  sind  in  beiden  Fällen  schlechterdings 
nur  negative  Bedingungen;  ebenso  sehr  für  die  Bewegung,  wie 
für  das  Bewusstsein.  Hier  darf  man  die  alte  Formel  anwenden 
und  sagen,  dass  wir  ebensowenig  verstehen,  wie  infolge  der  Ver- 
arbeitung der  Reize  im  Centrum  Bewegung  entsteht,  als  wir  dies 
andrerseits  in  Bezug  auf  das  Bewusstsein  begreifen.  Das  Centrum 
aber  ist  ebenso  und  gleichsehr  für  die  Bewegung,  wie  für  das 
Bewusstsein  die  Voraussetzung.  In  beiden  Fällen  jedoch  ist  es 
nichts  mehr  als  negative  Voraussetzung. 

Wenn  man  es  sich  nun  gefallen  lässt,  dass  die  auf  das 
Centrum  fortgepflanzte  Bewegung  der  materiellen  Reizwelle  im 
Centrum  so  bearbeitet  wird,  dass  daraufhin  unmittelbar  Bewusst- 
sein aufleuchten  könne,  wie  kann  man  dann  andererseits  über- 
sehen, dass  dasselbe  Centrum  —  denn  es  hat  denselben  psychischen 
Charakter,  als  motorisches,  wie  als  sensibles  Centrum  —  nicht 
in  demselben  genauen  Verhältniss  zu  der  Bewegung  stehen  sollte, 
die  es  es  doch  unverkennbar  vorbereitet.  Man  sieht,  dass  dieser 
zweite  Fehler  vielmehr  nur  die  Fortsetzung  des  ersten  Fehlers  ist. 

Man  durfte  die  Bewegung  nicht  als  Reizquelle  von 
Aussen  annehmen;  man  hätte  sie  im  Bewusstsein  entstehen 
lassen,  dem  Bewusstsein  zur  Erzeugung  geben  müssen.  Dann 
wäre  man  nicht  auf  den  andern  Fehler  gekommen,  die  von  dem 
motorischen  Centrum  eingeleitete  Bewegung  in  diesem  selbst  in 
letzter  Instanz  entspringen  zu  lassen;  während  man  doch  die 
Vorstellung  keineswegs  im  sensibeln  Centrum  entstehen  lässt. 
Vorstellung  aber  hält  man  für  Bewusstsein,  Bewegung  dagegen 
für  Materie. 

Es  könnte  daher  die  Meinung  entstehen,  dass  man  zwei 
Arten   von  Bewusstsein   zu   unterscheiden    hätte:    das    der    Vor- 


124  Die  Reinheit  der  Bewegung. 


Stellung  und  das  der  Bewegung.  Indessen  so  sehr  diese  Ansicht 
als  Uebergang  zu  der  hier  durchzuführenden,  in  der  Logik  vor- 
gezeichneten Lehre  annehmbar  scheint,  so  beruht  auch  sie  auf 
dem  Irrtum  von  der  eminenten  und  eigentlichen  Bedeutung  der 
Vorstellung  und  des  Denkens  als  Bewusstsein,  von  der  allenfalls 
eine  Uebertragung  auf  die  Bewegung  versucht  werden  dürfe. 
Dahingegen  hat  uns  die  Logik  gelehrt,  worauf  wir  hier  schon 
mehrfach  zurückgeblickt  hatten,  imd  was  wir  alsbald  genauer 
zu  betrachten  haben  w^erden,  dass  im  reinen  Denken  selbst  die 
reine  Bewegung  entsteht.  Sie  ist  also  gar  nicht  eine  von  der  Art 
der  Vorstellung  zu  unterscheidende  Art  des  Bewusstseins,  sondern 
innerhalb  des  Bewusstseins  des  reinen  Denkens  entsteht  die  Be- 
wegung, als  eine  Art  des  Urteils  und  der  Kategorie. 

Auf  dieses  tiefe  Recht  geht  unsere  Ansicht  zurück,  den 
Willen  nicht  auf  das  Denken  der  Gesinnung  und  der  Absicht 
abzuschliessen,  sondern  die  Methode  der  Reinheit  in  die 
ausführende  Tat  hinein  zu  erstrecken.  Würde  man,  etwa 
insbesondere  der  Reinheit  zufolge,  die  Bewegung  aus  dem  Willen 
ausschalten  müssen,  so  würde  man  eben  nichts  Anderes  als  Be- 
wusstsein, als  reines  Denken  auslöschen.  Man  würde  also  den 
Vollzug  des  Willens  abbrechen,  bevor  er  zu  seinem  homogenen 
Abschluss  gekommen  wäre;  und  das  Alles  nur  aus  dem  Vor- 
urteile heraus,  dass  die  Bewegung  doch  eigentlich  nur  Muskel- 
bewegung sei.  Und  was  wird  dann  aus  der  Handlung?  Ist  sie 
nicht  trotz  aller  Vergeistigung  schliesslich  doch  nur  Bewegung? 

Die  Handlung  aber  ist  das  eigentliche  Material  des  Rechts, 
also  das  eigentliche  Problem  der  Ethik.  Die  Tat  zwar  ist  nur 
eine  vox  media;  aber  der  Dichter  hat  doch  Recht:  Im  Anfang  w^ar 
die  Tat.  Das  Wort  und  der  Wille  allein  erschöpfen  die  Kraft 
nicht.  Erst  die  Tat  setzt  den  richtigen  Anfang  an.  Es  ist  nicht 
nur  der  Gegensatz  zum  Quietismus  und  asketischen  Mysticismus, 
der  darin  sich  ausspricht;  oder  zu  dem  Eigensinn  der  Willkür 
und  der  Weltflucht;  auch  für  die  Erzeugung  des  reinen  Willens 
gibt  das  Wort  die  richtige  Anweisung.  Der  Wille  wird  von  dem 
Banne  der  Vorstellimg  abgelöst,  und  an  die  Tat  gebunden.  Von 
der  Tat  hat  die  Ethik  zur  Handlung  den  Weg  zu  bahnen. 
Dieser  Weg  wäre  jedoch  nicht  zu  erreichen,  wenn  nicht  an  der 
Tat  der  Bewegung  schon  die  Reinheit  sich  vollziehen  Hesse. 


Der  Seelenbcgriff  der  griechischen  Kultur.  125 

So  sind  wir  denn  bei  der  reinen  Erkenntniss,  als  der  Quelle 
der  Reinheit,  wieder  angelangt,  und  brauchen  nicht  ferner  mit 
dem  populären  Ausdruck  des  Bewusstseins  uns  zu  befassen.  Der 
könnte  ja  nur  für  den  Willen  brauchbar  scheinen;  nicht  für 
den  reinen  Willen.  Die  Anwendung  der  Methode  der  Reinheit 
hat  zur  Voraussetzung  die  Anwendbarkeit  der  Begriffe  des  Ur- 
sprungs, der  Realität,  der  Continuität.  Nur  auf  Grund  dieser 
Methodik  der  reinen  Erkenntniss  kann  der  reine  Wille  zu  Stande 
kommen.  Es  ist  aber  der  Begriff  der  Bewegung  selbst  von  der 
Logik  herüberzunehmen  für  den  in  der  Handlung  culminierenden 
reinen  Willen. 

Die  Bewegung  ist  selbst  Kategorie.  Dadurch  scheint  die 
Schwierigkeit  unübersteiglich  zu  werden.  Denn  die  Bewegung 
ist  nicht,  wie  man  gewöhnlich  sagt,  das  Verhältniss  von  Raum 
und  Zeit.  Der  Raum  muss  vielmehr  in  seiner  Eigenart  auf- 
gelöst werden,  wenn  Bewegung  entstehen  soll.  Und  diese  Auf- 
lösung erfolgt  nicht  schlechterdings  in  Zeit;  sondern  es  bedarf 
dazu  ausser  der  infinitesimalen  Realität  auch  der  Substanz  zur 
Voraussetzung.  Es  könnte  daher  scheinen,  als  ob  der  Versuch 
der  Uebertragung  der  reinen  Erkenntniss  der  Bewegung  auf  den 
reinen  Willen  der  Bewegung  aussichtslos  wäre. 

Indessen  darf  uns  der  methodische  Gedanke  leiten,  den  wir 
schon  in  der  Logik  zu  bewähren  suchten,  und  den  wir  nunmehr 
durchzuführen  haben,  dass  die  Grundzüge  des  reinen  Denkens 
sich  zwar  nur  in  Verbindung  mit  den  mathematischen  Methoden 
zu  exakter  Fruchtbarkeit  praecisieren  lassen,  dass  sie  jedoch  auf 
diese  Grundlegung  der  reinen  Erkenntniss  sich  nicht  beschranken, 
sondern  zugleich  als  GrundbegritTe  der  Ethik  sich  entfalten.  So 
dürfen  wir  denn  auch  für  die  Bewegung  des  Willens  die  An- 
wendung der  Reinheit  versuchen. 

Wir  können  uns  hierbei  auf  einen  fundamentalen  Gedanken 
der  griechischen  Philosophie  berufen  und  stützen;  auf  einen 
Gedanken,  der  Piaton  mit  Pythagoras  verbindet.  Der  Seelen- 
begriff ist  der  centrale  Begriff  der  griechischen  Kultur. 
Er  entspricht  dem  Begriffe  des  Bewusstseins  in  der  modernen 
Kultur.  Und  wie  das  Bewusstsein,  um  seine  Unabhängigkeit  von 
aller  Aussenwelt  zu  dokumentieren,  alsbald  zum  Selbstbewusstsein 
wurde,  so  geschah  es  auch  bei  der  Seele.     Die  wissenschaftliche 


126  Die  Selbstbewegang. 


Praegnanz  des  Seelenbegriffs  entstand  in  der  Weltseele,  nicht 
in  der  Individualseele.  Die  Weltseele  aber  hatte  die  Bewegung 
in  der  Natur  zu  beseelen.  Und  an  diesen  Begriff  der  Bewegung, 
an  die  Seele  der  Bewegung  wurde  das  Selbst  angeknüpft.  Die 
Selbstbewegung  (xo  au-o  xivouv)  wurde  das  wichtigste  Charakte- 
ristikum der  Seele;  von  der  Weltseele  auf  die  Menschenseele 
übertragen. 

Bewegung  kann  nicht  auswärts,  nicht  ausserhalb  des  Be- 
wegten entstehen;  sie  kann  nicht  in  einem  Stoss  von  Aussen 
letztlich  beruhen;  sie  kann  nicht  nur  von  Aussen  gestossen  werden. 
Sie  muss  in  sich  selbst  ihren  Ursprung  haben.  Sie  muss  in  dem 
Bewegten  selbst  anheben.  Darum  muss  sie  Seele,  Erzeugniss  der 
Seele  sein.  Käme  sie  von  Aussen,  so  wäre  sie  Materie.  So 
drückt  sich  die  hergebrachte  Metaphysik  aus.  Wir  müssen 
sagen,  so  bliebe  die  Bewegung  unerklärt;  so  bliebe  sie  ein 
Problem,  dessen  Bearbeitung  mit  dem  andern  Ausdruck  des 
Problems,  welchen  die  Materie  bildet,  zwar  anfangt,  aber  eben 
auch  nur  anfangt.  Die  Seele  ist  Selbstbewegung,  das  be- 
deutet uns:  die  Bewegung  hat  ihren  Ursprung  in  sich  selbst; 
das  heisst:  sie  ist  rein,  wie  das  reine  Denken.  Aber  das  reine 
Denken  erschöpft  den  Begriff  der  Seele,  den  Begriff  des  Bewusst- 
seins  nicht.  Wohlan,  die  Seele  ist  auch  Wille.  Und  der  Wille 
ist  auch  Bewegung.  Auch  diese  seelische  Bewegung  ist  Selbst- 
bewegung; muss  ihren  Ursprung  in  sich  selbst  haben. 

Wenn  wir  nunmehr  diesen  Ursprung  der  Bewegung 
für  den  reinen  Willen  zu  bezeichnen  versuchen,  so  kann  es 
sich  nur  um  eine  Bezeichnung  handeln;  denn  die  Definition 
bleibt  der  Mathematik  für  das  Differential  vorbehalten.  Wir 
haben  es  hier  nur  auf  eine  Analogie  zu  wagen.  Aber  diese  Analogie 
muss  gewagt  werden.  Man  kann  nicht  ausführlich  genug  dem 
Vorurteil  entgegentreten,  welches  das  alte  Motiv  der  Selbst- 
bewegung in  seiner  Ausdeutung  hemmt.  Wenn  die  neuere 
Psychologie  und  Physiologie  von  einer  Bewegungsempfindung 
und  einer  Bewegungsvorstellung  redet,  so  bedeutet  dies  die 
Empfindung  und  die  Vorstellung  von  einer  Bewegung. 

Diese  Bewegung  muss  ja  aber  schon  stattgefunden  haben, 
wenn  sie  eine  Empfindung  und  eine  Vorstellung  von  sich  hinter- 
lassen   soll.      Gibt    es    denn    aber    kein   anderes   Problem    und 


Die  Tendenz.  127 

keinen  andern  Begriff  der  Empfindung  und  der  Vorstellung 
einer  Bewegung  als  den  der  vergangenen,  der  ausgeführten  Be- 
wegung? Ist  denn  die  Bewegungsempfindung  nurNachemplindung^ 
wie  es  allerdings  die  Empfindung  immer  ist?  Ist  aber  auch  die 
Vorstellung  der  Bewegung  nur  das  Schattenbild  derselben? 
Besteht  nicht  vielmehr  das  Problem  zu  Recht:  wie  entsteht 
die  erste  Bewegung?  Etwa  nur  jenseit  des  Bewusstseins,  oder 
aber  im  Bewusstsein  selbst;  und  zwar  nicht  so,  dass  die  Empfindung 
nur  ein  Nachklang  wäre? 

Man  wird  doch  nicht  etwa,  wie  bei  der  Sprache,  auf  die 
Ausflucht  geraten,  die  nur  eine  Station  auf  dem  Rückzuge  bildet^ 
dass  die  Bewegung  durch  Nachahmung  hervorgebracht  w^erde. 
Wenn  diese  Nachahmung  eine  Tat  des  Bewusstseins  sein  soll^ 
so  wird  sich  die  Frage  wiederholen  müssen:  wie  sie  entstehen 
konnte.  Es  bleibt  also  bei  der  Selbstbewegung,  auch  wenn  die 
Bewegung,  die  im  Willen  sich  betätigt,  nur  eine  Nachahmung 
wäre  von  der  Bewegung,  die  in  der  Natur  rollt  und  rauscht. 
Aber  wie  in  der  Kunst  die  Nachahmung  nur  ein  unzulänglicher 
Hilfsbegriff  ist,  noch  viel  weniger  vermag  sie  hier  das  Problem 
zu  bezeichnen,  geschweige  in  Lösung  zu  bringen.  Deswegen 
dürfen  wir  auch  bei  der  Bewegungsempfindung  und  der  Be- 
wegungsvorstellung nicht  stehen  bleiben.  Und  wie  wir  von  der 
Empfindung  und  der  analogen  Begehrung  weiter  geschritten  sind 
zu  dem  Denken  und  dem  analogen  Affekt,  so  müssen  wir  nun 
in  diesem  Momente  des  Affektes,  dem  des  reinen  Denkens  ent- 
sprechend, einen  reinen  Ursprung  zu  bezeichnen  versuchen. 

Die  Tendenz  möge  uns  diese  Analogie  bezeichnen. 

Zunächst  wird  durch  sie  der  Zusammenhang  ersichtlich 
zwischen  der  reinen  Bewegung  und  der  des  Streben s.  Tendenz 
entspricht  zunächst  dem  Impetus  und  Impuls us,  noch  deut- 
licher der  propensione  Galileis.  Sie  drückt  den  Ursprung 
der  Bewegung  aus.  Und  das  ist  ja  die  prinzipielle  Forderung. 
Die  Spannung  zur  Bewegung  ist  die  Entfaltung  zur  Bew^egung,. 
mithin  die  Erzeugung  derselben.  Zugleich  aber  erinnert  der 
Ausdruck  an  die  Begehrung,  an  die  Bestrebung. 

Die  Bestrebung  ist  richtiger  als  die  Begehrung;  daher  diese 
der  Reinheit  unzugänglich  bleibt,  denn  die  Begehrung  ist  schlechter- 
dings ein  transitives  Wort;  sie  hat  das  Ziel  in  sich,  auf  das  sie 


128  Die  Tendenz  und  der  Inhalt. 

sich  erstreckt.  Die  Bestrebung  dagegen  bezeichnet  einen  innern 
Zustand,  eine  innere  Tätigkeit,  in  welcher  das  Bewusstsein  selbst 
sich  ausdehnt.  Und  diese  Expansion  des  Bewusstseins  hat  ihren 
Anfang,  vielmehr  ihren  Ursprung  in  dem,  was  wir  als  Tendenz 
bezeichnen  möchten. 

Die  Tendenz  ist  das  Reine  des  Affekts.  Sie  bricht 
hervor;  sie  quillt  hervor;  woher  und  woraus?  Aus  sich  selbst. 
Und  nur  aus  sich  selbst  soll  sie  hervorgehen.  Diese  Bedeutung 
der  Selbstbewegung  soll  die  Tendenz  ausdrücken.  Man  sage  nicht, 
aus  dem  Bewusstsein  quelle  diese  Tendenz  hervor;  denn  das  Be- 
wusstsein ist  nicht  vorher  da,  bevor  diese  Bewegung  aus  ihm 
hervorgeht.  Die  Bewegung  bringt  sich  selbst  hervor,  und  darin 
zugleich  das  Selbst,  wenigstens  die  Anlage  zum  Selbst. 

Doch  diese  Bedeutung  der  Selbstbewegung  für  das  Selbst- 
bewustsein  darf  uns  jetzt  noch  nicht  interessieren;  jetzt  gilt  es 
das  volle  Interesse  für  die  Selbstbewegung  in  der  Bedeutung  des 
reinen  Ursprungs  der  Bewegung,  und  zwar  auch  für  den  Appe- 
titus.  Wie  die  physikalische  Bewegung  in  ihrer  mathematischen 
Grundform  keinen  andern  Inhalt  kennt  als  denjenigen,  welchen 
sie  in  der  infinitesimalen  Realität  erzeugt;  während  sie  für  den 
sonstigen  Inhalt  der  Bewegungs  -  Materie  auf  die  Substanz 
recurriert,  so  ist  auch  für  die  Bewegung  des  Strebens  nicht  nur 
kein  Inhalt  gegeben,  sondern  auch  kein  anderer  gesetzt.  Es 
handelt  sich  für  sie  um  gar  keinen  andern  Inhalt  als  um  das 
Streben  selbst. 

Diese  exklusive  Bedeutung  in  Bezug  auf  nicht  nur  jeden 
auswärtigen,  sondern  auch  jeden  andern  Inhalt,  als  den  das 
Streben  selbst  bildet,  soll  die  Tendenz  bezeichnen.  Dadurch  wird 
das  Streben  unabhängig  und  souverän  in  sich  selbst. '  Und  diese 
Souveränität  ist  das  Merkmal  der  Reinheit  in  erster  Linie.  Hier- 
durch wird  der  AlTekt  von  allem  Verdacht  des  Sinnlichen  und 
des  Aeusserlichen,  des  Pathologischen  gänzlich  befreit.  Die 
Normalität  des  Bewusstseins  wird  durch  diese  Innerlichkeit  der 
Tendenz  sichergestellt.    Sie  ist  die  erste  Bedingung  der  Reinheit. 

Wenn  wir  so  in  der  Tendenz,  der  Reinheit  gemäss,  jeden 
gegebenen  Inhalt  ausschliessen,  das  Hervorbringen  ihrer 
selbst  als  ihren  alleinigen  Inhalt  erkennen,  so  kommen 
wir  dadurch  zu  der  Unterscheidung,  die  notwendig  ist  zwischen 


Das  Aenssere  und  das  Innere  im  Problem  des  Inhalts.  129 


der  Tendenz,  als  dem  Ursprung  des  Willens,  und  der  äussern 
Bewegung.  Die  physikalische  Bewegung  geht  nach  Aussen;  ist 
dadurch  charakterisiert.  Das  Aussen  wird  zwar  durch  den  Raum 
erzeugt;  und  die  Bewegung  muss,  als  solche,  den  Raum  auflösen. 
Aber  sie  gewinnt  sich  die  Leistung  des  Raumes  befestigter  wieder 
an  der  Substanz  zurück,  welche  ihrerseits  sich  des  Raumes  be- 
mächtigt und  bedient.  So  kann  die  Bewegung  die  Beziehung 
auf  das  Aussen  festhalten;  obwohl  sie  zunächst  es  auflöst  und  in 
Fluss  bringt.  Ihr  Objekt  und  ihr  Problem  ist  nichts  Anderes 
als  die  Aussenwelt,  die  physikalische  Natur.  Und  die  Methode 
der  Reinheit  soll  nur  die  Realität  dieser  Natur  begründen. 

Anders  dagegen  steht  es  um  den  Willen.  Zwar  wird  auch 
er  auf  die  sittliche  Aussenwelt  in  Recht  und  Staat  zu  richten  sein ; 
aber  es  handelt  sich  eben  um  die  genaue  Unterscheidung  der 
sittlichen  Aussenwelt  von  der  physikalischen.  Auf  dieser 
Unterscheidung  beruht  der  Unterschied  von  Logik  und  Ethik. 
Daher  soll  die  Tendenz  die  Restriktion  auf  das  Innere  flxieren. 
Und  so  entsteht  im  Begriffe,  im  Problem  des  Inhalts  der  Unter- 
schied zwischen  dem  Aeussern  und  dem  Innern.  Auch 
die  Tendenz  ist  Bewegung;  aber  diese  Bewegung  geht  nicht  nach 
Aussen,  sondern  immer  nur  auf  das  Innere;  und  wo  sie  auf  ein 
Aeusseres  zu  gehen  scheint,  da  fasst  sie  es  nur  im  Gehalt,  nicht 
etwa  nur  im  Rahmen  dieses  Innern. 

Es  liegt  ein  scheinbarer  Widerspruch  in  dieser  Bedeutung 
der  Tendenz.  Sie  kennt  nur  sich  selbst  und  sucht  nur  sich 
selbst;  strebt  aber,  ihrem  Begriffe  nach,  über  sich  selbst  immer- 
fort hinaus.  Sie  strebt  nicht  zu  anderen  Dingen  fort;  denn  auf 
das  Ding  war  von  Anfang  an  das  Streben  nicht  gerichtet.  Wenn 
es  sich  also  fortsetzt,  so  muss  diese  Fortsetzung  sich  nur  auf 
die  Tendenz  selbst  beziehen.  Die  Fortsetzung  aber  fordert  der 
Begriff  der  Tendenz.  Sie  widerstrebt  dem  Stillstand.  So  scheint 
sie  ebenso  sehr  als  Selbstauflösung,  wie  als  Selbster- 
zeugung sich  beständig  zu  wiederholen  und  fortzusetzen. 
Das  scheint  ein  Widerspruch  im  Begriffe  der  Tendenz,  als  dem 
Ursprung  des  Willens  zu  sein.  Dieser  Schein  rührt  von  einem 
vielfachen  Irrtum  her. 

Der  allgemeinste  Grund  für  den  Irrtum  dieses  Einwands 
liegt    in   der    unkritischen   Ansicht   vom   Bewusstsein   und  vom 

0 


130  Die  Mehrheit  von  Tendenzen. 

Selhstbowusstsein,  an  welcher  auch  die  Psychologie  teilnimmt. 
Wenn  die  Tendenz  über  sich  hinausstreben  soll^  ohne  auf  ein 
äusseres  Ding  zu  gehen,  so  fusst  man  dies  so  auf,  als  ob  die 
Tendenz  über  das  Bewussisein  hinausstreben  sollte.  Indi*ssen 
das  Bewussisein  ist  ja  noch  gar  nicht  vorhanden;  es  soll  ja  erxt 
constituiert  werden.  Auch  für  die  Psychologie  wäre  so  das 
Problem  einzurichten,  geschweige  für  die  Ethik«  die  aus  ihren 
meth(Mlischen  Voraussetzungen  heraus  den  BegrifT  des  Willens 
/u  bilden  hat.  Hs  ist  daher  ein  methodischer  (irund- 
fehler,  wenn  der  Wille  aus  dem  Selbstbewusstsein  her- 
geleitet wird. 

Das  Bewusstsein  darf  nicht  als  vorhanden  angenommen 
werden,  geschweige  das  Selbstbewusstsein.  Wie  das  Bewusstsfin 
an  seinem  Teile,  so  soll  insbescmdere  auch  das  Sc*lbstbewusstsein 
durch  den  Willen  erst  erzeugt  werden.  Deshalb  <larf  man  also 
auch  nicht  sagen,  die  Tendenz  gehe  nicht  auf  ein  iiuvseres  Ding, 
sondern  nur  auf  das  Bewusstsein,  geschweige  auf  tlas  Selbsl- 
bewusslsein:  sondern  man  muss  sagen,  «lie  Temlenz  gehe  nur 
aul  sich  selbst  und  über  sich  selbst  hinaus.  Nur  das  innere 
Si*lbst  mag  des  (legensal/es  zum  Aussen  wegen  als  unansIcissjj^iN 
(Korrelat  gestattet  sein. 

Der  Kinwand  ist  nun  also  beseitigt,  dass  die  Tendenz«  mi- 
fern  sie  über  sieh  selbst  binausslrebt,  das  Innere  nicht  bilden 
könne,  weil  sie  es  zerstöre.  Ks  ist  keine  Ä'rstorung,  welche  in 
dieM*m  ilinausstreben  der  Tendenz  uIht  sich  selbst  verübt 
wunle.  Diese  Meinung  kann  nur  entstehen,  wenn  man  das  lUr- 
wusslsein  als  einen  Herd,  als  eine  p*;:(*bene  .Sache  annimmt, 
nicht  aber  als  ein  I^roblem.  drssm  Bearbeitung  zu  \ ersuchen 
ist.  Die  Tendenz,  welcbr  über  sieh  srlbsl  hinaus;;eht.  zerstört 
sieh  selbst  nicht;  sontlern  sie  wird  über  sich  selbst  gleichs;im 
fort^rfuhrt. 

Der  Begriff  der  Teiiden/  definiert  sieh  in  dem  Merkmal 
der  Mehrheit.  Die  Isoliertbeil  sehliesst  er  aus.  Sie  >^are  nicht 
Heinlieit.  sie  schiene  nur  so  llienlurch  aber  kommen  wir  auf 
eine  neue  .Scli\\ieri;:keil  Die  Tendenz  bedeutet  uns  jel/t  ilie 
Mehl  fielt  \on  Teiiden/en  Wir  sagen  nicht  die  Verbindung 
\on  Tenden/en.  denn  wir  haben  aus  «ler  l,ogik  gelernt,  dasn 
der    Ausdruck    der    Veibiiidun;:    iireliihrend    und   illusorisi^h  ist. 


Unterschied  der  Mehrheit  im  Denken  und  im  Wollen.  131 


Worauf  beruht  die  Verbindung,  die  man  meint?  Sie  kann  nur 
durch  einen  Begriff  vollzogen  werden.  So  nennen  wir  besser 
sogleich  einen  Begriff,  also  den  der  Mehrheit.  Wenn  nun  aber 
die  Tendenz  als  Mehrheit  der  Tendenzen  zu  verstehen  ist,  so 
entsteht  die  Schwierigkeit,  wie  sich  dabei  der  Ursprung  des 
Willens  und  die  Richtung  des  Willens  überhaupt  von  der  des 
Denkens  und  der  Vorstellung  überhaupt  unterscheiden  lasse. 
Mehrheit  bedeutet  ein  Urteil  des  reinen  Denkens.  Wenn  daher 
die  Tendenz  die  Mehrheit  der  Tendenzen  bedeutet,  wie  unter- 
scheidet sich  alsdann  die  Richtung  des  W^illensvon  der 
Urteilsrichtung  des  Denkens? 

Man  könnte  die  Antwort  auf  diese  wichtigste  Frage  in  der 
Unterscheidung  der  Tendenz  selbst  von  dem  Ursprung  und  der 
Realität  im  Denken  suchen.  Aber  dieser  W^eg  wäre  ein  Abweg. 
Denn  wenn  es  zur  Mehrheit  im  Denken  kommen  soll,  so  bedarf 
es  der  Zeit.  Und  die  Zeit  ist  Anticipation ;  sie  geht  unmittelbar 
auf  die  Zukunft  hin.  Die  Tendenz  kann  daher  an  und  für  sich 
nicht  praegnanter  den  Charakter  der  Vorwegnahme  haben,  als 
derselbe  der  Zeit  und  also  dem  Denken  eigen  ist.  Nun  beruht 
aber,  so  scheint  es,  die  Mehrheit  auf  der  Anticipation.  W^enn 
daher  die  Tendenz  die  Mehrheit  der  Tendenzen  bedeutet,  so 
könnte  die  Anticipation  an  sich  diese  Mehrheit  nur  als  Denken 
bilden,  nicht  aber  als  W^illen.  W^ir  müssen  daher  auf  die  Cha- 
rakteristik des  Denkens  zurückblicken,  um  die  neue  Richtung, 
die  die  Mehrheit  der  Tendenzen  für  den  WMllen  einschlägt,  von 
der  Richtung  des  Denkens  zu  unterscheiden. 

Wir  wissen,  dass  die  Verbindung  ein  irreführender  Aus- 
druck ist;  er  löst  nicht  nur  das  Problem  nicht,  welches  er  zu 
lösen  sich  das  Ansehen  gibt,  sondern  er  gibt  dem  Problem  auch 
einen  ungenauen  Ausdruck.  W^enn  die  Verbindung  Vereinigung 
soll  werden  können,  wie  sie  dieses  werden  muss,  so  muss  die 
Sonderung  der  Einigung  die  Wage  halten.  Daher  ist  vorzugs- 
weise die  Sonderung  das  Mittel  der  sogenannten  Ver- 
bindung, welche  das  Denken  ausmacht.  Je  genauer  die 
Sonderung  sich  durchführt,  desto  inniger  wird  sie.  Aber  die 
Innigkeit  verbindet  schon  die  Sonderung  mit  der  Einigung. 
Immer  ist  es  und  bleibt  es  die  Sonderung,  in  welcher  die  Arbeit 
und  der  Erfolg  des  Denkens  beruht. 

9« 


132  Die  Tendenz  und  die  Sonderung. 

Anders  muss  das  Wollen  verfahren.  Man  darf  sich  jetzt 
durch  den  etwa  entstehenden  Gedanken  nicht  irre  machen  lassen« 
dass  doch  auch  das  Wollen  genaue  Sonderung  der  Elemente  und 
Motive  fordere:  denn  diese  Forderung  und  der  (irad  ihrer  Ikr- 
friedigung  hangen  von  der  Verbindung  ah,  welche  zwischen  dem 
Begehren  und  dem  Denken  obwalten  muss,  wenn  das  Begehren 
7.um  Wollen  sich  entwickeln;  richtiger  ausgedrückt«  wenn  aus 
dem  Begehren  Wollen  entstehen  solL  Von  dieser  Be<iingung 
müssen  wir  jedoch  an  dieser  Stelle  absehen,  um  das  Kigentüm- 
liehe  der  Tendenz,  als  des  Ursprungs  des  AfTekts,  genau  zu  er- 
kennen. Wenn  wir  aber  so  von  der  Complikation  mit  dem 
Denken  absehen  müssen,  so  dürfen  wir  den  rnterschie«!  zwisc*hen 
Wollen  und  Denken  an  dieses  ihr  beiderseitiges  Verhältniss  zur 
S<mderung  anknüpfen.  Das  Denken  beruht  auf  der  Son- 
derung; die  Tendenz  widerstrebt  der  Sonderung. 

Wie  kann  denn  nun  aber  die  Verbindung:  oder,  wenn  ^ir 
von  ihr  nicht  re<len  dürfen,  die  Mehrheit  der  Tendenzen  ent- 
stehen? Man  wird  nicht  antworten  wollen,  dass  diese  Mehrheit 
an  sich  entstehe;  denn  das  wäre  keine  Antwort  auf  die  Frage. 
Nach  dieser  Antwort  wäre  die  Mehrheil  nur  ein  PnMiukI  des 
IK'nkens,  wahrend  tlie  Frage  sie  als  ein  l^rcMlukl  des  Willenv 
und  daher  als  ein  Selbster/eugnJNs  der  Tendenz  fordert.  Die 
Tendenz  kann  dcH*h  nur  als  Kinheit,  ho  Ncheint  es,  in  sich  m'IIkI 
entnpringen.  Weiter  meint  man  die  Fonlerung  der  Heinheit  für 
die  Tendenz  nicht  treiben  zu  können. 

Hier  steckt  der  (irund  des  Irrtums.  Man  glaubt  auf  die 
Mehrheit  der  Tendenzen  die  Forderung  der  Heinheit  nicht  er- 
strecken zu  brauchen;  denn  die  Mehrheit  kann  man  ja  vom 
Denken  beziehen.  Da\H  diese  Mehrheit  des  Denkens  aber  einen 
andern  Sinn  bat,  dass  sie  xornebmlich  auf  die  Scmderung  geht, 
das  wini  nicht  beachtet.  Daher  nuiNMMi  wir  die  Frage  in  aller 
Strenge  >aiderholen  wie  kann  die  Mehrheit  der  Tendenzen 
in  dem  He^rilfe  iler  Tendenz  iie;ien*'  Das  ist  ja  €l«H*h  der 
genaurre  Sinn  «ItT  Fra;;r,  wie  die  Mehrheit  der  Tendenzen  ent- 
stehen könne 

Die  Foiniuliniuig  d«T  Fra^e  muss  M*bon  tlie  Antwort  enl- 
halten.  Fs  liepjl  im  B«*;irille  drr  Tendenz,  als  drs  l'rsprungn  de^ 
reinen    Wilhiis,  du*  Mrhibnt    der  Ten<len/en    /u    bedeuten      Im 


Die  Mehrheit  der  Tendenzen  im  Begriffe  der  Tendenz.  183 


Denken  ist  die  Abstraktion  eines  isolierten  Elementes  zulässig. 
Freilich  kann  es  nicht  bei  dieser  Isolierung  allerwege  sein  Be- 
wenden haben;  aber  darum  handelt  es  sich  jetzt  nicht.  Für  den 
Willen  dagegen  ist  die  Abstraktion  eines  isolierten  Elementes 
sinnlos;  daher  ist  sie  für  den  Begriff  der  Tendenz  unzulässig. 
Die  Tendenz  bedeutet  schlechterdings  die  Tendenzen. 

So  ergibt  sich  der  Unterschied  zwischen  dem  Willen 
und  dem  Denken.  Ein  isolierter  Vorgang  wäre  Bewegung, 
nämlich  physikalische;  also  Denken,  nicht  aber  ein  Element 
der  Begehrung.  Selbst  zu  einer  Reflexbewegung  würde  mehr  zu 
fordern  sein.  So  erkennen  wir  denn  in  dieser  Mehrheits-Bedeutung 
der  Tendenz  beinahe  schon  mit  psychologischer  Deutlichkeit, 
wie  sich  die  Tendenz  zur  Grundlage  des  Willens  eignet,  sofern 
derselbe  als  von  der  Begehrung  ausgehend  bestimmt  werden 
muss.  Und  dennoch  bleibt  der  Unterschied  vom  Denken  klar 
und  bestimmt,  obzwar  die  Anticipation  hier  wie  dort  wirksam  ist. 

Der  rastlose  Fortgang  der  Bewegung  bildet  psychologisch 
das  Eigentümliche  der  Begehrung.  Die  Begierde  hüpft  vor  uns 
her.  Sei  es  Verfolgung  (Suü^k;),  oder  Flucht  (cpüfV;),  wie  positiv 
oder  negativ  die  Begierde  in  der  griechischen  Bildersprache  be- 
zeichnet wird,  immer  ist  es  der  rastlose  Lauf,  das  scheinbar  end- 
lose Fortstürmen,  was  die  Begierde  auszeichnet.  Nicht  ein  Ueber- 
mass,  sondern  den  idealisierten  Begriff  der  Begierde  zeichnet  der 
Dichter  in  dem  Worte,  dass  der  Genuss  selbst  schmachtet  nach 
Begierde.  Vielleicht  liegt  in  dem  Verschmachten  ein  fingiertes 
Zuviel;  denn  in  der  Begierde  selbst  ist  der  Genuss  wiederum  auch 
nicht  ganz  verlöscht.  Es  ist  ein  unaufhörlicher  Wechsel;  und 
auf  den  Wechsel  kommt  es  an.  So  urteilt  nicht  nur  der  ab- 
wehrende Moralist.  So  muss  auch  die  Charakteristik  der  Tendenz 
für  die  Ethik  und  daher  für  den  reinen  Willen  angelegt  werden. 

Woher  kommt  nun  dieser  rastlose  Fortgang?  So  darf  man 
nicht  fragen.  Die  Antwort  könnte  nur  sein:  aus  der  Defmition 
kommt  er.  Das  ist  der  Sinn  der  Tendenz  von  Anfang  an,  dass 
sie  über  sich  selbst,  das  heisst  uns  jetzt,  über  die  Abstraktion 
ihres  isolierten  Ansatzes  hinaus  schreitet,  dass  sie  sich  zur 
Mehrheit  forttreibt.  Es  ist  kein  fremdes  Element  des  Denkens, 
welches  diese  Mehrheit  an  ihr  hervorbringt;  sondern  es  ist  ihr 
eigener  Trieb   und   der  Begriff  dieses  Triebes,   der   diesen  Fort- 


134  Die  Tendenz  und  die  Continuit&t. 

schritt  in  ihr  hervorruft.  Der  Fort^an^  ist  Fortschritt;  er  ent- 
faltet die  Bedeutung,  die  von  Anfang  an  der  Tendenz  eigen  i%t. 
Ks  ist  daher  nur  die  Seihstentfaltung  der  Tendenz,  welche  in 
dem  rastlosen  Fortgang,  den  wir  als  liegehrung  kennen,  sich 
vollzieht. 

Tnd  diese  Seihstentfaltung  der  Tendenz  steht  im  Kinklang 
mit  der  Anticipation,  welche  die  (irundhedingung  aller  Rein- 
heit ist;  uml  welche  für  die  Hegehrung  von  besonderer  Praegnanz 
ist.  Das  Fortstürmen  von  Temlenz  zu  Tendenz  siiieint  eine  rast- 
lose Fortführung  der  Anticipation  zu  sein,  und  am  besten  sich 
auch  psychologisch  als  solche  zu  erklären.  Die  neue  Tendenz, 
zu  der  das  Streben  weitergeht,  wird  vorweggenommen;  sie  hinkt 
nicht  der  Vorstellung  nach;  sie  eilt  ihr  voraus;  und  der  Vor- 
stellung bleibt  nur  übrig,  das  anticipierte  Motiv  so  gut  cnier  vi 
schlecht  es  gehen  mag,  im  Begriffe  zu  fassen.  Ehe  der  Laut  c*s 
geformt,  und  ehe  der(ie<lanke  es  gezeichnet  hat,  hat  die  Tendenz 
ihren  Sprung  wie  ins  Leere  getan.  Aber  das  lA*ere  ist  nur  ein 
Vorwärts;  und  alles  Streben  ist  ein  solches  Fortschreiten  und 
Vorschreiten  in  ein  erst  zu  entdeckendes,   zu  erUndentfes  (iebiet. 

liier  kann  die  (Kontinuität  beachtet  werden,  wie  auch  sie 
sich  hier  zu  bewahren  \ermag.  Im  Denken  ist  die  Kontinuität 
durch  forl/ufuhrende  Neuerzeugung  der  Healitat  bedingt.  DicM* 
Forderung  M-heint  im  Denken  erfüllbar,  weil  es  eben  auf  ,S<mde- 
rung  beruht.  Die  Sonderung  fordert  und  ermöglicht  die  Neu- 
er/eugung  liier  aber  kommt  es  ja  nicht  sowohl  auf  die 
Somierung,  als  vielmehr  immer  nur  auf  den  Anschluss  an,  <ler 
durchaus  nicht  abgrbrochen  werden  darf;  ausgenommen  Iredich 
in  der  Abstraktion  des  ein/.elnen  Falles;  nicht  aber  in  der  IX»- 
linition  des  Begriffs.  Da  scheint  die  (Kontinuität  gar  nicht  ange- 
bracht /u  sein;  nicht  nur  nicht  anwendbar,  simdern  gar  nicht 
am  IMal/e  /u  sein.  Diese  Kin\\en«iung  widerspräche  jt^hK*h  dem 
Pi«»bl<'m  des  reinen  Willens.  Die  (lonlinuilat  muss  gefonlert 
werden,  wenn^lfich  nur  cler  Analo;;ie  n:ich;  die  Frage  kann  nur 
sein,  ob  sie  du rehlu lirbar  ist.  Dieser  Frage  aber  begegnet  die 
Tendrii/  Das  Anal<»;;on,  welches  sie  /ur  Healitat  bildet,  lH*steht 
in  dieser  ihrer  Disposition  zur  (ionliiuiilat  Wie  sehr  immer  der 
Foit;»anü  \on  T«Miden/  zu  Teiulenz  ^elonlert  wird.  s4»  ist  «lieser 
i'oit;;:in^  iloeh  niti    als  Neiierzeu^^iiiiL;    ;;emass  der  (Kontinuit.it  /u 


Die  Tendenz  und  die  Realität.  1,% 


denken.  Sonst  wäre  der  Fortgang  nicht  der  Fortschritt  in  der 
Entwicklung  des  Begriffs;  sondern  es  würde  ein  Ahfall  vom  Be- 
griffe zu  vermerken  sein. 

Wir  können  aber  auch  psychologisch  schon  den  Werl  uns 
klar  machen,  den  diese  Anwendung  der  Continuität  hat;  somit 
den  Einwand  verscheuchen,  als  ob  es  sich  nur  um  eine  schema- 
tische Durchführung  dabei  handelte.  Und  diese  psychologische 
Illustration  wird  ja  selbst  ihre  Beglaubigung,  und  also  wohl  auch 
ihren  Grund  und  Anlass  in  einer  wichtigen  Distinktion  der  Ethik 
finden.  Wenn  nämlich  die  Begehrung  nicht  auf  Neuzeugung 
beruht,  wenn  sie  nur  Fortsetzung  desselben  Motivs  ist,  dann 
nennt  man  die  Begehrung  nicht  Willen,  sondern  Leidenschaft. 
Auf  der  Verjährung  kann  doch  wahrlich  der  BegritT  der  Leiden- 
schaft nicht  beruhen;  wie  lange  sie  sich  eingenistet  habe,  das 
muss  belanglos  sein.  Das  aber  macht  einen  Unterschied,  ob  die 
Begehrung  sich  nur  fortspinnt,  oder  aber  sich  neu  erzeugt.  Und  so 
unterscheidet  sich  durch  diese  continuierliche  Neuerzeiigung, 
welche  für  die  Tendenz  charakteristisch  ist,  in  dieser  zugleich 
der  Affekt  von  der  Begierde;  denn  die  Grundlage  des  Affekts 
für  alle  Complikationen,  die  er  einzugehen  hat,  soll  die  Tendenz 
bilden. 

Bevor  wir  diese  weiteren  Complikationen  überschauen, 
können  wir  uns  doch  über  die  Richtung  Rechenschaft  geben, 
welche  wir  in  dieser  Grundlegung  des  reinen  Willens  verfolgen. 
Wir  suchen  den  Affekt  zu  Ehren  zu  bringen;  wir  setzen  ihn  für 
das  Eiferartige  {b'j'ifjZ'ZU}  ein.  Und  das  ganze  genus  proximum 
für  diese  Species  des  Affekts  ist  uns  die  Bewegung.  Das  ist  aber 
nur  die  eine  Richtung  unserer  Charakteristik.  Sie  geht  scheinbar 
den  physiologischen  Weg:  Bewegung  und  Affekt  werden  aU  die 
Grundlagen  des  Willens  gesetzt.  Der  Wille  soll  Jedoch  der  reine 
Wille  werden-  Demgemäss  muss  die  Grundlegung  andcrer>eitH 
den  logischen  Weg  nehmen. 

Und  die  Logik  hatte  diesen  Weg  geöffnet.  Die  Bewegung 
ist  nicht  nur  für  die  Mechanik  eine  Kategorie;  .sondern  sie  ist 
schon  für  das  Urteil  der  Mehrheit  in  der  Zeit  wirksam.  I>aher 
wird  die  Methode  der  Reinheit  dem  Problem  des  Willens  zu- 
gänglich. Es  ergibt  >ich  M>nach  die  Tendenz  aU  das 
Analogen  der  Realität.    Wie  diese,  dem  fumlamentah-n.  dem 


186  Der  Gegensatz  zum  Gegebenen. 


denkgesetzlichen  Urteile  des  Ursprungs  gemäss,  das  Element  als 
solches  und  als  den  Grund  des  Inhalts  constituiert,  so  bezeichnet 
auch  die  Tendenz  gleichsam  den  absoluten  Ursprung  des  Willens, 
als  der  Bewegung.  Diese  ist  nicht  gegeben  und  wird  nicht 
empfangen;  sondern  sie  wird  in  diesem  Ursprünge  der  Tendenz 
erzeugt. 

So  hält  die  Tendenz  den  Zusammenhang  mit  dem  reinen 
Denken  aufrecht.  Zugleich  aber  biegt  sie  wieder  in  die  Richtung 
des  Affekts  ein.  Diese  Umlenkung  wird  durch  die  Anticipation 
gefördert,  welche  zwar  schon  in  der  Zeit  wirksam  wird,  welche 
jedoch  von  besonderer  Praegnanz  für  die  Begehrung  ist,  so  dass 
sie  erst  von  dieser  auf  die  Zeit  übertragen  zu  sein  scheint.  Während 
nun  aber  die  Begehrung  ein  ungereinigtes  Problem  bezeichnet, 
wie  der  analoge  Begriff  der  Empflndung,  so  bahnt  der  Affekt 
die  erforderliche  Reinigung  der  Begehrung  zum  Willen  an; 
während  die  Tendenz  nur  als  Reinigung  des  Bewegungsmotivs 
der  Begehrung  gedacht  werden  könnte. 

Der  Affekt  soll  dieses  anscheinend  sinnliche  Element  als 
ein  reines  geltend  machen.  Die  Reinheit  muss  den  Unterschied 
klarstellen,  der  zwischen  der  Begehrung  und  dem  Willen,  also 
auch  dem  Affekte,  zu  errichten  ist,  auf  den  es  bei  dem  ganzen 
Problem  des  Willens  ankommt.  Dieser  Unterschied  geht  auf  den 
Gegensatz  zu  dem  Gegebenen  aller  Art.  Das  Begehren  geht 
auf  ein  Ding;  es  sei  Speise  oder  Besitz  oder  Herrschaft.  Der 
Wille,  sofern  er  ein  reiner  ist,  hat  gemäss  und  vermöge  der 
Methode  der  Reinheit  seinen  gesamten  Inhalt  sich  erst  zu  er- 
zeugen. 

Unter  den  Begriffen  auf  der  theoretischen  Seite  der  Grund- 
lage des  Willens  haben  wir  den  Vorsatz  von  der  Absicht 
unterschieden;  und  zwar  dahin,  dass  die  Absicht  mehr  der 
Seite  des  Denkens  zufiel,  während  der  Vorsatz  auf  die  Seite  des 
Affekts  hinneigen  sollte.  Mit  dem  Affekte  muss  nun  aber  auch 
der  Vorsatz  dem  entscheidenden  Interesse  der  ganzen  Unter- 
scheidung und  Untersuchung  zu  dienen  haben.  Der  Vorsatz 
darf  sich  seinen  Inhalt  nicht  geben,  nicht  vorsetzen 
lassen.  Man  könnte  meinen,  das  Denken  müsste  doch  berechtigt 
sein,  den  Vorsatz  zu  leiten.  Freilich  soll  es  dies;  aber  diese 
Leitung  darf  nicht  so  verstanden  werden,  dass  das  Denken  einen 


Die  Aufgabe.  137 


lediglich  theoretischen  Inhalt  dem  Affekte  vorsetzen  dürfte;  der 
Inhalt  des  Affekts,  also  des  Vorsatzes,  wie  sehr  er  durchdacht 
werden  muss,  kann  doch  nur  ein  praktischer,  ein  Willensinhalt 
sein.  Daher  muss  der  Vorsatz  seinen  affektiven  Charakter  be- 
haupten, auch  für  die  reine  Erzeugung  seines  Inhalts. 

Diesen  doppelten  Sinn  des  Vorsatzes,  in  dessen  Einheitlichkeit 
übrigens  der  Wert  des  Begriffs  für  die  ethische  Charakteristik 
besteht,  soll  uns  der  Terminus  Aufgabe  zum  Ausdruck  bringen. 
Die  Aufgabe  widerspricht  zunächst  dem  Gegebenen;  sie  enthält 
selbst  das  Gegebene;  sie  macht  es  aus.  So  dient  die  Aufgabe 
der  Reinheit.  Der  Inhalt  wird  in  ihr  reiner  Inhalt.  Die  Aufgabe 
kann  sich  immer  noch  auf  ein  äusseres  Ding  beziehen;  aber 
diese  Beziehung  kann  nur  äusserlich,  nur  übeiiragener  Weise 
stattfinden.  Es  müsste  denn  von  vornherein  klar  sein,  dass  das 
äussere  Ding  den  Affekt  kommandieren  und  sich  ihm  vorsetzen 
könne.  Die  Aufgabe  bezieht  sich  vielmehr  vorzugsweise  auf  die 
Innenwelt  dieser  Strebungen  und  Tendenzen,  in  denen  allein 
sie  sich  zu  vollziehen  hat. 

Wir  haben  in  der  Logik  den  Begriff  der  Aufgabe  auch  für 
die  allgemeine  Charakteristik  des  Denkens  im  Urteil  heran- 
gezogen; aber  auch  da  für  die  Zusammenwirkung  der  Methoden^ 
welche  im  reinen  Denken  sich  ergänzen,  so  dass  keine  derselben 
ihren  Lauf  vollenden  kann,  sondern  immer  gleichsam  halbwegs 
von  der  andern  abgelöst  werden  muss.  Es  ist  also  eine  Art  von 
praktischer,  von  Willens- Aufgabe,  welche  so  dem  Denken  gestellt 
wird.  Denn  vorwiegend  gehört  die  Aufgabe  dem  Gebiete  des 
Willens  an.  Und  sie  macht  es  deutlich,  dass  es  nur  der  eigene, 
der  selbst  vorgesetzte  Inhalt  ist,  den  der  Affekt  bearbeitet,  den 
er  sich  aufgibt. 

Es  ist,  als  ob  die  Tendenz  in  ihrem  Fortgange  sich  selbst 
darlegen,  nur  ihre  Kraft  und  ihren  Quell  ausmessen  wollte,  wie 
weit  sie  unerschöpflich  seien.  Wenn  die  Aufgabe  dennoch  in 
einem  Gegenstande  erscheint,  so  sei  er  nur  das  Mittel,  um  diesen 
Eigenwert  des  Affekts  dai*zutun.  Ist  es  uns  doch  auch  psycho- 
logisch sehr  bekannt  und  deutlich,  dass  ein  bestimmter  Inhalt, 
ein  genau  gedachter,  ja  auch  nur  ein  deutlich  vorgestellter 
Gegenstand  gänzlich  zu  fehlen  scheint,  während  dennoch  der 
Affekt,  wie  er  gewöhnlich  genommen  wird,  in  heftigen  Sprüngen 


138  Das  Gefahl  von  Lust  und  Unlust. 


und  Erschütterungen  sich  ergeht;  wie  wenn  er  ein  Spiel  mit 
sich  selbst  triebe.  So  wenig  scheint  es  auf  den  Gegenstand  selbst 
als  Inhalt  anzukommen.  Diese  Eliminierung  des  äussern  Gegen- 
stands ergibt  und  erklärt  sich  unter  dem  Zeichen  der  Aufgabe. 
Was  ist  denn  nun  aber  der  Inhalt  des  Affekts,  wenn  die 
Aufgabe  den  äussern  Gegenstand  eliminiert?  Diese  Frage  muss 
für  den  Begriff  des  Inhalts  auf  den  Affekt  selbst  eingeschränkt, 
nicht  etwa  auf  den  zu  denkenden,  also  vom  Denken  abhängigen 
Inhalt  des  Willens  ausgedehnt  werden.  Als  Inhalt  des  Affekts 
bleibt  die  Aufgabe  selbst  der  alleinige  und  der  volle 
Inhalt.  Die  Aufgabe  selbst  ist  zugleich  ihre  Erfüllung;  freilich 
nicht  ihre  Erledigung.  Diese  hängt  von  anderen  Umständen  ab; 
vor  Allem  vom  Denken.  Aber  der  Fortgang  von  Tendenz  zu 
Tendenz,  von  Aufgabe  zu  Aufgabe  schliesst  die  Erledigung  aus; 
nämlich  dem  Begriffe  dieses  Fortgangs  gemäss.  Die  Erledigung 
dieses  Fortgangs  wäre  die  Erledigung  der  Tendenz  und  des 
Affekts;  wäre  das  Auslöschen  des  Willensursprungs.  Die  Er- 
ledigung der  Aufgabe  wäre  ihre  Vernichtung.  Nur  in  dem  Fort- 
gange der  Aufgaben  kann  die  Aufgabe  Vollzug  und  Lösung  zu- 
gleich finden.  Die  Aufgabe  macht  den  Affekt  reflexiv 
und  immanent;  zugleich  aber  auch  als  eine  Art  und  Richtung 
des  Bewusstseins  souverän  und  rein. 


Diese  ganze  Grundlegung  des  reinen  Willens  im  reinen  Affekt 
widerspricht  einer  Ansicht,  welche  von  den  Zeiten  der  Sophistik 
ab  nicht  aus  dem  Felde  geschlagen  werden  konnte,  obwohl 
bereits  Plato  die  entscheidenden  Argumente  gegen  sie  gerichtet 
hat.  Heute  wie  damals  wird  als  Grundlage  des  Willens  das 
Gefühl  von  Lust  und  Unlust  aufgestellt.  Wir  treten  sogleich 
in  die  Erörterung  der  Sache  ein,  indem  wir  die  historische  Vor- 
frage stellen:  wie  ist  es  nur  verständlich  und  denkbar,  dass 
dieser  Standpunkt  nicht  erschüttert  werden  konnte?  Man  kann 
buchstäblich  nicht  einmal  sagen,  dass  die  Argumente,  die  metho- 
dischen Begriffe  und  Wendungen  sich  erheblich  verändert  hätten. 
Sie  sind  sogar  in  der  Psychologie  der  Hauptsache  nach  dieselben 
geblieben;  ganz  besonders  aber  in  der  Ethik.  Und  diese  letztere 
Beharrung   führt   uns   zur    Antwort   auf  die   historische   Frage. 


Der  Eudaemonismus  und  die  Sophistik.  139 


Kant  bezeichnete  alle  Moralphilosophie,  sofern  sie  auf 
Lust  und  Unlust  gegründet  wird,  als  Eudaemonismus  und 
Egoismus.  Damit  aber  ist  die  Antwort  auf  unsere  Frage  nur 
halb  gegeben.  Denn  die  Frage  geht  weiter:  wie  ist  es  zu  ver- 
stehen und  zu  denken,  dass  erst  Kant  diesen  Gegensatz  gegen 
alle  bisherige  Moral  erneuern  konnte,  während  doch  Plato  mit 
aller  Schärfe  und  Energie  die  Scheidung  schon  vollzogen  hatte? 
Hatte  sich  denn  trotz  aller  Religion  gar  nichts  in  der  Welt  ver- 
ändert, so  dass  die  Sophistik  herrschend  bleiben  konnte? 
Oder  ist  etwa  die  Moralphilosophie  nicht  Sophistik,  wenn  sie 
Endaemonismus  und  Egoismus  ist?  Besteht  doch  der  Unter- 
schied zwischen  Philosophie  und  Sophistik  in  gar  nichts  An- 
derem als  in  der  Begründung  der  Erkenntniss  aller  Art  im 
reinen  Denken;  nicht  aber  in  Lust  und  Unlust. 

Das  ist  der  Unterschied,  wie  ihn  Plato  am  Schlüsse  des 
Philebus  in  leuchtenden  und  brennenden  Worten  bezeichnet: 
auf  der  einen  Seite  steht  die  philosophische  Muse;  auf  der  andern 
die  Ochsen,  Pferde  und  die  Tiere  insgesamt,  denen  die  Menge 
folge  in  dem  Glauben,  dass  die  Lüste  uns  die  stärksten  Führer 
für  das  Leben  seien.  Sie  folgen  ihnen  darin,  wie  die  Vögel  den 
Wahrsagern.  Eindringlicher  und  schlagender  hat  auch  Kant  selbst 
die  Parole  nicht  formuliert.  Wie  konnte  es  nun  kommen,  dass 
das  Weltalter  der  Sophistik  scheinbar  zwar  seine  Devisen  ver- 
änderte; im  tiefsten  Grunde  aber,  in  der  Beibehaltung  der  Lust 
als  des  Wegweisers  für  das  menschliche  Leben  nicht  abgewirt- 
schaftet, und  die  Herrschaft  nicht  verloren  hat? 

Wenn  wir  diese  Frage  jetzt  beantworten  wollten,  so  würden 
wir  den  stärksten  und  grössten  Stilfehler  begehen;  wir  würden 
den  eigentlichen  Inhalt  dieser  Ethik  vorwegnehmen.  Denn  dieses 
Buch  hätte  kein  eigenes,  neues  Problem,  wenn  es  nicht  auf  diese 
Frage  zugespitzt  wäre;  und  wenn  es  nicht  auf  Grund  dieser  Frage 
an  einem  neuen  Problem  und  an  einer  neuen  Lösung  der  Ethik 
sich  versuchen  wollte. 

Darin  besteht  die  Erneuerung  der  Platonischen  Ethik, 
welche  Kant  vollzog:  dass  er  dem  Elgoismus  gegenüber  die  aus- 
nahmslose Allgemeinheit  zum  unverbrüchlichen  Inhalt  erhob. 
Und  das  war  das  Neue,  dass  er  die  Menschheit  in  diese  aus- 
nahmslose Allgemeinheit   einsetzte.    Diese   war   noch   nicht   bei 


138 

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Der  Zusammenhang  von  Lust  und  Unlust  mit  dem  Individuum.    141 


sieht  der  Sophistik  fassen  wir  hier  den  Gegensatz  gegen 
Lust  und  Unlust  als   die  Triebfeder  des  sittlichen  Geistes. 

Um  diese  Opposition  durchzuführen,  worin  die  Grundlegung 
des  reinen  Willens  schon  zu  gipfeln  scheinen  könnte,  sollen  uns 
die  Tendenz  und  die  Aufgabe  von  Nutzen  werden.  Die  Aufgabe 
ist  selbständig  und  erschöpfend  in  ihrem  Inhalt,  wie  sie  in  der 
Tendenz  entsteht,  und  in  dem  Fortgang  der  Tendenzen  sich  er- 
hält. Und  diese  machen  auch  den  Affekt  selbständig  in  seiner 
Innerlichkeit.  Alle  diese  Begriffe  würden  der  Selbständigkeit  und 
somit  der  Reinheit  verlustig  gehen,  wenn  sie  nur  Vertreter  und 
gleichsam  Ableger  von  Lust  und  Unlust  wären. 

In  diesem  beherrschenden  Zusammenhange  mit  der  geschicht- 
lichen Ansicht  aller  bisherigen  Politik  fassen  wir  hier  den 
allgemeinen  psychologischen  Grundgedanken  von  Lust  und  Unlust, 
als  den  unbezwinglichen  und  zugleich  untrüglichen  Grundmächten 
des  Bewusstseins.  Vielleicht  darf  man  sagen,  dass  die  psycho- 
logische Ansicht  von  Hunger  und  Liebe,  als  den  einzigen  aus- 
schlaggebenden Trieben  der  Welt,  sich  nicht  hätte  behaupten 
und  nicht  als  eine  selbstverständliche  Wahrheit  gelten 
können,  wenn  nicht  alle  Weltlage  der  seitherigen  Geschichte  den 
Satz  unterstützt  hätte.  Um  das  Individuum  allein  scheint 
sie  sich  zu  drehen;  das  Individuum  allein  scheint  die  Welt 
zusammenzuhalten.  Das  Individuum  aber  hat  sein  unfehlbares 
Lebensgesetz  in  Lust  und  Unlust.  Und  eine  solche  Welt  in  den 
Klammern  des  Individuums  soll  die  sittliche  Welt  oder  wenigstens 
das  Vorspiel  derselben  sein. 

Dabei  macht  es  sogar  wenig  Unterschied,  ob  die  Politik 
dynastisch  oder  national  geführt  wird.  Ist  es  doch  auch  in  der 
nationalen  Politik  das  Individuum,  welches  zum  Handlanger 
des  Dynasten  wird,  wenngleich  als  Missionar  der  nationalen  Idee. 
Denn  wo  die  Nation  selbst  das  allerletzte  Ziel  der  Politik  bildet, 
da  ändert  sich  nur  scheinbar  die  Devise,  indem  Subjekt  und 
Prädikat  sich  ändern:  das  Volk  sind  Wir.  Und  diese  Wir  sollten 
freilich  alle  Ich  sein;  aber  wer  wird  so  buchstäblich  ein  politisches 
Programm  verstehen  wollen.  So  bleibt  es  bis  auf  Weiteres  bei 
den  bevorzugten  Individuen,  von  denen  doch  einmal  der  Lauf 
der  Geschichte  abhänge;  und  alle  Anderen  haben  sich  an  dem 
Glanz  des  Wortes  der  Nation  zu  sonnen. 


140  Die  soziale  Menschheit 

Pia  ton  als  Idee  bezeichnet  wenngleich  Ahnungen  davon  der 
sterbende  Sokrates  aussprach,  indem  er  auf  Delphi,  als  den  Nabel 
der  Welt,  hinwies,  und  indem  er  seine  Jünger  über  Hellas  hin- 
aus in  die  Welt  zu  gehen  ermahnte  und  tröstete. 

Diese  Menschheit  war  von  den  Propheten  erdacht  und 
erfüllt  worden;  sie  hatten  ihr  Vaterland  darum  preisgegeben. 
Kant  aber  war  bei  dieser  Idee  tler  Menschheit  nicht  stehen  ge- 
blieben, sondern  er  hatte  sie  an  dem  unmissversländlichen  Hei- 
spiel ökonomischer  BegrifTe  verdeutlicht,  verengt,  und  doch  uni- 
versell praecisiert:  wir  wenien  dies  später  zu  betrachten  hal>en. 
Tnd  wir  werden  dann  zu  erkennen  liaben,  dass  damit  auch  im 
geschichtlichen  und  im  |>olitischen  Sinne  eine  neue  Weltansicht 
sich  aunat;  nicht  etwa  nur  ein  neues  Prinzip  der  wissen- 
Nchafllichen  Kthik. 

Denn  das  war  Kants  Sinn  bei  jener  schrolTen  Scheidung, 
die  er  zwischen  sc*iner  Kthik  und  aller  andern,  ausser  der  Plat<»- 
nischen,  zog:  dass  er  dadurch  aller  andern  angeblichen  Kthik 
den  (Charakter  der  Wissenschaft  und  der  Philosophie  ab- 
sprach. Sic  konnte  zusehen,  wie  sie  bei  der  Metaphysik  l'nter- 
kunn  fände.  Die  Wissenschaft  der  Kthik  konnte  aber  erst  wieder- 
erstehen, indem  tler  Begriff  des  Menschen,  wie  Sokrates  ihn 
entdeckt  hatte,  dem  neuen,  dem  anbrechenden  Weltalter  gemäss 
zur  Wiederentdeckung  kam  in  der  Idee  der  Mensc^hheit.  Tnd 
es  war  nicht  die  kosmopolitische  Mensi'hheit  allein«  in  welcher 
der  B(*griff  des  Menschen  dem  Zeitaller  der  Humanität  gemäss 
wicMiergeboren  wurde;  sondern  es  war  die  soziale  Menschheit, 
die  den  Begriff  ties  Mensiiien  für  jegliches  Volk  st^lbst  und  da- 
mit erst  für  die  Mensehheit  zur  poltlisi*hen  Wahrhaftigkeit,  und 
dadurch  erst  zur  ethischen  Bestimmtheit  brachte. 

In  diesem  (ie;^ensat/e  /u  aller  Moral,  die  nicht  aus  dem  B«*- 
griffe  des  reinen  Willens  allein  die  Kthik  erzeugt,  un<l  die  daher 
auf  die  Machte  der  seitherigen  Kultur  sieh  stut/t,  und  zu  deren 
be<|ueiiier  Beglaubigung  auf  die  angebliche  und  anscheinende 
N;itur  des  Mens4*hen  und  der  Mensehen  sieh  beruft;  im  Gegen- 
sätze /u  der  ^(*s;imten  Weltansiiht,  welche  die  Selbstsucht  als 
den  (irundlru'li  und  die  (irundkraft  des  Me nsiiien herze ns  an- 
preist ;     im     (iegrns:it/e    gegen    diese    Moral    und    Weltan- 


Der  Zusammenhang  von  Lust  und  Unlost  mit  dem  Individuum.    141 

sieht  der  Sophist!  k  fassen  wir  hier  den  Gegensatz  gegen 
Lust  und  Unlust  als   die  Triebfeder  des  sittlichen  Geistes. 

Um  diese  Opposition  durchzuführen,  worin  die  Grundlegung 
des  reinen  Willens  schon  zu  gipfeln  scheinen  könnte,  sollen  uns 
die  Tendenz  und  die  Aufgabe  von  Nutzen  werden.  Die  Aufgabe 
ist  selbständig  und  erschöpfend  in  ihrem  Inhalt,  wie  sie  in  der 
Tendenz  entsteht,  und  in  dem  Fortgang  der  Tendenzen  sich  er- 
hält.  Und  diese  machen  auch  den  Affekt  selbständig  in  seiner 
Innerlichkeit.  Alle  diese  Begriffe  wurden  der  Selbständigkeit  und 
somit  der  Reinheit  verlustig  gehen,  wenn  sie  nur  Vertreter  und 
gleichsam  Ableger  von  Lust  und  Unlust  wären. 

In  diesem  beherrschendenZusammenhange  mit  der  geschicht- 
lichen Ansicht  aller  bisherigen  Politik  fassen  wir  hier  den 
allgemeinen  psychologischen  Grundgedanken  von  Lu.st  und  Unlust. 
als  den  unbezwinglichen  und  zugleich  untrüglichen  Grundmächten 
des  Bewusstseins.  Vielleicht  darf  man  sagen«  dass  die  psycho- 
logische Ansicht  von  Hunger  und  Liebe,  als  den  einzigen  au^- 
schlaggebenden  Trieben  der  Welt«  sich  nicht  hätte  behaupten 
und  nicht  als  eine  selbstverständliche  Wahrheit  gelten 
können,  wenn  nicht  alle  Weltlage  der  seitherigen  Geschichte  den 
Satz  unterstutzt  hätte.  Um  das  Individuum  allein  scheint 
sie  sich  zu  drehen;  das  Individuum  allein  scheint  die  Welt 
zusammenzuhalten.  Das  Individuum  aber  hat  sein  unfehlliare> 
Lebensgesetz  in  Lust  und  Unlust  Und  eine  solche  Welt  in  den 
Klammern  des  Individuums  soll  die  sittliche  Welt  oder  m'enig>ten.^ 
das  Vorspiel  derselben  sein. 

Dabei    macht    es    sogar  wenig  Untenchie*!.  ob  die  Politik 
dynastisch    oder  national  geführt  winl    Ist  es  doch  auch  in  der 
nationalen    Politik    das   Individuum,   melche^   zum   Handlan:2er 
des  Dynasten  wird,  wenngleich  als  Missionar  der  nationalen  Id** 
Denn  wo  die  Nation  selbst  das  allerletzte  Ziel  der  Politik  blidrl, 
da  ändert  sich  nur    scheinbar  die    Devl^.    indem    Subjekt   ur, : 
Prädikat  sich  ändern:  das  Volk  sind  Wir.    Und  dievr  Wir  sr>;,-^:i 
freilich  alle  Ich  sein;  aber  wer  wird  so  buchstäblich  ein  pr>litiv:he^ 
Programm  verstehen  wollen.    So  bleibt  es  bi^  auf  Weiterem  Ur 
den    bevorzugten  Individuen,  von  denen  doch   einmal  d*-r  La  ^ 
der  Geschiebte  abhänge;  und  alle  Anderen  hal>en    sich  an  ---^ 
Glanz  des  Wortes  der  Nation  zu  sonnen. 


142  Die  Geschlechtsliebe  und  die  Kunst. 


Daher  bleiben  Lust  und  Unlust  als  die  unverfänglichen  Trieb- 
federn gelten;  denn  sie  treiben  das  Individuum,  und  in  ihm  die 
geschichtliche  Welt.  Oder  würde  etwa  das  politische  Individuum 
von  sittlichen,  von  allgemeinen  Ideen  massgebend  geleitet  und 
bestimmt?  Dann  wäre  es  ja  beinahe  um  seine  Genialität  ge- 
schehen; denn  die  sittlichen  Ideen  hat  es  ja  mehr  oder  weniger 
mit  der  Menge  und  mit  den  Stubengelehrten  gemein.  Nein,  es 
muss  ein  elementarer  Trieb  in  einem  politischen  Heros,  und 
wenn  er  selbst  zum  nationalen  geläutert  wird,  walten;  oder  viel- 
mehr drängen  und  hervorbrechen.  Wie  eine  Naturmacht,  wie 
die  Lava  aus  einem  Krater  meint  man  die  Ursprünglichkeit  einer 
politischen  Kraft  fassen  zu  müssen.  Als  solche  Urkraft  des  Indi- 
viduums gilt  das  Gefühl  von  Lust  und  Unlust.  Da  wir  nun 
aber  dieses  isolierte  Individuum  hier  widerlegen  und  ausschalten 
wollen,   so  müssen  wir  Lust  und  Unlust  als  Prinzip  bekämpfen. 

Indessen  überfallen  uns  schwere  Bedenken  bei  diesem  Be- 
ginnen. Erscheinen  Lust  und  Unlust  doch  als  der  unersetzliche 
Ausdruck  des  Lebens-  und  Kraftgcfühls  des  Menschen.  Wer  wird 
bei  Lust  nur  an  die  Wollust  denken.  Man  steht  doch  nicht  mehr 
im  Mittelalter,  dem  Concupiscentia  die  allgemeine  Sünde,  und 
somit  die  allgemeine  Spur  der  Menschlichkeit  bedeutete.  Es 
könnte  scheinen,  als  ob  nazarenischer  Asketik  das  Wort  geredet 
werden  sollte,  wenn  die  Lust  verdächtigt  wird.  Freilich  ist  die 
Lust  vorzugsweise  die  der  Geschlechtsliebe;  aber  was  gäbe  es 
Mächtigeres  und  Höheres?  Mann  und  Weib,  und  Weib  und 
Mann  reichen  an  die  Gottheit  an.  Wie  das  freilich  der  Genius 
meint,  wäre  es  nicht  nur  abgeschmackt,  sondern  sündhaft,  daran 
Anstoss  zu  nehmen.  Was  aber  die  falsche,  die  gleissende  Kunst 
und  die  darauf  gepfropfte  dreiste  Theorie  aus  dem  Gedanken  der 
Unschuld  zu  machen  wagt,  das  ist  ebensosehr  sittlich  wie 
aesthetisch  Verirrung  und  Verderbniss.  Also  der  Zusammenhang 
von  Lust  und  Wollust  bleibt  ein  Warnungszeichen,  auch  aus  dem 
Gesichtspunkte  der  menschlichen  Schöpferkraft  und  der  höchsten 
Lebensenergie. 

Ein  anderer  Einwand  hängt  mit  diesem  zusammen.  Es 
könnte  scheinen,  als  ob  auch  dem  aesthetischen  Gefühle  hier- 
mit die  Fehde  angesagt  würde.  Beruht  doch  alles  Gefühl  und 
alles  Schaffen  der  Kunst  auf  der  Liebe,  also  auf  der  Lust.    Als 


Die  Totalität  des  Lebensgefühls.  14^ 


die  Aesthetik  endlich  selbständig  wurde,  wurde  sie  es  unter  diesem 
Zeichen.  Und  auch  Kant  begründete  sie  unter  der  Fahne  dieses 
Seelenvermögens.  Indessen  gerade  dieser  Einwand  spricht  für 
unsere  These.  Kant  hätte  die  Aesthetik  nimmermehr  zu  einem 
dritten  Gliede  seines  Systems  gestalten  können,  wenn  er  nicht 
das  zweite  Glied  in  der  Ethik  befestigt  hätte.  Vielleicht  hatte 
Plato  diese  Besor^niss  vor  einer  selbständigen  Aesthetik  zurück- 
geschreckt: dass  man  die  Idee  des  Schönen  mit  der  Idee  des 
Guten  unaufhörlich  verwechseln  würde.  Eine  Idee  war  ihm 
auch  das  Schöne;  aber  Plotin  sollte  nicht  Recht  erlangen,  dass 
das  Schöne  zur  Gottheit  würde.  Die  Ethik  kann  ihre  Selb- 
ständigkeit nicht  durch  ein  Prinzip  gewinnen,  welches  sie  mit 
der  Aesthetik  zu  teilen  hätte. 

Und  wenn  es  den  Anschein  hat,  als  ob  in  der  Liebe  Ethik 
und  Aesthetik  schwesterlich  verbunden  wären,  so  muss  in  diesem 
Scheine  vielmehr  eine  tiefe  Warnung  erkannt  werden.  Das 
Dichterwort  vom  Hunger  und  der  Liebe  lässt  freilich  auch  die 
Liebe  an  diesem  Heiligenschein  teilnehmen;  aber  darum  bleibt 
sie  doch  dem  Hunger  beigesellt.  Es  ist  nicht  allein  die  Rücksicht 
auf  eine  selbständige  Ethik,  sondern  ebenso  diejenige  auf  eine 
selbständige  Aesthetik,  welche  die  Lust,  als  ein  Prinzip  der 
Ethik,  ausschliesst. 

Man  könnte  ein  Argument  für  Lust  und  Unlust  endlich 
aus  dem  Umstände  herleiten,  dass  sie  nicht  nur  universell  seien, 
nämlich  für  alle  Lebewesen  gelten;  sondern  dass  sie  auch  die 
Summe  und  Totalität  aller  Lebenstätigkeit  zum  unzweifel- 
haften Ausdruck  brächten.  Die  Universalität  kann  als  abgetan 
gelten;  ist  sie  doch  vielmehr  nur  auf  die  Individuen,  also  auf 
die  Mehrheit,  nicht  aber  etwa  auf  die  Allheit  derselben  be- 
zogen; denn  das  Letztere  wäre  die  Vorwegnahme  dessen,  was^ 
hier  das  Problem  bildet.  Aber  die  Totalität  könnte  noch  eine 
Schwierigkeit  bilden.  Es  könnte  scheinen,  als  ob  in  der  Tat  alle 
Lebensenergie  auf  Lust  und  Unlust,  als  auf  ihren  einfachsten 
Ausdruck,  zurückführbar  wäre,  so  dass  die  Summe  des  Lebens 
in  diesem  Lebensgefühle  enthalten  wäre.  Indessen  beruht 
auch  diese  Ansicht  auf  einem  Irrtum. 

Dieser  Irrtum  soll  uns  hier  nur  methodisch  beschäftigen. 
Angenommen  selbst,  dass  die  Totalität  der  Lebensenergie  in  Lust 


144  Unterschied  von  Lust  und  Affekt. 


und  Unlust  resultierte,  so  läge  darin  gerade  der  Nachteil  in  der 
Benutzung  dieses  Gefühls  für  den  Willen.  Denn  im  Willen, 
nämlich  im  reinen  Willen,  handelt  es  sich  nicht  schlechthin  um 
die  Totalität;  sondern  gerade  im  Gegenteil  um  die  Isolierung 
und  um  die  Möglichkeit  einer  neuen  Isolierung.  Das  ist 
eben  der  Unterschied  von  der  gewöhnlichen  psychologischen  Be- 
deutung des  Willens:  dass  der  letztere  als  eine  Totalkraft  gedacht 
wird,  aus  welcher,  wie  aus  einer  Quelle,  vielmehr  wie  aus  der  Seele, 
also  aus  dem  Wesen  die  Erscheinung  herv^ortrete.  Der  reine  Wille 
dagegen  soll  das  Prinzip  werden,  kraft  dessen  das  Einzelne 
bestimmbar  werden  könne;  nicht  in  Summa  schon  be- 
stimmt, etwa  aus  der  Gesinnung  und  dem  Charakter  vorher- 
bestimmt erscheinen  dürfe.  Um  Isolierung  handelt  es  sich  für 
die  Beurteilung,  weil  ebenso  auch  für  die  Aeusserung  des  Willens 
in  der  Tat. 

Darin  liegt  und  dahin  geht  nun  der  Unterschied 
zwischen  der  Lust  und  dem  Affekte,  zu  dem  wir  hier  die 
Tendenz  ausprägen.  Während  Lust  und  Unlust  bei  aller  ihrer 
Heftigkeit  doch  nicht  aus  dem  Schwanken  herauskommen, 
wurzelt  der  Affekt  in  Einseitigkeit,  und  daher  Lust  und  Unlust 
gegenüber  in  einer  Neutralität.  Dieser  bedarf  er  zu  der  eigenen, 
«inseitigen  Energie,  die  er  betätigt.  Und  auf  diese  einseitige 
Richtung  der  Tätigkeit  kommt  es  an;  ohne  sie  gäbe  es  keine 
Betätigung  des  reinen  Willens,  der  das  Urteil  in  Bausch  und 
Bogen  schlechterdings  abwehrt.  Wäre  daher  die  Summe  des 
Lebens  durch  Lust  und  Unlust  zu  ziehen,  so  dürfte  uns  diese 
Summe  hier  Nichts  angehen;  denn  hier  handelt  es  sich  lediglich 
um  eine  Summe,  welche  aus  den  einzelnen  Summanden  selbst 
hinterher,  nicht  aber  vorher,  gezogen  werden  soll.  Der  Affekt 
bezeichnet  diese  eigene,  isolierte  Regsamkeit,  diese  selbständige, 
in  jeder  einzelnen  Aeusserung  entspringende  Tätigkeitsweise. 
Deswegen  verträgt  sich  der  Affekt  nicht  mit  dem  Totalgefühl 
der  Lust  und  Unlust. 

Man  könnte  nun  aber  aus  dem  Mangel  an  Neutralität 
einen  Vorzug  machen.  Lust  und  Unlust  sind  Mischgefühle. 
Man  könnte  darin  ihre  moralische  Ehrenrettung  begründet 
finden.  Die  Unlust,  die  jeder  Lust  beigewürzt  ist,  benähme  der 
Lust   den  Stachel   des  Reizes;    wie    auch  andererseits  die  Unlust 


Der  Mischungscharakter  von  Lust  und  Unlust.  145 


durch  die  Beimischung  der  Lust  den  Schatten  der  Depression 
verliere.  Indessen  ist  dies  der  Gesichtspunkt,  aus  dem  der  He* 
donismus  in  die  Affektenlehre  der  Stoa  und  Spinozas  übergeht 
Und  dagegen  kommt  es  für  den  reinen  Willen  auf  den  Inhalt, 
auf  den  reinen  Inhalt  an.  Die  Mischgefühle  können  keinen  Inhalt 
bilden,  weil  sie  keinen  begrenzten,  keinen  isolierten  Inhalt  bilden 
können.  Bei  ihnen  könnte  bestenfalls  die  Mischung  selbst  nur  als 
Inhalt  gelten;  es  wäre  aber  fraglich,  ob  alsdann  nicht  nur  die 
Tätigkeit  der  Mischung,  die  der  Entmischung  entgegenstrebt,  und 
also  ein  periodischer  Process  allein  zum  Inhalt  würde. 

Hier  könnte  nun  die  Meinung  entstehen,  als  ob  dasselbe, 
was  wir  durch  den  Affekt  bestimmen  möchten,  gerade  durch 
den  Mischungscharakter  von  Lust  und  Unlust  nicht  minder,  oder 
vielleicht  noch  besser  bestimmbar  würde.  Denn  auch  der  Affekt 
besteht  in  einer  continuierlichen  Neuerzeugung  der  Tendenz; 
auch  er  vollzieht  sich  also  in  einem  Vorwärts  von  Tendenz  zu 
Tendenz,  von  Strebung  zu  Strebung.  Vielleicht  könnte  man 
meinen,  dass  Lust  und  Unlust  diesen  Wechsel  und  diese  Dauer 
im  Wechsel  am  besten  veranschaulichten.  Die  Mischung  da- 
gegen macht  den  Unterschied  deutlich  und  scharf  erkennbar. 

Der  Affekt  ist  rein,  und  er  führt  sich  von  Tendenz  zu  Ten- 
denz rein  durch;  für  ihn  kann  es  keine  Mischung  geben.  Die 
Fortführung  der  Tendenz  wird  ihm  zur  Aufgabe.  Die  Aufgabe 
ist  sein  reiner  Inhalt.  Die  Mischung  dagegen  könnte  nur  als 
Mischung  selbst  Aufgabe  werden.  Damit  aber  würde  der  Auf- 
gabe der  Wert  des  Inhaltes  entfallen.  Die  Mischung  ist  unbe- 
stimmt und  unbestimmbar.  Sie  selbst  und  sie  allein  ist  sich  der 
Inhalt  und  soll  sich  der  Inhalt  sein.  Ihre  Elemente  sollen  nicht 
selbständig  werden;  sondern  nur  in  der  Mischung,  also  nur  im 
Ausschluss  ihrer  Isoliertheit  zum  Inhalt  werden.  Wenn  anders 
daher  der  reine  Wille  im  reinen  Inhalte  seinen  Wert  hat,  und 
dieser  reine  Inhalt  durch  den  isolierten  Eigenwert  bedingt  ist, 
der  einem  jeden  Schritte  dieser  Strebung  zukommt,  so  muss  er 
freigehalten  werden  von  der  Mischung,  welche  in  Lust  und  Un- 
lust liegt  und  liegen  muss. 

Der  Gesichtspunkt  der  Mischung  führt  uns  hier  zu  der 
durchschlagenden  Consequenz,  dass  das  Gefühl  von  Lust  und 
Unlust   einen    Gegensatz,   wenn   nicht   gar    einen    W^iderspruch 

10 


146  Verhältniss  der  Ethik  zur  Psychologie. 

bildet  zu  dem  Inhalt,  als  dem  Inhalte  des  reinen  Willens.  Nun 
erhebt  sich  dagegen  aber  auch  wiederum  harte  Einsprache,  und 
zwar  von  zwei  Seiten  aus.  Einmal  heisst  es,  Lust  und  Unlust 
lasten  schwer  genug  auf  dem  Bewusstsein,  so  dass  man  ihnen  das 
Schwergewicht  des  Inhalts  nicht  wohl  bestreiten  kann.  Dieser 
Einwand  ist  für  uns  nicht  stichhaltig.  Für  den  Begriff  des 
Inhalts  ist  nicht  die  Schwere  der  Belastung  bestimmend,  sondern 
allein  die  Genauigkeit  der  Isolierung.  Desorientierender  könnte 
der  andere  Einwand  scheinen:  aller  Inhalt  des  Bewusstseins  sei 
ja  doch  mit  Lust  und  Unlust  behaftet,  mithin  gehören  diese 
schlechthin  zum  Inhalt,  zum  Inhalt  des  Bewusstseins  aller  Art, 
also  füglich  wohl  auch  zu  dem  des  Willens. 

Diesen  Einwand  müssen  wir  eingehender  erwägen,  obwohl 
der  Anschein  dabei  entsteht  und  bestärkt  wird,  als  ob  wir  uns 
in  das  Interessengebiet  der  Psychologie  hineinbegäben.  Wir 
wissen  schon,  dass  wir  der  Psychologie  nicht  Vorgriffen;  denn 
sie  hat  von  der  Ethik  zu  lernen,  was  der  reine  Wille  sei.  Aber 
sie  hat  diesen  reinen  Willen  mit  den  anderen  Arten  des  Be- 
wusstseins zu  vereinbaren,  um  in  dieser  Vereinbarung  die  Einheit 
des  Bewusstseins  zu  vollziehen.  Diese  Einheit  und  diese  Ver- 
einbarung ist  ihr  Problem;  und  in  der  Behandlung  dieses 
Problems  besteht  ihre  Selbständigkeit. 

Da  die  Psychologie  es  nun  aber  mit  dieser  Vereinbarung 
der  verschiedenen  Arten  des  Bewusstseins  zu  tun  hat,  so  kann 
freilich  der  Schein  entstehen,  als  ob  wir  hier  von  der  Psycho- 
logie entlehnten,  anstatt  ihr  vorzuarbeiten.  Indessen  haben  wir 
zu  bedenken,  dass  wir  hier  den  Willen  als  die  Art  des  sittlichen 
Bewusstseins  zu  bestimmen  haben.  Wenn  es  daher  ein  richtiger 
Satz  wäre,  den  der  obige  Einwand  ausspricht,  dass  aller  Inhalt 
des  Bewusstseins  mit  Lust  und  Unlust  behaftet  sei,  so  könnte  dies 
von  dem  Inhalt  des  Willens,  als  des  moralischen  Bewusstseins, 
nur  insofern  gelten,  als  die  Ethik  des  reinen  Willens  diesen 
Satz  bestätigt  und  festgestellt  haben  würde.  Nur  auf  Grund  der 
Ethik  also  kann  dieser  Satz  für  die  Psychologie  allgemeine 
Geltung  gewinnen.  So  widerlegt  sich  der  Einspruch  der  Ent- 
lehnung. 

Unter  solchem  Vorbehalte  dürfen  wir  nunmehr  unserer 
Psychologie  einen  Grundgedanken  vorwegnehmen,  der  durch  die 


Consequenzen  der  betonten  Empfindung.  147 

moderne  Psychologie  im  Einzelnen  bestätigt  wird;  der  übrigens 
auch  schon  in  derjenigen  höchst  beachtenswerten  Psychologie 
vorbereitet  wird,  mit  welcher  Kant  in  genauester  Fühlung  steht 
Wie  Tetens  Empfindung  und  Empfindniss  unterscheidet,  so 
unterscheidet  Kant  den  Inhalt  und  den  Ton  der  Empfindung. 
Und  so  hat  sich  in  der  neuern  Psychologie  der  Ausdruck  der 
betonten  Empfindung  eingebürgert.  Was  nun  aber  so  der  Em- 
pfindung recht  ist,  dass  muss  ebenso  der  Vorstellung,  dem 
Denken,  und  also  auch  dem  Willen  billig  sein.  Es  müssen 
somit  alle  Arten  des  Bewusstseins  als  betonte  zu  bestimmen  sein. 
Was  folgt  nun  aber  daraus  für  Lust  imd  Unlust  selbst,  wenn 
sie  als  Betonungen  in  allen  Inhalt  des  Bewusstseins  aller 
Art  einzugehen  und  überzugehen  haben? 

Es  kann  kein  Zweifel  darüber  obwalten,  dass  Lust  und  Un- 
lust demgemäss  zu  Annexen  für  den  Inhalt  des  Bewusstseins 
werden.  Der  Inhalt  ist  für  sich  zu  bestimmen,  wie  sehr  immer 
das  Gefühl  sich  in  ihn,  viel  mehr  an  ihn  und  über  ihn  ein- 
schleichen mag.  Es  bleibt  immer  ein  Suffix.  Wie  sehr  auch 
dieser  Anhang  an  Energie  und  Macht  sich  ausbreiten  und  sich 
unterscheiden  mag,  so  ist  diese  Art  von  Bestimmtheit  in  der  Er- 
griffenheit des  Bewusstseins  durchgängig  zu  unterscheiden  von 
derjenigen  Art  der  Bestimmtheit,  die  dem  Inhalt  eigen  ist.  Die 
Psychophysik  würde  einen  andern  Lauf  genommen  haben, 
wenn  sie  diese  beiden  Arten  von  Bestimmtheit  zu  genauer 
Unterscheidung  gebracht  hätte.  Jetzt  aber  brauchen  wir  nicht 
mehr  bei  dem  Unterschiede  zu  verweilen,  der  zwischen  dem 
Annex  und  dem  Inhalt  besteht.  Wir  können  jetzt  aus  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Reinheit  einen  neuen  Unterschied  an  der 
Gefühlsbetonung  feststellen,  der  diese  Methode  kennzeichnet. 

Der  Anhang  ist  immer  ein  Abschluss.  Die  Methode  der 
Reinheit  dagegen  fordert  nicht  nur  den  beständigen  Anfang, 
sondern  den  continuierlichen  Ursprung.  Der  Ursprung  mag  hier 
auf  sich  beruhen;  der  Gegensatz  zum  Anfang  allein  gibt  hier  schon 
den  Ausschlag.  Wenn  der  Wille  durch  das  Gefühl  von  Lust  imd 
Unlust  bestimmt  und  dirigiert  würde,  so  könnte  das  Gefühl  hier- 
bei nur  die  Rolle  der  Betonung  spielen.  Es  müsste  demgemäss 
den  Abschluss  bedeuten,  in  dem  der  Wille  ausklingt.  Der  be- 
tonte Wille  wäre  demnach  das  Ende  des  Willens.    Und  wenn 

10» 


14tt  Lust  und  Unlust  als  Urbewusstsetn« 


dieses  Ende  nicht  den  Garaus  bezeichnen  müssle;  wenn  es  selbst 
die  Bestimmung  enthalten  dürfte,  so  könnte  in  dieser  Bestimmung 
doch  nimmermehr  zugleich  die  Richtung  und  die  Motivierung 
erkennbar  werden.  Darauf  aber  kommt  es  für  den  reinen  Willen 
an^  dass  er  nicht  durch  einen  auswärtigen  Reiz  gestachelt  werde, 
und  wenn  dieser  selbst  den  Höhepunkt  dieser  Tätigkeit  bilden 
könnte. 

Es  zeigt  sich  hier  derselbe  Fehler,  aber  in  umgekehrter 
Richtung,  den  wir  in  Bezug  auf  die  Bewegungsempfindung  zu 
rügen  hatten.  Diese  gilt  gemeinhin,  wir  wir  gesehen  haben«  als 
die  Empfindung  von  der  abgelaufenen  Bewegung,  wobei  die  nach« 
zuahmende  Bewegung  nach  dem  durchgängigen  Fehler  des 
Sensualismus  als  selbstverständlich  miteingeschlossen  wird  Das 
BewegungHgefühl  dagegen,  wenn  das  Gefühl  von  Lust  und 
Unlust  in  dasselbe  praccisiert  wird,  soll  nicht  auf  die  Bewegung 
folgen,  sondern  ihr  voraufgehen.  So  müsste  man  unstreitig  die 
These  aufTassen,  wenn  man  Lust  und  Unlust  als  die  Quellen  der 
Begehrungen  und  Triebbewegungen  annimmt. 

Man  müsste  dann  aber  zwei  Arten  von  Gefühlen  an- 
nehmen:  dieeine,  welche  in  der  betonten  Empfindung  zum  AiuMlnick 
kommt;  die  andere,  welche  dem  gesamten  Willensgebiete  zu  Grunde 
gelegt  wird,  sodass  der  Wille  selbst  sekundär  wird  zu  dieser  seiner 
Ciefühlsgrundlage.  Das  wäre  also  die  weitere,  aber  unausweich* 
liehe  Consequenz  dieser  Ansicht  von  Lust  und  Unlust-  dass  sie 
die  Eigenart  des  Willens  aufhebt  Diese  Consequenz  ist 
keine  geringe  Stütze  für  die  Hy|MitheMs  des  reinen  Willens. 

Es  wird  nun  al>er  diese  Ansicht  durch  eine  allgemeine 
Theorie  iM^günMigt,  die  im  Altertum  wie  in  der  neueren  Zeit  in 
den  verschie<iensten  Wendungen  immer  wie<ier  auftritt.  Sie  be* 
ruht  auf  dem  (it*danken,  dass  das  (tefuhl  von  Lust  und  Unlust 
der  elementarste  und  der  fundamentalste  Ausdruck  d«*s  Bewusst* 
MMns  ülKTliaupt  sei.  Mu^i*n  die  andern  Arten  des  Bcwussl.M*tns 
immerhin  eine  jede  für  sich  selbständig  sein«  so  meint  man  dcK*h 
die  Urkruft  dt*s  Bewusstseins  in  Lust  und  Unlust  zu  ver- 
n(*hni(*n.  IVswrgon  S4*heint  es  unfruchtbare  S|H*kulation  zu  sein, 
einen  Willrn  an/unehmen,  der  nicht  durch  Lu.st  und  Unlust 
g(^|MMst  wird.  Wir  stehen  hier  vor  dem  grundlegenden  l^roblem 
der  ISychulome;   aber  dem^cniass   auch  an  ihrer  Grenzlinie  mit 


Die  „notwendigen  Vorbegriffe"  Jobannes  Mflllers.  149 


der  Logik.  Wir  haben  in  der  Logik  der  reinen  Erkenntniss  ge- 
gelernt, dass  Bewusstsein  und  Bewusstheit  streng  zu 
scheiden  sind.  Bewusstheit  bedeutet  das  unzulässige  Problem, 
begreifen  zu  wollen,  wie  es  zugeht,  dass  man  Bewusstsein  hat 
Bewusstsein  dagegen  ist  eine  Kategorie,  welche  von  dem  Urteil 
der  Möglichkeit  erzeugt,  und  somit  der  Psychologie  für  ihr 
Problem  der  Einheit  des  Bewusstseins  überliefert  wird.  Die 
Frage  ist  nun,  ob  jene  Ansicht  von  Lust  und  Unlust,  als  dem 
Urbewusstsein,  das  Bewusstsein,  oder  aber  die  Bewusstheit  meint 
Diese  Frage  wird  aber  nicht  nur  einmal  zu  stellen  sein. 

Es  könnte  nämlich  scheinen,  als  ob  wir  selbst  in  diesen 
Fehler  verfielen,  insofern  wir  hier  von  unserer  Psychologie  den 
Grundgedanken  vorwegnehmen:  dass  eine  erste  Stufe  des  Be- 
wusstseins ohne  diejenige  Bestimmtheit  des  Inhalts  angesetzt 
werden  müsse,  welche  in  der  Empfindung  entsteht.  Es  scheint 
eine  Paradoxie  zu  sein:  ein  Inhalt,  der  noch  kein  Inhalt  ist. 
Indessen  ist  dies  ja  die  allgemeine  Losung  unserer  Logik,  überall 
das  erste  Etwas  aus  seinem  Ursprung  herzuleiten.  Die  Psycho- 
logie fügt  sich  so  nur  der  fundamentalen  Methode  der  Logik. 
Uebrigcns  ist  bereits  Johannes  Müller  mit  der  ihm  eigenen 
Tiefe  diesen  Weg  gegangen,  indem  er  „Notwendige  Vor- 
begriffe" seiner  Lehre  von  den  Empfindungen  zu  Grunde  gelegt 
hat.  Das  ist  der  Weg  des  echten,  des  wissenschaftlichen  Idealismus. 
Nichts  durch  den  Reiz  im  Bewusstsein  entstehen  zu  lassen; 
sondern  die  Anlage  zur  Empfindung  im  Bewusstsein  selbst  aus- 
zuzeichnen, bevor  sie  durch  die  Aufnahme  des  Reizes  ausgeführt 
und  ausgestaltet  wird.  War'  nicht  das  Auge  sonnenhaft,  die 
Sonne  könnt'  es  nie  erblicken.  Goethe  hat  Empedokles, 
der  zuerst  diesen  Satz  ausgesprochen  hat,  vielleicht  deswegen 
gerade  so  hochgestellt. 

Diese  erste  Anlage  zum  Bewusstsein  wird  die 
Grundlage  unserer  Psychologie  bilden.  Die  Empfindung 
wird  an  die  zweite  Stelle  treten,  erst  die  zweite  Stufe  bilden 
müssen.  Sie  hat  zur  Voraussetzung  jene  erste  Stufe  der  all- 
gemeinen Anlage,  des  notwendigen  VorbegrifTs,  des  Ursprungs. 
Und  nicht  nur  die  Empfindung  ihrem  Begriffe  nach  ist  auf 
diesen  Ursprung  zurückzuverweisen,  sondern  jede  einzelne 
Elmpfindung    muss   aus   ihm   hervorgehen.    Und  nicht  nur  jede 


148  Lust  und  Unlust  als  Urbewusstsein. 

dieses  Ende  nicht  den  Garaus  bezeichnen  müsste;  wenn  es  selbst 
die  Bestimmung  enthalten  dürfte,  so  könnte  in  dieser  Bestimmung 
doch  nimmermehr  zugleich  die  Ricbtuhg  und  die  Motivierung 
erkennbar  werden.  Darauf  aber  kommt  es  für  den  reinen  Willen 
an,  dass  er  nicht  durch  einen  auswärtigen  Reiz  gestachelt  werde, 
und  wenn  dieser  selbst  den  Höhepunkt  dieser  Tätigkeit  bilden 
könnte. 

Es  zeigt  sich  hier  derselbe  Fehler,  aber  in  umgekehrter 
Richtung,  den  wir  in  Bezug  auf  die  Bewegungsempfindung  zu 
rügen  hatten.  Diese  gilt  gemeinhin,  wir  wir  gesehen  haben,  als 
die  Empfindung  von  der  abgelaufenen  Bewegung,  wobei  die  nach- 
zuahmende Bewegung  nach  dem  durchgängigen  Fehler  des 
Sensualismus  als  selbstverständlich  miteingeschlossen  wird.  Das 
Bewegungsgefühl  dagegen,  wenn  das  Gefühl  von  Lust  und 
Unlust  in  dasselbe  praecisiert  wird,  soll  nicht  auf  die  Bewegung 
folgen,  sondern  ihr  voraufgehen.  So  müsste  man  unstreitig  die 
These  auffassen,  wenn  man  Lust  und  Unlust  als  die  Quellen  der 
Begebruugen  und  Triebbewegungen  annimmt. 

Man  müsste  dann  aber  zwei  Arten  von  Gefühlen  an-' 
nehmen:  dieeine,  welche  in  der  betontenEmpfindung  zum  Ausdruck 
kommt;  die  andere,  welche  dem  gesamten  Willensgebiete  zu  Gnmde 
gelegt  wird,  sodass  der  Wille  selbst  sekundär  wird  zu  dieser  seiner 
Gefühlsgrundlage.  Das  wäre  also  die  weitere,  aber  unausweich- 
liche Consequenz  dieser  Ansicht  von  Lust  und  Unlust:  dass  sie 
die  Eigenart  des  Willens  aufhebt  Diese  Consequ^iz 
keine  geringe  Stütze  für  die  Hypotbesis  des  reinen  Willen- 

Es  wird  nun  aber  diese  Ansicht  durch  eine  nl' 
The. 
den 
ruht 
der 
sein 
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die 
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eine 
gesp 
der 


Die  „notwendigen  Vorbegriffe"  Johma  Ütlun. 


der  Logik.  Wir  haben  in  der  Logik  der  reia-t  L-i.'sr 
gelernt,  dass  Bewusstsein  und  BevD«.f:i  t  -  -:■ 
sciieiden  sind.  Bewusstheit  bedeulH  d»  =E=m;»>^- 
begreifen  zu  -wollen,  wie  es  zugeht  dm  msa.  Jf^z.-- 
Bewusstsein  dagegen  ist  eine  Kalegmie.  wtjar  -r-r  ^^ 
der  Möglichkeit  erzeugt,  und  somit  äe-?^--,-_- 
Problem  der  Einheit  des  Bewussbrii»  ü»?r„-3r-  -r- 
Frage  ist  nun,  ob  jene  Ansicht  tob  Las  sk  "  zjt 
Urbewusstsein,  das  Bewusstsein,  oder  aba  qk  1-»t*«:l- 

Diese  Frage  wird  aber  nicht  nur  ämm^  a.  «t-_-t  -i 
Es    könnte   nämlich   scheineo.  »i*   tu  »^  — 

Fehler  verfielen,   insofern  wir  hier  tob  j^^tt-  —■  ra^t^ 

Grundgedanken  vorwegnehmen:  dx»  cm-  — - 

wusstseins   ohne   diejenige  '. 


^ohcD 


nglicben 
■rl  werden, 

hält  man 
wusstselns 

während 
eitung  des 
Spiegelung 
'  jenes  an- 
t,  und  gar 

jg  des  Be- 
lonismus 
es  Willens 
deutungen 
ischen  mit 
lekulativer 
Menschen 
inen.  Lust 
eit  gelten; 
ade  nichts 
fetaphysik 
lahingegen 


160  Die  doppelte  Qualität  des  GefOhls  und  die  Bewusstheit. 

Empfindung,  sondern  so  auch  jede  Art  der  Vorstellung  und 
jede  einzelne  Vorstellung.  Und  ebenso  daher  auch  jede 
Regung  und  Entfaltung  des  Willens.  Immer  muss  für  jede 
Neubildung  des  Bewusstseins  und  seiner  Inhalte  jener 
Urquell  als  die  eigene  und  unmittelbare  Voraussetzung 
festgehalten  werden.  Wie  soll  man  diese  Urquelle  nun 
aber  benennen? 

Es  könnte  scheinen,  als  ob  es  keinen  passendem  Namen 
für  sie  gäbe  als  den  von  Lust  und  Unlust.  Denn  sie  bilden  ja 
den  Inhalt,  der  eigentlich  nicht  Inhalt  ist  So  weit  könnte  diese 
Benennung  unbedenklich  scheinen.  Aber  warum  steift  man  sich 
dennoch  auf  die  Bezeichnimg  der  doppeltenQualität?  Zeigt  sich 
nicht  darin  die  Gefahr,  diesen  Inhalt  dennoch  vielmehr  als  quali- 
flcierten  Inhalt  anzunehmen  und  zu  Grunde  zu  legen?  Würde 
man  nur  die  allgemeine  Grundlage  des  Bewusstseins  hiermit 
legen  wollen,  so  würde  man  doch  darauf  ausgehen  müssen,  von 
der  specifischen  gedoppelten  Qualität  Abstand  zu  nehmen,  um 
nur  für  die  betonte  Empfindung  Vorsorge  zu  treffen.  Indem  man 
dahingegen  die  doppelte  Qualität  selbst  als  die  erste  und  uner- 
setzliche Offenbarung  des  Bewusstseins  ausgibt,  so  zeigt  man,  so 
verrät  man  dadurch,  dass  man  in  dem  angeblichen  Problem 
der  Bewusstheit  befangen  ist. 

Deshalb  hält  man  den  Kreuzweg  von  Lust  und  Unlust  für 
das  eigentliche  Fragezeichen.  Wie  es  zugeht,  dass  positiv  und 
negativ  unsere  Eingeweide  gedreht  werden,  das  macht  man  zum 
hauptsächlichen  Interesse;  während  wir  erkennen,  dass  uns  diese 
mythologische  Frage  gar  nicht  mehr  berührt.  Das  wissenschaft- 
liche Interesse  ist  eingeschränkt  auf  wissenschaftliche  Inhalte. 
Wenn  die  Physiologie  den  Schmerz  erklären  kann,  so  wird  im 
Schmerze  die  Unlust  ein  zulässiges  Problem.  Ebenso  wäre  dies 
bei  der  Lust  der  Fall,  wenn  sie  nicht  nur  für  die  Pathologie, 
sondern  auch  für  die  Physiologie  ein  Problem  würde.  Glück- 
licherweise aber  ist  die  Lust  darauf  nicht  angewiesen;  sondern 
es  gibt  eine  Aesthetik,  welche  Lust  und  Unlust  in  dem  aesthe- 
tischen  Bewusstsein  praecisiert  und  objektiviert.  So  wird  in 
eminenter  Weise  in  einer  Art  und  Richtung  des  Bewusstseins 
der  Kultur  der  Lust  und  Unlust  ein  Inhalt,  und  somit  der  Charakter 
des  Bewusstseins  zuerteilt.    Das  ist  Bewusstsein,  nicht  Bewusstheit 


Zusammenhang  dieser  Frage  mit  dem  Hedonismus.  151 

Wenn  jedoch  das  Gefühl  von  Lust  und  Unlust  als  die  all- 
gemeine Grundlage  des  Bewusstseins  angesehen  wird,  vorbehalt- 
lich der  besondem  doppelten  Qualität,  so  muss  von  der  be- 
sondem  Richtung  des  aesthetischen  Bewusstseins  abgesehen 
werden;  denn  es  soll  ja  die  Entstehung  der  Empfindung  damit 
erklärt  werden.  Der  Uebergang  von  Lust  und  Unlust  in  den 
speciiischen  Inhalt  einer  Empfindung  wäre  doch  sicherlich  der 
monströseste  Sprung  in  eine  andere  Gattung.  Von  diesem 
distinkten  Inhalt  soll  ja  eben  der  Ton  der  Empfindung  unter- 
schieden werden.  Und  dieser  Ton  selbst,  also  auch  die  betonte 
Empfindung  kann  nicht  das  Specifische  der  doppelten  Qualität 
zum  ungehemmten  Ausdruck  bringen;  sonst  wäre  es  um  den 
Inhalt  der  Empfindung,  und  somit  um  die  Empfindung  geschehen. 
Also  zur  betonten  Empfindung  selbst  bedarf  man  keineswegs 
der  Grundlage  von  Lust  und  Unlust  nach  dieser  ihrer  specifischen 
Qualität 

Wie  in  der  Empfindung,  so  muss  auch  in  jener  ursprünglichen 
Anlage  diese  doppelte  Qualität  abgedämpft  und  nivelliert  werden, 
wenn  die  erste  Empfindung  eintreten  soll.  Warum  hält  man 
aber  dennoch  Lust  und  Unlust  als  die  Grundart  des  Bewusstseins 
fest,  und  glaubt  sich  an  sie  anklammern  zu  müssen,  während 
man  doch  einsehen  muss,  dass  alle  Erklärung  und  Ableitung  des 
inhaltigen  Bewusstseins  von  dieser  Wüste  und  ihrer  Vorspiegelung 
sich  fernhalten  muss?  Man  sieht,  es  handelt  sich  für  jenes  an- 
gebliche Problem  schlechterdings  nur  um  Bewusstheit,  und  gar 
nicht  um  Bewusstsein. 

Und  darin  besteht  die  grundsätzliche  Verfälschung  des  Be- 
w^usstseins  und  seiner  Probleme,  welche  der  Hedonismus 
verübt,  dass  alle  specifischen  Inhalte  der  Erkenntniss,  des  Willens 
und  des  aesthetischen  Bewusstseins  zu  blossen  Umdeutungen 
jenes  Urgefühls  gestempelt  werden,  welches  den  Menschen  mit 
den  Tieren  gemein  ist.  Dass  wir  nur  ja  nicht  in  spekulativer 
Vornehmtuerei  darauf  ausgehen,  zu  erkennen,  was  den  Menschen 
zu  unterscheiden  vermag  von  allen  Wesen,  die  wir  kennen.  Lust 
und  Unlust  sollen  als  die  Blutzeugen  der  Bewusstheit  gelten; 
und  alles  Bewusstsein  könne  ja  doch  im  letzten  Grunde  nichts 
Anderes  sein  als  Bewusstheit.  So  vermeint  überall  die  Metaphysik 
die  Logik  des  Ursprungs  aus  dem  Felde  zu  schlagen.   Dahingegen 


152  Lust  und  Unlust  als  Wächter. 

sagen  wir,  dass  es  uns  Nichts  angeht,  zu  begreifen,  wie  Lust 
und  Unlust  in  unseren  Nerven  erzittern.  Verstanden  wir  es 
selbst,  so  würden  wir  darum  nicht  besser  verstehen,  wie  es 
möglich  wird,  dass  eine  distinkte  Empfindung  in  uns  entsteht; 
geschweige  eine  Vorstellung;  geschweige  eine  Willenstat.  Und 
auf  diese  Inhalte  des  Bewusstseins  vorzüglich  muss  es  doch  an* 
kommen.  Wenn  wir  daher  für  den  Begriff  des  reinen  Willens 
das  Motiv  von  Lust  und  Unlust  ablehnen,  so  befreien  wir  uns 
von  dem  mythologischen  Bann  eines  unzulässigen  Problems, 
welches  die  Inhalte  des  Bewusstseins  zurückschiebt,  und  daher 
das  Problem  des  Bewusstseins  verfälscht. 

Die  bisherige  Folge  der  Erwägungen  dürfte  die  naive  Ansicht 
erschüttert  haben,  dass  Lust  und  Unlust  einen  unverfänglichen 
Anfang  und  Ausgang  bilden.  Wir  dürfen  jedoch  nicht  annehmen, 
damit  die  Ansicht  selbst  entwurzelt  zu  haben.  Dazu  ist  sie  zu 
vielseitig  mit  den  Interessen  der  Metaphysik  verwachsen.  Der 
Grundbegriff  der  Metaphysik  ist,  wie  wir  es  schon  mehrfach  ge- 
sehen haben,  der  Begriff  des  Zwecks.  Lust  und  Unlust  wären  nicht 
Säulen  und  Pfeiler  der  Metaphysik,  wenn  sie  nicht  mit  dem  Zwecke 
kompliciert  wären.  Diese  Bedeutung  hat  bereits  Empedokles 
für  Lust  und  Unlust  eingesetzt.  Er  hat  sie  daher  als  Wächter 
bezeichnet  für  das  Zuträgliche  und  das  Schädliche.  Damit  ist 
ein  neuer  Inhalt  diesem  Grundgefühle  zugesichert.  Möchten  sie 
sonst  desjenigen  Inhalts  ermangeln,  wie  ein  solcher  der  Empfindung 
und  der  Vorstellung  zusteht,  so  gewinnen  sie  dafür  eine  höhere 
Art  von  Inhalt,  eine  methodische.  Sie  werden  zu  Wegweisem, 
deren  der  andere  Inhalt  sich  nicht  entschlagen  darf.  Man  kann 
also  auf  die  specifische  doppelte  Qualität,  als  solche,  Verzicht 
leisten,  und  nur  umsomehr  die  methodische  Bedeutung  von  Lust 
und  Unlust  anzuerkennen  haben. 

Das  ist  eine  gefährliche  Verstärkung  für  die  Position. 
Wenn  nur  nicht  das  Problem  des  Zweckes  selbst  das  intrikateste 
der  gesamten  Metaphysik  und  nicht  zum  mindesten  auch  der 
Logik  der  reinen  Erkenntniss  wäre.  Wir  können  für  unsere 
Frage  die  Diskussion  einschränken.  Dass  Lust  und  Unlust  mit 
allen  Fehlerquellen  der  Empfindung  behaftet  sind,  dass  sie  also 
keine  objektiven  Wegweiser  für  das  Gesamtwohl  des  Organismus 
sind,    darüber   besteht   kein    Zweifel.     Gift   kann  süss,   und  die 


Verbindung  mit  Zweck  und  Wert.  163 


Arznei  bitter  schmecken.  Dennoch  will  man  sie  als  Massstäbe  für 
das  Wohl  und  Wehe  des  Organismus  nicht  fallen  lassen;  welchen 
Sinn  hätte  sonst  dieses  Zeugniss  des  Bewusstseins;  oder  sollte  es  etwa 
nicht  ein  Zeugniss  desselben  sein?  Das  ist  und  bleibt  immer 
der  grundsätzliche  Anstoss,  den  man  nimmt  und  den  man  sich  gibt. 

So  kommt  man  zu  einer  sonderbaren  Umkehrung.  Da  nun 
einmal  unleugbar  Lust  und  Unlust  sich  subjektiv  erweisen» 
nämlich  als  unzuverlässig  und  trüglich,  so  sollen  sie  dennoch 
in  dieser  ihrer  Subjektivität  einer  objektiven  Sachlage  ent- 
sprechen. Die  Arznei  schmeckt  wirklich  bitter;  das  Gefühl 
braucht  nicht  vorher  anzuzeigen,  dass  später  daraus  eine  An- 
nehmlichkeit für  den  Organismus  entsteht.  Danach  hätte 
Aristipp  Recht  gehabt,  wenn  er  nur  die  gegenwärtige  Lust' 
nicht  die  zukünftige  als  Lust  anerkennen  wollte.  Mithin  hätte  sich 
trotzdem  der  teleologische  Charakter  für  Lust  und  Unlust  erhalten, 
den  man  für  den  gegenwärtigen  Zustand  nicht  verachten  dürfe. 

Man  wird  nun  aber  fragen,  was  denn  im  letzten  Grunde 
mit  dieser  Art  von  teleologischer  Bewährung  dieses  Grundgefühls 
gewonnen  und  beabsichtigt  sei.  Auf  diesen  Gradmesser,  von 
dem  man  den  jeweiligen  Stand  des  Zusammenhangs  eines  In- 
halts mit  dem  Gesamtbewusstsein  ablesen  könne,  kann  es  doch 
nicht  abgesehen  sein.  Dass  dies  nicht  der  Fall  ist,  ersieht  man 
aus  der  Verbindung,  in  welche  der  Begriff  des  Zwecks  mit 
einem  andern  Begriffe  versetzt  wird,  nämlich  mit  dem  des 
Wertes.  Lust  und  Unlust  sollen  nicht  sowohl  Gradmesser,  als 
vielmehr  Wertmesser  sein.  Der  Wert  des  Lebens,  der  Wert 
des  Daseins  soll  sich  in  ihnen  ausdrücken,  in  ihnen  abspiegeln. 
Nicht  nur  der  Gesamtwert  des  Lebens,  sondern  auf  jeder  Lebens- 
stufe, auf  jeder  Stufe  des  Bewusstseins  soll  durch  sie  ein  be- 
sonderer Wert  ausgeprägt  werden.  Indessen  hängt  der  Einzel- 
wert von  der  allgemeinen  Wertquelle  ab.  Der  Grundgedanke 
bleibt  daher  immer:  welchen  Wert  hätte  das  Leben,  wenn  es 
nicht  auf  Lust  und  Unlust  reagierte.  Wir  wüssten  Nichts  von 
uns  selbst;  wir  hätten  kein  Bewusstsein  von  unserem  Dasein;  wir 
hätten  somit  kein  Selbstbewusstsein,  wenn  es  uns  nicht  in 
Lust  und  Unlust  aufginge,  aufleuchtete.  Das  bleibt  immer  der 
treibende  Gedanke:  es  gibt  nichts  Mächtigeres,  nichts  Evidenteres 
für  Leben  und   Bewusstsein   als  Hoia,   mir   ist   wohl;   und   sein 


Aristophanes. 


Gegenteil.    Daher  müssen  Lust  und  Unlust  die  Wertzeichen  und 
Werlzeugen  des  Lebens  sein. 

In  eine  seltsame  Verkettung  von  Problemen  ist  man  ge- 
raten, indem  man  den  Zweck  mit  dem  Werte  für  die  Legitimierung 
der  Lust  verbunden  hat  Man  könnte  versucht  werden,  diese 
Verquickung  naiv  zu  nennen,  wenn  sie  nicht  gar  zu  handgreiflich 
alle  Probleme  auf  den  Kopf  stellte,  die  heutzutage  dem  Zeitungs- 
leser praesentiert  werden.  Der  Wert  einer  Sache,  das  ist  doch 
für  jeden  modernen  Menschen  der  Wert  der  Arbeit,  welche 
die  Sache  hervorbringen  musste.  Am  Werte  klebt  also  der 
Schweiss  des  Arbeiters,  der  das  flammende  Schwert  kittet,  das 
die  Kultur  von  dem  Paradiese  trennt.  Es  ist  gefährlich,  Lust 
und  Unlust  mit  dem  Werte  zusammenzudenken:  denn  es  ent- 
steht dabei  die  Frage,  ob  Diejenigen  mehr  Lust  oder  mehr  Un- 
lust haben,  welche  die  Werte  producieren.  Und  man  könnte 
auf  den  Gedanken  verfallen,  dass  der  Wert  im  umgekehrten  Ver- 
hältnisse zur  Lust  stehen  möchte. 

Nichts   ist  abgeschmackter  und  widerwärtiger  als  die  Ver- 
bindung von  Lust  und  Unlust  mit  diesem  Grundbegriffe  der  poli- 
tischen Oekonomie.     Die  Psychologie  wird  abgeschmackt,  die 
Moral  widerwärtig  bei  dieser  Verbindung.    Und  die  ökonomische 
Untersuchung  wird  abschüssig,  wenn  sie   sich  von  einer  soge- 
nannten Philosophie  auf  dieses  Glatteis  locken  lässt.    Man  könnte 
wahrlich  hierdurch  nachträglich  den  Aristophanes    gerecht- 
fertigt finden,  der  unter  dem   Namen    des  Sokrates  die  falsche 
Philosophie  brandmarken  wollte.      Das   ist   der  gewaltige   Spass, 
den  sich  der  wahrhafte  Komödiendichter  verstattet,  dass  er  an 
den  schlechten  Früchten  die  menschlichen  Mängel  aller  mensch- 
lichen   Pflanzung   blossstellt.     Dieser   Spott   der  höchsten  Kunst 
ist  das  wahre  Lobgedicht  des  menschlichen  Geistes.  Denn  es  warnt 
vor  den  Philistern,  die  Unkraut  in  dem  Acker  des  Geistes  säen. 
Es  gibt  kein  gefährlicheres  Unkraut  als  diese  Verkleidung 
schwierigsten   Probleme    in   scheinbar   harmlosen  Worten, 
scheint  indifferenter  als  der  Wert?    Es  gibt  gute  Werte 
schlechte  Werte.     Warum   sollte   man  nicht  Lust  und  Un- 
als   Zeichen    dieser   indifferenten    Begriffe    setzen    dürfen? 
um     nicht?      Weil     diese     Begriffe     nichts    weniger     als 
ferente  Begrifl'e   sind;  weil  sie  vielmehr  die  ganze  Differenz 


Wertmesser  und  Würdemesser.  165 

der  sittlichen  Weltanschauung,  die  ganze  Differenz  der  modernen 
Politik  bezeichnen.  Der  Wert  kann  nicht  lediglich  als  Geldwert 
gedacht  werden,  wenn  nicht  zugleich  das  ganze  Wertproblem, 
in  dem  der  moderne  Sozialismus  seine  wissenschaftliche  Grund- 
lage hat,  mitgedacht  würde.  Das  muss  von  jedem  gebildeten, 
geschweige  von  dem  philosophierenden  Menschen  vorausgesetzt 
werden.    Der  Wert  hängt  mit  der  Würde  zusammen. 

Wenn  Kant  die  Würde  vom  Werte  unterschied,  so  wollte 
er  damit  den  Zusammenhang  um  so  dringlicher  darlegen.  Wie 
können  nun  aber  Lust  und  Unlust  Wertmesser  sein,  wenn  sie 
nicht  zugleich  Würdemesser  sind?  Man  müsste  also  die  dreiste 
Consequenz  ziehen,  dass  sie  das  wären.  In  der  Tat  bildet  dieser 
Gedanke  den  Ausgang;  aber  eben  nicht  die  Consequenz,  die  man 
sich  wohl  hütet  auszuführen.  Denn  damit  wäre  es  ausgesprochen, 
dass  es  keine  andere  Grundlage  für  die  Ethik  gebe  und  geben 
dürfe  als  Lust  und  Unlust,  welche  sonach  die  Grundlagen  und 
die  Massstäbe  der  Würde,  als  der  sittlichen  Werte,  bilden.  Oder 
sollte  es  etwa  Werte  im  Sinne  der  Kultur  geben,  welche  nichtsdesto- 
weniger nicht  sittliche  Werte  wären?  Dann  gebe  es  eine  Kultur, 
welche  nicht  eine  sittliche,  welche  vielleicht  eine  unsittliche  wäre. 
So  rollt  sich  das  ganze  Rousseau-Problem  an  diesem  Faden  auf. 

Und  so  müssen  wir  jedem  Ansätze  Widerstand  leisten,  der 
Lust  und  Unlust  mit  dem  methodischen  Grundbegriffe  des  Wertes 
in  die  entfernteste  Verbindung  bringt.  Nicht  Lust  und  Unlust 
sind  Zeichen,  geschweige  Bürgen  des  Wertes;  sondern  der  reine 
Wille  allein  hat  die  Werte  zu  erzeugen,  die  mit  der  Würde  be- 
stehen können;  und  die  in  diesem  Bestände  allein  auch  als 
Werte  sich  behaupten  dürfen.  Und  wenn  wir  fragen,  mit 
welchem  Anteil  des  Blutes  wir  ohne  des  Gedankens  Blässe  diese 
Werte  zu  erzeugen  vermögen,  so  werden  wir  auf  den  Affekt 
zurückblicken,  der  das  zu  leisten  vermag,  was  man  allein  der 
Lust  und  Unlust  zumuten  zu  können  meint.  Die  Bewegung,  die 
in  der  Tendenz  entspringt,  und  die  sich  in  dem  Fortschritte  von 
Tendenz  zu  Tendenz  zur  Aufgabe  aufbäumt,  sie  verfügt  über  alle  die 
Innervation,  die  man  allein  aus  Lust  und  Unlust  herleiten  möchte. 


Drittes  Kapitel. 

Der  reine  Wille  in  der  Handlung:. 


In  der  Constituierung  des  reinen  Willens  haben  wir  bis 
jetzt  vornehmlich  für  das  Vehikel  Sorge  getragen,  mittelst  dessen 
der  Wille  sich  ins  Werk  setzt;  wir  haben  jedoch  noch  nicht 
deutlichere  Rücksicht  genommen  weder  auf  den  Träger  und 
Urheber  dieses  Willens,  noch  auf  den  Inhalt  und  Gegenstand, 
auf  den  dieser  Wille  sich  richtet.  Nur  die  Beförderungsart  ist 
in  Betracht  gezogen,  dass  sie  in  ungehemmtem  Laufe  sich  voll- 
ziehen kann;  und  dass  sie  auf  ihrem  Wege  Nichts  von  ihrer 
Ursprünglichkeit  und  frischen  Unmittelbarkeit  einzubüssen 
braucht.  Indessen  ist  mit  all  dem  doch  nur  für  den  Anfang 
gesorgt,  den  der  Impuls  bezeichnet.  Mit  diesem  Anfang  bahnt 
sich  aber  die  Reinheit  nur  erst  an.  Auch  der  psychologische 
Wille,  wie  er  ohne  Bedingtheit  durch  die  Ethik  genommen  wird, 
ist  damit  keineswegs  beschrieben.  Das  Begehren  kann  an  und 
für  sich  noch  keinen  Inhalt  schaffen;  wie  sehr  es  scheinen  mag, 
dass  es  auf  einen  solchen  sich  fixiert. 

Dieser  scheinbare  Gegenstand  entspricht  nicht  dem  Begriffe 
des  Gegenstands,  wie  die  Speise  eine  solche  ist,  die  die  normale 
Kost  sein  kann,  oder  in  abnormen  Zuständen  die  des  Raubtiers. 
Für  den  Hunger  bleibt  der  Gegenstand  derselbe;  für  den  Willen 
aber  bildet  die  Pflanzenkost  und  das  Fleisch  des  getöteten  Tieres 
eine  andere  Art  von  Gegenstand  als  das  Menschenfleisch  des 
Kannibalen.  Oder  wäre  es  etwa  nicht  so;  wäre  es  gekünstelt  und 
überflüssig,  oder  gar  unberechtigt,  einen  solchen  Unterschied  im 
Begriff'e   des  Gegenstandes   für   den  Willen  von  dem  für  die  Be-: 


Der  Inhalt  des  Affekts  und  der  Gegenstand  des  Willens.  157 

gierde  zu  fordern?  Sollte  man  genötigt  sein,  auf  die  Unter- 
scheidung im  Begriffe  des  Gegenstands,  als  eines  Gegenstands  des 
Willens,  zu  verzichten,  oder  diese  Unterscheidung,  soweit  sie  an- 
gängig ist,  auf  die  ethische  Beurteilung  hinauszuschieben,  und 
auf  sie  sich  zu  beschränken?  Woher  käme  dann  aber  diese 
ethische  Beurteilung?  Sollte  sie  lediglich  der  ethischen  Theorie 
angehören,  lediglich  also  Erkenntniss  sein,  und  nicht  zugleich 
auch  WiUe? 

Stände  es  so,  so  käme  es  wieder  darauf  hinaus,  dass  der 
Mensch  schlechterdings  doch  nur  ein  Tier  ist,  ein  Raubtier  der 
Selbstsucht  und  der  Habsucht,  das  höchstens  sich  selbst  zähmen, 
vornehmlich  aber  durch  Andere  gebändigt  werden  muss.  Und 
in  dieser  Zähmung  und  Bändigung  bekunde  und  betätige  sich 
nicht  sowohl  ein  Wille,  als  vielmehr  der  allgemeine  Verstand. 
Der  Unterschied  zwischen  Willen  und  Begierde  wäre  alsdann 
Einbildung.  Das  Recht  der  Unterscheidung  zwischen  der  Speise  und 
dem  Frass  läge  lediglich  im  Denken;  welches  andererseits  be- 
kanntlich uns  ebenso  zu  Memmen  macht,  wie  der  Trieb  zu 
Schurken.  Stände  es  so,  dann  hätten  alle  jene  Richtungen  der 
Metaphysik  Recht,  welche  den  Unterschied  zwischen  Intellekt  und 
Willen  verneinen. 

Das  ist  der  aggressive  Sinn,  den  der  Begriff  des  reinen 
Willens  gegen  alle  unberechenbaren  Unklarheiten  der  Meta- 
physik bedeutet:  dass  der  Wille  selbst  in  allem  seinem  Drang 
und  Sturm  rein  und,  um  das  Wort  einmal  vorweg  zu  nehmen, 
gut  werden  kann;  dass  es  nicht  des  Gedankens  Blässe  ist,  die  ihn 
mit  jenem  Schein  der  Güte  ankränkelt,  während,  bei  Lichte  be- 
sehen, es  doch  Alles  nur  die  Selbstsucht  ist,  welche  in  ihren 
beiden  Hauptrichtungen,  als  Expansion  unü  als  Depression,  den 
Kommunismus  und  den  Individualismus  ausführt.  Wenn  es  nun 
aber  wirklich  der  reine  Wille  selbst  vollbringen  können  soll, 
was  die  Ethik  mit  ihm  ausrichten  will,  so  darf  es  nicht  bei  dem 
Affekte  sein  Bewenden  haben.  Denn  es  ist  eine  schwierige  Frage: 
wodurch  wird  der  Inhalt  des  Affektes  zum  Gegenstande 
des  reinen  Willens? 

Wir  erkennen  die  Schwierigkeit  der  Frage.  Wenn  man 
meint,  kurzer  Hand  antworten  zu  können,  dass  dies  vom  Denken 
abhänge,  durch  das  Denken  bewirkt  werde,   so   haben  wir  eben 


158  Trieb  und  Gedanke. 


die  Gefahr  beachtet,  die  in  dieser  Auskunft  liegt;  der  Wille  geht 
dabei  über  in  das  Denken.  Er  muss  sich  des  Begriffs  bedienen; 
und  wie  überall  im  Denken,  vollzieht  der  Begriff  den  Gegen- 
stand und  stellt  ihn  dar.  Nun  könnte  man  aber  sagen,  wie  es 
denn  überhaupt  anders  geschehen  und  gedacht  werden  könne; 
gibt  es  doch  keine  andere  Möglichkeit,  den  Gegenstand  zu  be- 
stimmen und  zu  erzeugen.  Es  könnte  als  ein  planloses  Beginnen 
erscheinen,  den  Begriff  des  reinen  Willens  mit  Rücksicht  auf  den 
Gegenstand  desselben  bestimmen  zu  wollen,  und  dabei  die  Mit- 
wirkung des  Denkens  und  des  Begriffs  zu  umgehen.  Dieser  Schein 
wäre  sicherlich  nicht  grundlos;  die  Ausschaltung  des  Denkens 
und  des  Begriffs  würde  den  Willen  schlechterdings  unmöglich 
machen.    So  also  kann  es  nicht  gemeint  sein. 

Bedenken  wir  nun  aber,  welche  Schwierigkeiten  hier  der 
Psychologie  vorliegen,  wenn  sie  diesen  komplicierten  Begriff 
des  Willens  zu  definieren  unternimmt.  Bedenken  wir  auch,  mit 
welchen  Schwierigkeiten  die  juristische  Diskussion  zu  ringen 
hat,  sofern  sie  diese  Complikation  des  Willens  zu  ihrem  eigent- 
lichen Problem  hat.  Denn  was  im  sogenannten  Affekte  geschieht, 
das  ist  für  das  Recht  ja  nur  gleichsam  als  Ausnahme  in  Betracht 
kommend.  Auf  die  Absicht  soll  es  ankommen,  wenngleich  nicht 
auf  die  Gesinnung;  auf  den  Vorsatz,  also  auf  den  vorgesetzten 
Inhalt  und  Gegenstand.  Wie  bemächtigt  sich  nun  der  Trieb  und 
Affekt,  der  doch  immer  noch  dabei  sein  muss,  dieser  ihm  fremden 
logischen  Mittel,  um  mit  denselben  sich  selbst  ins  Werk  zu  setzen? 

Man  sieht  an  dieser  Ausdrucksweise,  dass  der  Affekt,  als 
der  eigentliche  Wille,  für  sich  genommen  wird,  während  das 
Denken,  als  ein  fremdes  Element,  hinzutritt,  hinzugenommen 
wird.  Das  ist  der  Fehler.  Das  muss  ein  Fehler  sein,  dass  aus 
zwei  heterogenen  Elementen  ein  Ding,  ein  geistiges  Ding  soll 
werden  können.  Trieb  und  Gedanke  dürfen  nicht  zwei 
ungleichartige  Bestandteile  bleiben,  wenn  sie  sich  zu  einer 
Einheit  im  Willen  verbinden  können  sollen.  Ohne  die  Einheit 
aber  wäre  der  Wille  nicht  Wille;  nicht  eine  ursprüngliche  Rich- 
tung des  Kulturbewusstseins. 

Es  genügt  also  nicht,  zu  sagen,  der  Trieb  verbinde  sich  mit 
dem  Denken;  oder  die  Begehrung  mit  dem  Verstände.  Nicht 
allein  das  Wort  der  Verbindung  bezeichnet  diese  Ungenügendheit; 


Vermittelung  zwischen  Beiden  durch  einen  Begriff.  159 

davon  sei  jetzt  ganz  abgesehen.  Beachten  wir  um  so  schärfer, 
dass  es  sieh  dabei  immer  um  die  Correlation  des  Denkens  mit 
der  Begehrung  handelt.  In  der  Begehrung  allein  wird  die  Eigen- 
art des  Willens  angelegt  und  festgelegt.  Was  darüber  hinaus  hin- 
zukommt, das  hat  nicht  mehr  die  Kraft  und  den  Saft  des  Affektes; 
das  hat  im  besten  Falle  die  Farbe  des  Gedankens.  Das  ist  der 
Grundfehler  bei  dieser  Art  der  psychologischen  Synthese  des 
Willens.  Den  Fehler  mögen  wir  jetzt  erkennen;  wie  kann  er 
aber  vermieden  werden?    Das  scheint  eine  harte  Frage  zu  sein. 

Machen  wir  uns  klar,  wie  die  Lösung  der  Fragen  angegriffen 
werden,  wie  sie  gemeint  sein  kann.  Wenn  die  psychologische 
Construktion  durch  die  der  Ethik  bedingt  und  geleitet  wird,  so 
kann  es  sich  nicht  füglich  um  ein  Geheimniss  handeln,  welches 
im  Bau  des  Bewusstseins  zu  entziffern  wäre.  Nicht  darauf  kann 
es  abgesehen  sein,  etwa  ergründen  und  offenbar  machen  zu  wollen, 
wie  der  Trieb  den  Begriff  aufnimmt  und  sich  mit  ihm  verbindet 
Verbindet,  was  heisst  das?  Verflicht?  Verschmilzt?  Wie  fein  man 
diese  Unterschiede  zeichnen  mag,  die  Art  der  Verwebung  und 
Verwachsung  muss  immer  ein  Gleichniss  bleiben.  Die  Auflösung 
eines  psychologischen  Rätsels  kann  allein  durch  einen  Begriff 
erfolgen,  dessen  Leistung,  Ziel  und  Tragweite  bestimmbar  wird. 

Wenn  wir  also  fragen:  wodurch  wird  der  Inhalt  der  Be- 
gehrung zum  Gegenstande  des  Willens?  so  bedeutet  diese  Frage 
in  der  Tat  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Unterscheidung 
des  Willens  von  der  Begehrung.  Die  Antwort  aber  darf  nicht 
sein :  durch  die  Verbindung  mit  dem  Denken  wird  der  Trieb  zum 
Willen.  Das  ist  keine  Antwort;  das  ist  nur  eine  andere,  und 
zwar  nur  geringer  entwickelte  Formulierung  der  Frage.  Die 
Antwort  kann  nur  erfolgen  durch  die  Ermittelung  eines  Begriffs, 
welchem  die  Vermittelung  zwischen  dem  Denken  und  der  Be- 
gehrung anvertraut  werden  kann.  Ein  Begriff  allein  kann  diese 
Vermittelung  vollziehen.  Daran  ist  nicht  etwa  Anstoss  zu  nehmen, 
dass  dieser  Begriff  doch  dem  Denken  angehören  müsse,  und  dass 
somit  immer  nur  auf  der  einen  Seite  die  Vermittelung  hergestellt 
werde.  Das  wäre  ein  arges  Missverständniss.  Dieser  Uebergriff 
muss  allerwege  der  Logik  zugestanden  und  eingeräumt  werden. 
Es  kommt  nur  darauf  an,  dass  der  gesuchte  Begriff  nicht  ledig- 
lich ein  Begriff  der  reinen  Erkenn tniss   bleibe;   sondern  dass  er 


160  Aristoteles*  praktische  Vernunft. 

zu  einem  Begriffe  auswachse,  welchen  die  Ethik  gebrauchen  kann, 
welchen  das  Recht  gebraucht.  Welcher  Begriff  hat  diesen 
doppelten  Ursprung,  um  als  Vermittelung  zwischen  Be- 
gehrung und  Denken  brauchbar  zu  werden? 

Wir  hatten  von  vornherein  auf  diesen  Begriff  die  Richtung 
gelenkt;  es  ist  der  Begriff  der  Handlung. 

Wo  es  sich  um  Sittlichkeit  handelt,  da  widerstrebt  es,  von 
Tat  zu  sprechen;  nur  die  Handlung  allein  wird  dem  Sinne  gerecht 
Die  Natur  vollzieht  Bewegungen.  Sie  lassen  sich  im  Tiere  als 
Taten  auffassen;  denn  der  Instinkt  bildet  einen  subjektiven  Unter- 
schied gegen  die  Fallgesetze,  denen  gemäss  in  der  Natur  die 
Bewegungen  vollführt  werden.  Der  Mensch  wird  zum  Menschen 
durch  die  Handlung,  sofern  er  derselben  fähig  wird.  In  der 
griechischen  Sprache,  in  welcher  die  Philosophie  ihre  Ursprache 
besitzt,  ist  dieser  Unterschied  zwischen  Handlung  (?cpd^t<;)  und 
Tun  bedeutsam  ausgeprägt;  um  so  bedeutsamer,  als  nach  beiden 
Seiten  die  Abstraktion  fein  verwoben  wird.  Ist  doch  das  Tun 
zugleich  der  Ausdruck  für  das  höchste  Tun,  welches  das  aesthe- 
tische  Bewusstsein  zu  erkennen,  welches  es  als  das  durch- 
greifende Grundelement  alles  künstlerischen  Schaffens  anzu- 
erkennen hat.  Die  Poesie  wird  durch  dieses  Tun  bezeichnet. 
Und   dennoch  wird  von   dem  Tun   die  Handlung  unterschieden. 

Und  es  bleibt  noch  nicht  bei  dieser  Art  und  Richtung  der 
Unterscheidung,  welche  doch  die  Gebiete  der  Ethik  und  der 
Aesthetik  auseinanderhält;  innerhalb  des  Sittlichen  selbst  bleibt 
das  Tun  als  solches  anerkannt.  Aristoteles  hat  es  in  der  tätigen 
Vernunft  (vouc  7:o(Y]Tixd<;)  rehabilitiert.  Diese  tätige  Vernunft 
repräsentiert  vorzugsweise  die  bewegende  Gottheit;  und  allen- 
falls ergiesst  sich  ihres  Gleichen  in  den  Geist  des  Menschen;  des 
Menschen,  der  ihrer  teilhaft  wird.  Trotzdem  aber  ist  dieses  Tun 
noch  immer  Tun.  Es  ist  reine  Theorie;  Schauen  und  Denken 
seiner  selbst.    Aber  es  ist  trotz  alledem  nicht  Handlung. 

Es  ist  ein  wahrhaftes  Verdienst,  das  Aristoteles  sich  erworben 
hat  nicht  sowohl  durch  die  Charakteristik  der  Handlung;  denn 
diese  ist  durch  die  sachgemässe  des  Tuns  in  der  tätigen  Vernunft 
beeinträchtigt,  als  vielmehr  durch  die  Unterscheidung  und  Aus- 
zeichnung der  praktischen  Vernunft  (vouq  Tcpaxx'.xoQ).  Durch  diese 
terminologische  Bezeichnung    ist   nicht    sowohl   der  Begriff  der 


Die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  und  Fichte.  161 

Vernunft  mit  dem  Begriffe  der  Handlung  verknüpft,  als  vielmehr 
der  Begriff  des  Willens.  Denn  die  praktische  Vernunft  ist  der 
Wille;  nämlich  der  reine  Wille;  der  Wille,  den  die  Ethik  fordert; 
und  nur  die  Ethik  hat  ihn  zu  fordern. 

Wenn  man  bei  Kant  einen  Unterschied  zu  spüren  meint 
zwischen  den  Begriffen  des  Willens  und  der  praktischen  Ver- 
nunft, so  kommt  dies  von  dem  grundsätzlichen  Irrtum  her,  dass 
die  Vernunft  es  eigentlich  doch  nur  mit  dem  Denken  zu  tun 
habe,  dass  sie  also  eigentlich  nur  theoretische  Vernunft  sein 
könne;  der  Wille  dagegen,  der  sei  eben  nicht  eigentlich  Vernunft 
Es  widerspräche  der  ganzen  Anlage  der  Kantischen  Ethik,  wenn 
dieses  Sprachgefühl  für  seine  Terminologie  zuträfe.  Es  ist  nicht 
so;  es  gibt  für  ihn  keinen  Unterschied  zwischen  der  praktischen 
Vernunft  und  dem  Willen.  Denn  der  Wille  ist  ihm  der  reine 
Wille;  der  gute  Wille.  Und  er  hat  deshalb  diese  Kritik  nicht 
genannt  Kritik  der  reinen  praktischen  Vernunft,  weil  durch  den 
Nachweis  des  reinen  Willens,  der  reinen  praktischen  Vernunft 
die  Kritik  der  Reinheit  erübrigt  ist. 

Vielleicht  aber  darf  man  dies  als  einen  Mangel  in  der 
Construktion  dieser  Kritik,  in  dem  Abwägen  des  einzelnen  Bei- 
trags der  Hebel,  die  in  ihr  spielen,  ansehen:  dass  der  Begriff  der 
Handlung  nicht  zum  Schwerpunkt  des  ganzen  Gebäudes  geworden 
ist.  Und  wie  meistens,  so  geschiehtes  auchhier,  dass  man  unmittelbar 
bei  Fichte  die  Mängel  erkennt,  die  Kant  zurückgelassen  hat,  weil 
Fichte  in  der  spekulativen  Kraft  den  Schein  der  Congenialität 
auf  sich  zieht;  wenn  man  das  Talent,  welches  nicht  die  universelle 
Capazität  des  Wissens  besitzt,  mit  dem  Genius  vergleichen  darf, 
bei  dem  Wissen  und  Können  eins  werden.  Aber  den  Scharfblick, 
den  Tiefblick  für  die  Hebel,  die  nicht  bloss  Schrauben  sind,  hat 
das  grosse  Talent. 

So  lässt  es  sich  verstehen,  dass  bei  Fichte  in  der  Wissen- 
schaftslehre, wie  in  der  Sittenlehre,  die  Handlung  in  den  Mittel- 
punkt tritt  Denn  er  will  die  Kluft  zwischen  dem  Wissen  und 
dem  Wollen  aufheben.  So  geht  er  zwar  über  Aristoteles  hinaus; 
aber  es  bleibt  doch  bei  der  praktischen  Vernunft;  bei  der  Hand- 
lung in  der  Vernunft  und  für  die  Vernunft.  Es  ist  doch  nicht 
mehr  nur  die  Idee,  als  die  Idee  des  Guten,  um  die  es  sich  in 
der    Ethik    handelte.    Man   wird    vielleicht   so   dem   Aristoteles 

11 


162  Der  Begriff  und  die  Aufgabe. 


gerechter;  und  man  vermeidet  den  Vorwurf  der  Trivialität,  dem 
er  bei  dem  Gegensatze  zu  verfallen  scheint,  welchen  er  zwischen 
dem  Wissen  und  dem  Handeln  aufrichtet;  man  darf  erkennen, 
dass  es  ihm  darum  zu  tun  war,  die  Handlung  als  das  eigentliche 
Problem  der  Ethik  auszuzeichnen. 

Wir  wissen  längst,  dass  es  bei  dieser  Auszeichnung  für  die 
Ethik  nicht  verbleiben  darf;  wie  sie  denn  auch  sich  nicht  hätte 
halten  lassen,  wenn  der  BegrifT  der  Handlung  nicht  schon  in  der 
Logik  begründet  worden  wäre.  Wir  vermissen  seine  centrale 
Stellung,  seine  Unterstreichung  und  Auftragung  in  der  Kritik  der 
praktischen  Vernunft;  desto  energischer  aber  haben  wir  sie  in 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zu  erkennen.  Und  wir  haben 
in  der  Logik  der  reinen  Erkenntniss  die  Charakteristik  des  Urteils 
an  dem  Leitfaden  des  Begriffs  der  Handlung  versucht  Auch  da 
war  es  die  Aufgabe,  in  welcher  diese  Charakteristik  ihren  Grund 
und  ihre  Bestätigung  hat. 

Der  Begriff  ist  dem  Denken  nicht  gegeben;  das  Urteil  hat 
ihn  zu  vollziehen.  Es  ist  schon  viel  gewonnen,  wenn  diese  Ein- 
sicht erreicht  wird;  aber  es  ist  nicht  Alles  damit  gewonnen;  und 
sie  ist  nicht  gesichert,  wenn  nicht  eine  andere  Einsicht  hinzu- 
kommt und  lebendig  wird,  und  damit  jene  erste  Einsicht  erst 
lebendig  macht.  Der  Begriff  ist  nämlich  nicht  nur  von  vornherein 
nicht  gegeben,  und  er  muss  erzeugt  werden;  sondern  er  ist  auch 
am  Ende  der  Erzeugung  nicht  gegeben;  es  gibt  keinen  Ab- 
schluss  und  kein  Ende  für  ihn.  Sein  Ende  wäre  seine  Ver- 
nichtung. Sein  Dasein  besteht  nur  in  seiner  Erzeugung;  und 
seine  Erzeugung  nimmt  kein  Ende,  sofern  er  ein  echter  Begriff 
ist.    Das  heisst:  der  Begriff  ist  Aufgabe. 

Diese  Aufgabe  des  Begriffs  bildet  den  Inhalt  des  Denkens, 
den  Gegenstand  des  Urteils.  Darum  ist  das  Denken,  ist  das  Ur- 
teil Handlung.  Wäre  es  Tun,  so  könnte  es  ein  fertiges  Gebild 
zustande  bringen.  Die  Handlung  ist  dadurch  vom  Tun  unter- 
schieden, dass  es  für  sie  nichts  Fertiges  gibt;  und  dass  es  für  sie 
kein  Ende  und  keine  Erledigung  gibt,  soweit  es  sich  um  ihren 
Inhalt  handelt  Sie  geht  mit  ihrem  Inhalt,  und  nur  mit  ihm^ 
an  sich  selbst  zu  Ende.  Wenn  ihr  Inhalt  sich  auigibt,  so  gibt 
sie  selbst  sich  auf;  vielmehr  so  gibt  ihr  Inhalt  sie  auf.  In 
diesem    Doppelsinn   können   wir  das  Wort  Aufgabe  für 


Die  Aufgabe  und  die  Handlung.  lt>B 

die  Handlung  fassen.  Der  Inhalt  der  Handlung,  als  der 
Handlung  des  Denkens,  ist  die  Aufgabe.  Der  Begriff  ist  niemals 
ein  abgeschlossenes  Ding,  niemals  eine  Versteinerung.  Würde 
diese  Aufgabe  der  Handlung  des  Denkens  entschwinden,  so  würde 
das  Denken  sich  selbst  aufgeben. 

Bevor  wir  nun  aber  die  Verwandtschaft  zwischen  dem 
Denken  und  dem  Wollen,  wie  sie  in  der  Handlung  sich  darstellt 
und  vollzieht,  genauer  verfolgen,  scheint  es  angemessen,  dem  all- 
gemeinen Gedanken  nachzugehen,  dass  und  warum  diese  Ver- 
wandtschaft, diese  Spur  aufzusuchen  und  zu  verfolgen  sei.  Es 
kann  jedoch  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  nur  auf  diesem 
Wege  der  Unterschied  zwischen  Wollen  und  Begehren  sich  fest- 
stellen, der  BegrüB  des  reinen  Willens  sich  bestimmen  lasse. 
Und  wenn  wir  bisher  den  Begriff  der  Handlung  für  diesen  Unter- 
schied heranzogen,  so  dürfen  wir  auch  einen  andern  Begriff 
nicht  ausser  Acht  lassen,  der  für  das  Denken,  und  so  auch  für 
das  Wollen  massgebend  ist. 

Wir  sagten,  es  dürfe  für  das  Denken  nichts  Fertiges  geben. 
Und  wir  können  es  uns  vorstellen,  dass  damit  nicht  etwa  der 
Unersättlichkeit  des  Begehrens  das  Wort  geredet  werden  solle; 
sondern  dass  vielmehr  die  Sattheit  des  Behagens  abgewehrt 
werden  soll,  welche  gross  ist  in  der  Schätzung  des  momentanen 
Erfolges,  den  sie  festzuhalten  vermeint:  verweile  doch,  du  bist 
so  schön.  Alle  jene  Selbstgefälligkeit  und  Selbstgerechtigkeit  des 
trägen  Conservativismus  wird  vielmehr  gerichtet,  und  in  ihrer 
Schädlichkeit  erkannt  durch  den  Ausgang  von  dem  Gedanken, 
dass  aller  Inhalt  des  sittlichen  Wollens  nichts  mehr  sein  wollen, 
nichts  Höheres  erstreben  und  erzielen  können  darf  als  die  ewige 
Aufgabe,  die  nimmermehr  zum  trägen  Besitze  werden  kann.  So 
einleuchtend  dies  Alles  dem  gebildeten  sittlichen  Bewusstsein  ist, 
so  muss  es  andererseits  doch  in  Erwägung  gezogen  werden,  dass 
der  reine  Wille  einen  Halt  und  einen  sichern  und  festen  Ruhe- 
punkt gewähren  müsse  gegenüber  jenem  haltlosen  Drängen  und 
Schwanken,  in  welchem  der  Trieb  nicht  sowohl  treibt,  als  ge- 
trieben wird;  in  welchem  die  Begierde  nicht  sowohl  zur  Be- 
friedigung gelangt,  sondern  im  Genüsse  nur  sich  selbst  verzehrt. 
Diesen  Halt,  der  wahrlich  kein  Stillstand  ist,  wo  könnte  er 
anders  zu  finden  sein  als  im  Denken? 

11* 


164  Vorurteile  der  Psychologie. 

So  sind  es  denn  zwei  Gesichtspunkte,  von  denen  aus 
die  Handlung,  welche  und  sofern  sie  den  reinen  Willen  voll- 
endet, zu  betrachten  ist.  Einerseits  beherrscht  die  Bewegung 
dieses  ganze  Gebiet;  andererseits  aber  ebenso  auch  die  Ruhe. 
Und  indem  wir  diesen  Ausdruck  gebrauchen,  so  erkennen  wir 
zugleich,  dass  es  nicht  widersprechende  Begriffe  sind,  durch 
welche  wir  die  Handlung  zu  beschreiben  versuchen;  denn  die 
Ruhe  ist  nach  einem  logischen  Grundbegriffe  der  Physik  die 
Voraussetzung  der  Bewegung,  und  also  selbst  der  Ursprung  der 
Bewegung.  Die  Ruhe,  welche  eine  Grundbedingung  der  Handlung 
ist,  ist  keineswegs  ein  Stillstand;  sondern  sie  ist  nur  der  Gegen- 
satz zum  Schwanken,  welches  das  Gleichgewicht  ausschliesst 
Sie  ist  kein  Abschluss;  aber  sie  führt  zum  Entschluss.  Und 
darauf  kommt  es  an,  dass  Vorsatz  und  Entschluss  zu- 
sammenfallen: in  der  Handlung  eins  werden.  Wodurch 
aber  kann  der  Wille,  der  doch  auf  dem  Moment  der  Bewegung 
beruht,  dieses  Ursprungs  der  Bewegung,  dieser  Ruhe  sich  be- 
mächtigen, ohne  in  diesem  Verweilen  den  Stillstand  zu  stabilieren, 
und  seinen  Ursprung  damit  abzugraben? 

Hier  stehen  wir  wieder  vor  der  schwierigen  Frage  des  Zu- 
sammenhangs zwischen  dem  Wollen  und  dem  Denken.  Die 
Schwierigkeit  ist  aber  eine  künstliche,  selbstgemachte;  sie  beruht 
auf  der  falschen  Vorstellung,  die  von  dem  Problem  der  Psycho- 
logie und  demzufolge  von  derjenigen  Methodik  im  Schwünge 
ist,  die  der  Psychologie  obliege  und  möglich  sei.  Durch  die  Ab- 
hängigkeit, in  welche  wir  sie  von  allen  Disciplinen  des  Systems 
der  Philosophie  versetzen,  für  den  Willen  also  von  der  Ethik, 
muss  sich  die  Schwierigkeit  aufheben.  Wir  haben  nicht  etwa 
nach  Art  der  Physiologie  das  anatomische  Räderwerk  aufzudecken, 
in  dem  und  mittelst  dessen  die  Maschine  des  Willens  ihre 
Funktionen  ausübt;  sondern  wir  haben  allein  die  Begriffe  zu  be- 
stimmen, in  deren  Verbindung  dieses  komplicierte  Problem  durch- 
sichtig wird. 

Wie  es  der  Affekt  anfangt,  mit  dem  Denken  sich  zu  ver- 
binden, das  geht  uns  Nichts  an.  So  dürfen  wir  die  Frage  nicht 
stellen;  denn  der  Affekt  ist  keine  Nervenzelle,  so  wenig  als  der 
Begriff.  Beide  sind  nichts  als  Termini  der  Logik,  der  Ethik, 
und  dadurch  der  Psychologie.    Und  das  allein  darf  demgemäss 


^ 


Unterschied  der  Handlung  im  Denken  und  Wollen.  165 

die  Frage  werden:  ob  und  wie  aus  der  Art  der  Verbindung,  in 
welche  der  Affekt  und  das  Denken  gebracht  werden,  das  Problem 
des  reinen  Willens  vollziehbar  und  lösbar  wird.  Die  Verbindung 
dieser  Begriffe  ist  unerlässlich;  denn  der  Wille  gipfelt  in  der 
Handlung.  Und  die  Handlung  ist  einerseits  Bewegung, 
andererseits  Ruhe.  Bewegung  gibt  der  Affekt;  Ruhe  allein 
der  Begriff.  Also  gehören  Affekt  und  Denken  zusammen. 
Auf  diese  Forderung  hat  sich  das  Interesse  der  Psychologie 
zu  beschranken.  Wie  sie  zusammenkommen,  das  ist  eine  Frage 
nach  dem  Homunculus;  nicht  nach  dem  Kulturbewusstsein  und 
seiner  Einheit 

Es  wäre  daher  ein  platter  Einwurf,  dass  durch  die  Ver- 
bindung des  Affekts  mit  dem  Denken  doch  die  Handlung  wieder 
auf  Denken,  und  auf  die  Bedeutung,  welche  ihr  im  Denken  zu- 
kommt, reduciert  würde.  Denn  diese  Verbindung  ist  unaus- 
weichlich. Es  gibt  kein  anderes  Mittel,  den  Unterschied  von  der 
unaufhaltsamen,  ziellosen  Begehrung  herzustellen,  als  welches  im 
Denken  des  Begriffes  liegt.  Es  müsste  aber  also  der  Unterschied 
zwischen  Wille  und  Begehrung  hinfallig'  werden,  wenn  nicht  aus 
der  allgemeinen  Bedeutung  der  Handlung  im  Denken  sich  zu- 
gleich eine  specifische  für  das  Wollen  ermitteln  lassen  sollte. 
Das  muss  jetzt  unsere  Frage  werden:  welcher  Unterschied 
ergibt  sieh  zwischen  der  Handlung  im  Denken  und  der 
Handlung  im  Wollen?  Nicht  auf  die  Analogieen  wollen  wir 
jetzt  achten,  sondern  auf  die  Verschiedenheit;  da  diese  ja  frag- 
lich wurde. 

Bringen  wir  zunächst  die  Richtung,  in  welcher  die  Unter- 
scheidung verlaufen  muss,  in  aller  Schroffheit  zum  Ausdruck. 
Wir  würden  uns  dann  am  bequemsten  und  deutlichsten  der 
Unterscheidung  zwischen  dem  Innern  und  dem  Aeussern  be- 
dienen können.  Das  Denken  bleibt  immer  ein  Inneres;  sein  In- 
halt und  Gegenstand  ist,  als  ein  solcher  des  Denkens,  ein  innerer. 
Die  Handlung  dagegen  geht  schlechterdings,  so  scheint  es,  auf 
ein  Aeusseres.  Ihr  Gegenstand  soll  so  wenig  ein  innerer  bleiben, 
dass  er  als  ein  durch  die  Handlung  hervorzubringender  gedacht 
wird.  Dieses  Hervorbringen  wird  aber  nicht  etwa  so  verstanden, 
wie  das  Erzeugen  im  Denken;  denn  dort  bleibt  das  Erzeugniss 
immer  ein  Gedachtes.    Die  Handlung  dagegen  will  ihren  Inhalt, 


166  Unterschied  des  Gegenstands  im  Denken  and  im  Wollen. 

ihre  Hervorbringung  zu  einem  Gegenstande  machen,  der  etwas 
Anderes  sei  als  ein  Gedanke.  Dieses  Andere  liegt  im  Aeussern. 
Die  Handlung  ist  Aeusserung. 

Jetzt  wird  nun  aber  der  Einwand  sich  einstellen,  dass  ja 
doch  auch  das  Denken  der  Erkenntniss  ein  Aeusseres,  dieAussen- 
welt  zu  erzeugen  habe.  Was  wird  daher  aus  dem  Unterschiede 
zwischen  Handlung  und  Denken,  wenn  er  auf  den  zwischen 
Aeusserem  und  Innerem  zurückgeführt  werden  muss?  Man  sieht, 
diese  Unterscheidung  kann  nicht  den  letzten  Ausdruck  bilden. 
Es  kommt  ihr  nicht  der  Wert  einer  methodischen,  einer  grund- 
satzlichen Bedeutung  zu. 

Halten  wir  uns  vielmehr  wiederum  an  den  gemeinsamen 
Ausdruck  für  den  Inhalt,  der  im  Begriffe  des  Gegenstandes 
liegt.  Für  das  Denken  der  Erkenntniss  handelt  es  sich  immer 
und  durchweg  um  den  Gegenstand  und  um  die  Einheit  der 
Gegenstande  in  der  Natur.  Der  Wille  bezieht  sich  freilich  not- 
wendigerweise auch  auf  den  Gegenstand,  in  dem  sein  Inhalt 
praecis  wird;  in  dem  er  sich  von  der  Begierde  unterscheidet.  Aber 
dieser  Gegenstand  selbst,  so  genau  und  scharf  bestimmt  er  ge- 
fordert wirdv  ^r  i^^  ^^  dennoch  nicht,  auf  den  es  eigentlich  abge- 
sehen ist;  er  ist  in  aller  seiner  Deutlichkeit  doch  nur  eine  Vor- 
spiegelung, doch  nur  gleichsam  die  Veranschaulichung  desjenigen 
Inhalts,  welcher  allein  der  eigentliche  Inhalt  und  der  wahre 
Gegenstand  des  Willens  ist.  Dieser  eigentliche  Gegenstand 
ist  die  Handlung. 

So  erkennen  wir  den  Unterschied  in  der  Bedeutung 
der  Handlung  für  das  Denken  und  für  das  Wollen.  Im 
Denken  ist  der  Gegenstand  der  Zweck  und  Inhalt.  Und  die 
Handlung  ist  das  Mittel,  diesen  Gegenstand  zu  erzeugen.  Im 
Wollen  dagegen  ist  die  Handlung  der  Inhalt  und  das  Ziel.  Und 
der  Gegenstand  ist  Nichts  als  das  Mittel,  die  Handlung  zu  erzeugen 
und  zu  Stande  zu  bringen.  Das  Denken  bedarf  der  Handlung, 
wenn  der  Gegenstand  ihm  nicht  ein  gegebener  sein  soll.  Das 
Wollen  dagegen  bedarf  des  Gegenstandes,  wenn  die  Handlung 
ihm  nicht  in  Velleität  und  Impetuosität  verfliegen  und  zerflattem 
soll.  Festigkeit,  Sicherheit,  und  daher  Klarheit  und  Bestimmtheit 
kann  nur  der  Gegenstand,  nur  der  Begriff  im  Gegenstande  ver- 
leihen.   Soweit  bedarf  das  Wollen  des  Begriffs;  soweit,  aber  nicht 


Die  Aufgabe  und  die  Verinnerlichung.  167 

ein  Haarbreit  weiter.  Worauf  es  allein  dem  Wollen  ankommt^ 
das  ist  die  Handlung  und  nur  die  Handlung.  Sie  bildet  das 
Innere,  dem  gegenüber  die  ganze  Aussenwelt  zu  einem  schier 
Aeusserlichen  wird. 

Daher  vollzieht  das  Wollen  gerade,  indem  es  in  die  Hand- 
lung ausläuft,  und  in  der  Handlung  kulminiert,  den  höchsten 
Grad  reflexiver  Immanenz.  Weit  gefehlt,  dass  der  Wille  in  der 
Handlung  sich  veräusserlichte,  verinnerlicht  er  sich  vielmehr  in 
ihr  und  durch  sie;  vollführt  er  und  vollendet  er  seine  Ver- 
innerlichung. Je  mehr  wir  ungescheut  den  Willen  an  das 
Denken  und  in  das  Denken  hineinziehen,  desto  genauer  wird 
der  Unterschied.  Das  echte  Genus  muss  überall  die  echte 
specifischc  Differenz  an  den  Tag  bringen. 

Wir  können  hier  wieder  an  einen  Terminus  anknüpfen, 
der  ebenfalls  dem  Wollen  mit  dem  Denken  gemeinsam  ist;  der 
aber  für  die  Handlung  zu  einer  eminenten  Bedeutung  kommt: 
das  ist  der  Begriff  der  Aufgabe.  Auch  für  das  Denken  ist  die 
Aufgabe  notwendig,  damit  dasselbe  in  seinen  verschiedenen 
Richtungen,  in  keiner  derselben  sich  erschöpfe  und  sich  ab- 
schliesse.  Wenn  die  Sonderung  vollzogen  wird,  so  darf  sie 
nicht  sich  abhaspeln.  Und  ebensowenig  darf  dies  die 
Einigung;  sie  würde  sonst  die  Einheit  des  Begriffs  in  ein 
Petrefakt  verwandeln.  Beide  Richtungen  müssen  sich 
ihren  Inhalt  als  Aufgabe  setzen.  Und  das  Denken  selbst 
muss  demgemäss  seinen  Gegenstand,  seinen  Begriff  als  Aufgabe 
denken,  als  Aufgabe  erzeugen. 

So  muss  es  ganz  besonders  auch  für  das  Wollen  gelten, 
wie  wir  es  betrachtet  haben.  Wenn  nun  aber  wieder  der  Ein- 
wurf auftaucht,  worin  denn  der  Unterschied  zwischen  Wollen 
und  Denken  für  die  Aufgabe  liege,  so  werden  wir  uns  an  die 
Handlung  und  an  ihren  Unterschied  vom  Gegenstande  halten. 
Und  man  kann  hier  die  Sache  noch  viel  tiefer  greifen.  An  der 
Hand  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Aeussern  und  dem  Innern 
war  es,  wenn  es  auch  nicht  ausgesprochen  wurde,  im  letzten 
Grunde  doch  der  Raum,  nach  dem  der  Unterschied  orientiert 
wurde.  Der  Gegenstand  des  Denkens  der  Erkentniss  wird  auf 
den  Raum  projiciert;  die  Handlung  dagegen  soll  immer  der  Aus- 
druck des   Innern   sein.    Dieser   Gedanke   wird  durch   den   Ge- 


168  Die  Aufgabe  und  der  Sinn. 

Sichtspunkt  der  Gesinnung  gemeint;  aber  schief  gewendet  Die 
Handlung  vielmehr  ist  der  richtige  Gesichtspunkt  Sie  ist  nicht 
äusserlich;  nicht  für  den  Willen  von  Aussen  und  nach  Aussen 
hinzutretend.  Sie  ist  vielmehr  allerwege  nur  und  nichts  Geringeres 
als  das  Aeussere  des  Innern.  Das  lässt  sich  nun  noch  schärfer 
an  der  Aufgabe  durchführen. 

Das  Analogon  zu  ihr  ist  nämlich  die  Substanz.  Alles 
Denken  der  Erkenntniss  ist  auf  sie  dirigiert.  Die  Realität 
würde  ohne  sie  zu  einem  blossen  Buchstaben.  Sie  bedeutet  zwar 
nicht  das  absolute  Sein;  denn  sie  ist  vielmehr  auf  die  Causalität 
und  auf  das  System  relativiert,  aber  sie  bedeutet  das  allgemeine 
Sein,  die  allgemeine  Voraussetzung  des  Seins,  auf  welche 
Causalität  und  System  als  ihre  Funktionen  bezogen  sind.  Wollte 
man  sich  auch  für  dieses  Stadium  der  Charakteristik  des 
Denkens  des  Terminus  der  Aufgabe  bedienen,  so  würde  man 
sagen  dürfen,  dass  die  Aufgabe  hier  als  Substanz  sich  denken 
lasse;  denn  die  Aufgabe,  als  welche  der  Inhalt  des  Denkens 
immerdar  gedacht  werden  muss,  ist  und  bleibt  auf  den  Gegen- 
stand und  also  auf  das  allgemeine  Sein  bezogen.  Anders  dagegen 
steht  es  im  Wollen.  Hier  ist  die  Handlung  niemals  in  letzter 
Instanz  Gegenstand.  Also  darf  auch  die  Aufgabe  nicht  als  das 
Mittel  gelten  für  die  Darstellung  des  Gegenstands.  Also  darf 
die  Aufgabe  auch  nicht  nach  der  Analogie  der  Substanz  gedacht 
werden. 

Wir  stossen  hier  wieder  auf  den  tiefen  Unterschied,  den 
Kant  zwischen  dem  Sein  und  Sollen  formuliert  hat  Jedoch 
wir  haben  es  schon  mehrfach  erwogen,  dass  wir  zwar  den  Sinn 
dieser  Unterscheidung  festhalten  müssen,  die  Formulierung  selbst 
aber  zu  vermeiden  haben.  Es  darf  nicht  der  leiseste  Schein 
zugelassen  werden,  als  ob  es  das  reine  Wollen  nicht  mit  einem 
Sein,  oder  auch  nur  mit  einer  geringern  Art  des  Seins  zu  tun 
hätte,  als  welche  der  Erkenntniss  zusteht.  Dennoch  aber  darf 
der  Unterschied  zwischen  Ethik  einerseits  und  Logik  und 
Physik  andererseits  nicht  nivelliert,  darf  also  der  Unterschied 
zwischen  Wollen   und  Denken   nicht  verwischt  werden. 

Das  Sein  des  Sollens  ist  das  Sein  des  Wollens,  das 
Sein  des  Willens.  Es  ist  nicht  das  gegebene  Sein.  Es  ist 
nicht   das    als   gegeben  zu   erzeugende  Sein,  welches   hier   den 


Der  Vorsatz  der  Aufgabe.  169 


Gegenstand  bildet.  Denn  der  Gegenstand  ist  hier  nur  aus- 
schliesslich die  Handlung.  Und  nur  die  Handlung  ist  hier  die 
Aufgabe;  die  Aufgabe  des  Gegenstands.  Jenes  Bedenken,  dass  es 
dem  Sollen  am  Sein  gebrechen  könnte,  verliert  daher,  je  genauer 
wir  es  im  Zusammenhalten  mit  dem  reinen  Denken  betrachten, 
immer  mehr  von  seinem  Schein.  Um  so  getroster  können  wir 
daher  von  der  andern  Seite  aus  den  Unterschied  ins  Auge  fassen. 

Die  Tat  ist  nicht  Handlung.  Aber  die  Handlung  ist  Tat. 
Das  Innere  wird  durch  die  Handlung  nicht  in  ein  Aeusseres 
verwandelt.  Aber  in  ein  Aeusseres  soll  das  Innere  übergehen. 
Es  soll  in  diesem  Uebergang  das  Innere  bleiben;  aber  es  soll 
sich  ausdehnen  in  eine  Aeusserung.  Das  ist  der  Unterschied 
zwischen  Wollen  und  Denken.  Diesen  Unterschied  markiert 
der  specifische  Begriff  der  Handlung.  Sie  soll  zugleich  Tat  sein. 
So  lässt  es  sich  verstehen,  dass  Fichte,  der  von  der  Gemeinsam- 
keit der  Handlung  in  Denken  und  Wollen  ausging,  den  Ter- 
minus der  Tathandlung  prägte. 

Das  ist  nicht  nur  logisch  von  Bedeutung,  nämlich  der 
Tatsache  gegenüber,  sondern  für  das  Wollen  von  grosser 
Zw^eckmässigkeit.  Das  reine  Wollen  vollzieht  sich,  voll- 
endet sich  in  der  reinen  Handlung.  Und  die  Handlung 
bleibt  rein,  indem  sie  zugleich  Tat  ist.  Diese  Aeusserung  ist  die 
Aeusserung  des  Innern.  Und  das  Innere  wäre  nur  das  des 
Denkens,  nicht  das  des  Wollens  und  der  Handlung,  wenn  es 
nicht  dieser  Aeusserung  zugänglich  würde.  Dagegen  schwindet 
aller  Vorwand  von  Absicht  und  Gesinnung.  Der  Gegenstand 
der  Absicht  muss  der  Vorsatz,  der  Ansatz  der  Aufgabe 
werden,  die  in  der  Handlung  sich  vollführt. 

Der  Affekt  braucht  im  reinen  Wollen  nicht  zu  erschlaffen; 
in  der  Handlung  nicht  verschleiert  und  abgetötet  zu  werden. 
Das  reine  Wollen  braucht  nicht  zum  blossen  Denken  zu  ver- 
blassen. Die  Handlung  verbindet  und  vereinigt  den 
Affekt  mit  dem  Denken.  Sie  erzeugt,  sie  vollendet  den  Be- 
griff des  reinen  Willens. 

So  hat  sich  denn  das  Bedenken  gründlich  erledigt,  als  ob 
der  reine  Wille  Eigenart  und  eigene  Energie  verlöre,  wenn  er 
auf  das  Denken  abgestimmt  wird.  Es  hat  sich  genugsam  bereits 
gezeigt,  dass  die  specifische  Kraft  der  Handlung  des  Affekts  nicht 


170  Verhältnis  der  Rechtsphilosophie  zu  Logik  und  Ethik. 

entraten  kann.  Wir  werden  an  wichtigen  Beispielen,  und  zwar 
nicht  nur  des  Beispiels  wegen,  diese  Erwägung  fortzusetzen 
haben.  Vorerst  jedoch  dürfen  wir  nunmehr  nach  der  andern 
Seite  die  Erwägung  aufnehmen;  nämlich  dahin^  dass  erst 
durch  das  Denken  und  durch  die  Fixierung  im  Begriffe 
die  Handlung  und  das  V^ollen  zu  stände  kommt. 


Wir  haben  hierzu  auf  den  Apparat  der  Logik  einzugehen. 
Das  ganze  Gebiet  des  Urteils  würde  heranzuziehen  sein;  wir 
wollen  uns  jedoch  an  dieser  Stelle  Beschränkung  auferlegen,  und 
zwei  Begriffe  auswählen.  V^ir  stehen  hier  an  einem  funda- 
mentalen methodischen  Problem,  nämlich  an  dem  Verhältniss 
zwischen  Ethik  und  Rechtsphilosophie.  Da  erhebt  sich 
vor  Allem  das  Bedenken,  dass  es  doch  nicht  allein  die  Ethik  sei, 
zu  welcher  die  Rechtsphilosophie  in  Beziehung  zu  setzen  sei; 
dass  es  doch  vornehmlich  vielmehr  die  Logik  sein  müsse,  auf 
welche  die  Rechtsphilosophie  zu  orientieren  sei. 

Wir  erkennen  dagegen  hier  sogleich,  wie  dieses  Bedenken 
sich  zerstreut.  Wenn  wir  die  Beziehung  zur  Ethik  ins 
Auge  fassen,  so  haben  wir  damit  zugleich  diejenige  der 
Logik  mitgefasst.  Ethik  hat  nicht  allein  Logik  zur  Voraus- 
setzung und  zur  Grundlage;  sondern  der  Begriff  des  reinen 
Willens,  wie  er  in  der  Handlung  gipfelt,  lässt  sich  ohne  die 
Beziehung  auf  das  Denken  der  Erkenntniss  nicht  definieren. 
Und  diese  notwendige,  unumgängliche  Verbindung  ist  es,  die 
wir  hier  genauer  in  Angriff  nehmen  wollen. 

Unter  allen  Urteilsarten  ist  es  das  Urteil  der  Bedingung, 
welches  die  Art  und  den  Wert  der  Erkenntniss  bestimmt.  Daher 
konnte  die  Ansicht  populär  werden,  dass  der  Intellekt  durch  die 
Causalität  erschöpfend  sich  bestimme.  Und  Kant  selbst  hat 
gegen  seinen  Willen  dieses  Vorurteil  heraufbeschworen,  indem 
er  die  Erörterung,  welche  Hume  auf  die  Causalität  beschränkt 
habe,  für  das  ganze  Gebiet  der  reinen  Vernunft  zu  erweitern  als 
sein  Vorhaben  ausgab.  Damit  erschien  die  Causalität  als  der 
Schwerpunkt  alles  Denkens.  So  verhält  es  sich  nun  zwar  nicht 
Die  Causalität  ist  nur  eine  der  Kategorieen.  Aber  sie  ist  die 
Kategorie   der   Funktion,   also   des  Grundmittels  der  reinen 


Die  Bedingung  Grundbegriff  des  Rechts.  171 

Erkenntniss.  Darin  liegt  freilich  wieder  ein  schweres  Zeichen 
des  Unterschieds. 

Denn  wenn  die  Causalität  die  Funktion  bedeutet,  so  liegt 
ihr  Wert  und  ihre  Kraft  innerhalb  der  Mathematik  und  der 
mathematischen  Physik;  kann  sie  dann  aber  auch  anwendbar 
werden  auf  andere  Gebiete  der  Forschung  und  des  Wissens, 
wenngleich  dieselben  nicht  die  der  reinen  Erkenntniss  sind? 
Wir  stehen  wieder  vor  einer  methodischen  Schwierigkeit,  über 
welche  uns  jedoch  die  Logik  schon  hinweggehoben  hat.  Aber 
diese  Hebung  konnte  sich  doch  nur  auf  die  Aufstellung  von 
Wegweisern  beschränken.  In  allen  Urteilsarten  hat  die  Logik  es 
versucht,  solche  Hinweise  und  Wegweiser  auf  die  Geistes- 
wissenschaften aufzurichten.  Jetzt  liegt  die  Gelegenheit  und 
die  Aufgabe  vor,  die  Wegweiser  in  Gebrauch  zu  setzen. 

Freilich  kann  man  die  Bedingung  nicht  in  solchen  Funktionen 
ausdrücken  und  berechnen,  welche  die  Ethik  für  den  Begriff  des 
Wollens,  welche  die  Rechtswissenschaft  für  den  Begriff  der 
Handlung  braucht.  Soll  aber  etwa  darum  die  Ethik  auf  den 
Begriff  der  Bedingung,  und  gar  die  Rechtswissenschaft  auf  ihn 
verzichten,  weil  er  sich  in  einer  mathematischen  Funktion  nicht 
formulieren  lässt?  Muss  nicht  dessen  ungeachtet  die  Rechts- 
wissenschaft mit  den  Zahlen  rechnen,  und  mit  den  Proportionen, 
welche  bis  zur  Erfindung  der  Infinitesimalrechnung  als  Funktionen 
galten? 

Man  sieht,  wenn  auch  die  Brücke  nicht  klar  und  über- 
sichtlich zwischen  dem  exakten  Begriffe  der  Funktion  und  dem 
gemeinen  Gebrauche  der  Bedingung  gezogen  ist,  so  besteht  sie 
doch;  und  auf  Grund  dieser  Brücke  vollzieht  sich  die  Anwendung 
des  Begriffs  der  Bedingung  im  gemeinen  Verstandesgebrauche; 
vielmehr  genauer  in  dem  allgemeinen  wissenschaftlichen  Ge- 
brauche. Es  gäbe  kein  Denken  im  Sprachgebrauche  der  Geistes- 
wissenschaften, wenn  der  strenge  Begriff  der  Bedingung  ihm 
fremd  und  unzugänglich  bleiben  müsste.  Und  vorzugsweise  ist 
es  das  juristische  Denken,  welches  auf  den  Begriff  der  Bedingung 
angewiesen  ist.  Der  Begriff  der  Handlung,  der  Grundbegriff  des 
gesamten  Rechts,  ist  auf  den  Begriff  der  Bedingung  aufgebaut 
So  wird  die  Bedingung  zum  eigentlichen  Grundbegriffe 
des  Rechts. 


172  Die  Voraussetzung  zweier  Rechtssubjekte. 

Wir  können  hier  den  Vorzug  erkennen,  den  die  Bezeichnung 
des  Urteils  der  Bedingung  vor  dem  der  Causalität  hat.  Causa- 
lität  ist  vorzugsweise  auf  die  Connexion  von  Ursache  und  Wirkung 
bezogen;  die  Bedingung  dagegen  wird  erstlich  in  der  Funktion 
das  methodische  Mittel  der  Causalität;  dann  aber  auch  umfasst 
sie  das  ganze  grosse  Gebiet  des  Willens,  das  Gebiet  der  Geistes- 
wissenschaften und  der  sittlichen  Kultur,  in  welchem  es  nur  meta- 
phorischer Weise  sich  um  diese  Verknüpfung  handelt,  in  welchem 
der  Begriff  der  Ursache  noch  in  ganz  anderer  und  eigenartiger 
Weise  fraglich  wird  und  das  eigentliche,  das  neue  Problem  bildet 

Es  ist  nun  aber  eine  besondere  Schwierigkeit  aus  dem 
Sprachgebrauche  dieser  fundamentalen  Bedeutung  der  Bedingung 
entstanden.  Sie  ist  nicht  auf  das  ganze  Gefüge  des  Bedingungs- 
satzes bezogen  geblieben,  sondern  auf  das  vorderste  Glied  des- 
selben beschränkt  worden.  Wie  man  die  Connexion  oder  Causa- 
lität in  Ursache  und  Wirkung  zu  zerteilen  pflegte,  so  hat  man 
auch  das  Bedingungsurteil  in  Bedingung  und  Folge  gespalten. 
Damit  aber  hat  man  die  einigende  Kraft  der  Bedingung  gebrochen, 
und  ihren  Wert  als  Urteil  halbiert.  Die  Bedingung  wurde  so 
zum  Umstand,  mit  dessen  Setzung  das  Urteil  allenfalls  anhebt; 
sie  erstreckte  sich  aber  nicht  auf  den  Erfolg,  der  das  Ziel  und 
somit  den  eigentlichen  Inhalt  des  Urteils  bildet.  Diese  Irrung 
des  Sprachgebrauchs  wird  abgewendet  durch  die  Bezeichnung 
des  Urteils  der  Bedingung. 

Besonders  in  der  Rechtswissenschaft  hat  diese  Ver- 
schrumpfung  der  Bedingung  zum  Umstand  Unklarheiten  und 
Schwierigkeiten  hervorgerufen.  Handelt  es  sich  doch  in  allem 
Rechte  durchgängig  um  Bedingungen.  Bedingung  ist  die  Seele, 
ist  das  logische  Band  des  Vertrages.  Bedingung  ist  der  logische 
Ausdruck  der  Obligation.  Da  nun  aber  die  Obligation  in  der 
Handlung  vollzogen  wird,  in  welcher  der  Wille  perfekt  wird,  so 
beruht  die  Handlung,  und  somit  der  Wille  im  rechtlichen  Sinne 
auf  der  Bedingung.  Wie  jede  Obligation,  jede  Rechtshandlung, 
jeder  Rechtswille  zwei  Rechtssubjekte  voraussetzt,  so  setzt 
er  in  diesen  und  ihren  Handlungen  die  Bedingung  voraus,  welche 
sie  in  und  zu  der  Obligation  verknüpft. 

Man  kann  daher,  um  die  Sachlage  schroff  auszudrücken, 
wohl   auch   sagen,  dass   der  Rechtswille,   weil   er   auf  die  Be- 


Das  Problem  des  zukOnftigen  Willens.  178 

dingung  angewiesen  ist,  als  ein  Doppelwille  sich  darstellt.  Wenn 
selbst  das  Rechtssubjekt  noch  nicht  geboren  ist,  auf  welches  der 
Rechtswille  sich  bezieht,  so  besteht  es  doch  schon  in  dieser  Be- 
ziehung, in  dieser  Bedingung;  und  ohne  dass  es  in  diese  Bedingung 
eingefügt  wäre,  könnte  der  Rechtswille  in  der  wollenden  Person 
nicht  wirklich  werden.  Die  Bedingung  bedingt  daher  nicht 
etwa  nur  Dinge,  sondern  ebenso  genau  die  Person  des 
Rechtsgeschäftes;  sie  bedingt  den  Rechtswillen. 

Nun  hat  man  aber  eine  Schwierigkeit,  weil  eine  Ausnahme 
darin  gefunden,  dass  einer  Willenserklärung,  wie  man  sich 
auszudrücken  pflegt,  eine  Bedingung  hinzugefügt  wird;  als 
ob  eine  Willenserklärung  zu  denken  wäre,  welche  ohne  die  wie 
immer  verhüllte  Verknüpfung  mit  einer  Bedingung  bestände. 
Jener  hinzugefügten  Bedingung  hat  man  sodann  ein  Dasein  für 
sich  gegeben;  dadurch  aber  hat  man  den  Willen  zerteilt  und 
fraglich  gemacht.  Es  ist  so  das  Problem  des  zukünftigen 
Willens  entstanden;  als  ob  nicht  aller  Wille  auf  die  Zukunft 
gehen  müsste;  auch  wenn  er  rückwirkend  gemacht  wird. 

Indessen  hat  jene  hinzugefügte  Bedingung  keineswegs  ein 
Dasein  für  sich;  sondern  sie  bildet  mit  der  Willenserklärung 
ein  ununterschiedenes  Ganzes.  Sie  macht  vielmehr  erst  diese 
zu  einem  Ganzen,  nämlich  zu  einer  ganzen  Bedingung,  einer 
ganzen  Willens-  und  Rechtshandlung.  Es  gibt  eine  klare  Be- 
stätigung für  diesen  logischen  Sachverhalt  im  Rechte.  Die 
Beweislast  trifft  Denjenigen,  der  sich  auf  diese  Willenserklärung 
beruft,  weil,  wer  die  Tatsache  zugibt,  aber  ihre  Bedingtheit 
behauptet.  Eine  Tatsache  zugibt,  nämlich  die  des  bedingten 
Willens.    Der  bedingte  Wille  ist  der  Wille. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  diese  Einsicht  dahin  auszudehnen, 
dass  der  bedingte  Wille  schlechthin  als  der  Wille  erkannt  wird. 
Es  gibt  keinen  andern  Willen  als  den  bedingten 
Willen.  Die  hinzugefügte  Bedingung  macht  diesen  Sachverhalt 
nur  deutlich;  aber  sie  bildet  keineswegs  einen  Ausnahmefall. 
Aller  Wille,  alle  Handlung  ist  bedingt;  ist  Bedingung.  Die  Be- 
dingung ist  die  Seele,  wie  des  Urteils  der  Erkenntniss,  so  des 
Urteils  des  Willens. 

Diese  Bestimmung  wird  von  durchschlagender  Bedeutung 
werden   müssen   für   den  Begriff  des  reinen  Willens.    Denn 


174  Einheit,  Einzelheit  und  Allheit. 

es  erhebt  sich  hier  sogleich  die  Frage,  wodurch  denn  der 
reine  Wille,  wodurch  die  Handlung  bedingt  werden  könne,  so 
dass  sie  ihre  Reinheit  nicht  einbüsse,  sondern  vielmehr  darin 
begründe.  Wir  lassen  diese  Frage  laut  werden;  aber  wir  gehen 
hier  ihrer  Beantwortung  noch  nicht  nach.  Wir  verfolgen  vor^ 
erst  noch  eine  andere  Verknüpfung  mit  dm  Denken;  mit  einem 
Grundbegriffe  des  reinen  Denkens,  welche  die  Handlung  und 
der  Wille  einzugehen  haben.  Es  ist  dies  die  Verbindung  mit 
dem  Begriffe  der  Einheit. 

Schon  in  der  Einleitung  haben  wir  die  Betrachtung  darauf 
gerichtet,  dass  die  Handlung  die  Einheit  der  Handlung  zu  be- 
deuten hat.  Einheit  ist  das  letzte  Ziel,  welches  der  Ethik  ge- 
steckt sein  muss.  Um  Einheit  der  Person  muss  es  sich  im 
letzten  Grunde  handeln ;  also  um  Einheit  des  Willens  und  Ein- 
heit der  Handlung.  Die  Einheit  der  Handlung  ist  nicht 
nur  für  die  Nachahmung  der  Weltgeschichte  auf  den  Brettern, 
die  die  Welt  bedeuten,  eine  aesthetische  Grundforderung.  Nun 
aber  kann  man  an  dem  dramatischen  Beispiele  die  Relativität 
dieses  Begriffs  der  Einheit  sich  vergegenwärtigen.  Fordert  sie 
einen  Tag,  oder  ein  Jahr,  oder  ein  Jahrzehnt?  Ist  die  Einheit 
nicht  vielmehr  ein  geistiges  Band,  welches  unabhängig  vom 
Kalender  sich  zu  schlingen  vermag? 

Eine  wichtige  Aenderung  in  der  Tafel  der  Kategorieen 
welche  die  Logik  der  reinen  Erkenntniss  versucht  hat,  war  die 
Streichung  des  Urteils  der  Einheit.  Denn  diese  Einheit, 
welche  auch  Kant  festhielt  und  auszeichnete,  ist  vielmehr 
Einzelheit.  Und  die  Einzelheit  gehört  in  das  Urteil  der 
Mehrheit.  Auch  Mehrheit  ist  Einheit;  aber  als  Mehrheit 
gleichsam  in  ihrer  Summe,  nicht  in  einem  Summanden. 
Schärfer  und  deutlicher  prägt  sich  die  Einheit  in  der  Allheit 
aus;  wenn  wir  ganz  von  dem  Urteile  der  Realität  hier  absehen 
wollen.  Die  Allheit  macht  die  Einheit  praegnant;  denn  sie  ist 
unabhängig  von  der  Abzählbarkeit  ihrer  einzelnen  Glieder. 
Und  wir  haben  schon  in  der  Logik  auf  das  juristische  Beispiel 
der  U  n  i  V  e  r  s  i  hingewiesen,  die  von  der  Summe  der  Einzelnen 
zu  unterscheiden  sind.  Wir  werden  später  auf  dieses  ungemein 
wichtige  Beispiel  zurückkommen. 


Die  Einheit  der  Rechtshandlung.  175 

Jetzt  gilt  es  zu  erkennen  und  durchzuführeuf 
dass  die  Allheit  die  wahre  Einheit  bildet;  dass  es  daher 
ein  starkes  Vorurteil  ist,  die  Einheit  nur  in  der  Einzelheit  an- 
erkennen zu  wollen.  Und  man  kommt  so  zu  der  allgemeinern 
Einsicht:  dass  die  Einheit  eine  Kategorie  ist,  welche  nicht  einem 
Urteile  entsprechen  kann,  weil  sie  die  logische  Art  des  reinen 
Denkens  überhaupt  kennzeichnet.  Es  ist  schon  nicht  ganz 
genau,  wenn  man  sie  unseren  drei  Urteilen  der  Mathematik 
substruiert;  denn,  wie  wir  es  hier  einsehen,  sie  gehört  nicht 
minder  auch  dem  Urteile  der  Bedingung  an,  und  erst  in  der 
Bedingung  kommt  sie  zu  ihrer  vollen  Entfaltung,  zu  ihrer 
wahrhaften  Bedeutung  und  Kraft.  Worin  besteht  der  tiefste 
Sinn  der  Bedingung?  Wenn  man  so  fragt,  so  geht  die  Frage 
eben  auf  die  Einheit,  als  den  letzten  und  eigentlichen  Sinn  und 
Inhalt  der  Bedingung.  Und  diesen  Sinn  der  Bedingung  legt  der 
Rechtswille  und  die  Rechtshandlung  dar. 

Wie  wir  die  Bedingung  als  den  logischen  Charakter  des 
Willens  und  der  Handlung  im  Rechte  bezeichnet  haben,  so 
haben  wir  dies  demgemäss  auch  mit  der  Einheit  zu  tun. 
Einheit  der  Handlung  ist  Grundforderung  des  Rechts.  Aber 
man  darf  diese  Einheit  der  Handlung  nicht  materiell  auf  den 
einen  Tag  beschränken,  wie  nach  dem  römischen  Testament 
die  Unterschriften  und  Siegel  des  Testators  und  der  Zeugen  an 
einem  und  demselben  Tage  erfolgt  sein  müssen.  Nicht  dieser 
eine  Tag  bildet  das  erschöpfende  Beispiel  für  den  Begrifi  der 
Einheit  der  Handlung;  sondern  diese  fasst  ebenso  auch  die 
Errichtung  des  Testaments  mit  dem  Antritt  der  Erbschaft  durch 
den  rechtmässigen  Erben  in  die  Einheit  der  Willenshand- 
lung zusammen. 

Auf  eine  so  weite  Strecke  sieht  der  Wille  hinaus ;  und  es 
besteht  keineswegs  die  Gefahr,  dass  er  sich  dabei  verlieren 
könnte,  sondern  in  diesem  Hinaussehen  und  Hinausgehen  über 
den  jeweiligen  Moment  vermag  sich  erst  der  Wille  zu  vollziehen, 
die  Handlung  zu  erfüllen.  Die  Einheit  der  Handlung  voll- 
zieht sich  nicht  in  einem  einzelnen  Ansatz;  sondern  in 
Reih  und  Glied  erst  bildet  sie  sich.  Sie  setzt  eine  Mehrheit 
von  Ansätzen,  gleichsam  von  Handreichungen  voraus.  Es  ist 
nicht  eine   Hand,  welche  eine  Handlung  auszuüben  vermöchte; 


176  Der  bedingte  Wille 


es  müssen  sich  dazu  vielmehr  Hände,  das  will  sagen,  Begriffe 
in  Verbindung  setzen.  Und  in  dieser  Verbindung  erst,  welche 
innigste  Verknüpfung  sein  muss,  kann  die  Einheit  entstehen, 
die  Einheit  der  Handlung,  die  Einheit  des  WoUens. 

Nachdem  wir  so  die  Bedeutung  der  Bedingung  und 
der  Einheit  für  den  Rechtswillen  und  die  Rechtshand- 
lung betrachtet  haben,  können  wir  nunmehr  auf  die  allgemeine 
Bedeutung  dieser  Begriffe  für  den  reinen  Willen  eingehen.  Und 
wenn  wir  dabei  jetzt  schon  auf  die  obige  Frage  zurückgreifen, 
wodurch  der  reine  Wille  bedingt  sein  könne,  so  kann  uns  diese 
Frage  nicht  irremachen.  Es  kann  uns  nicht  das  Bedenken 
schwer  werden,  als  ob  der  Wille  die  Reinheit  verlieren  müsste, 
wenn  er  als  bedingt  erkannt  werden  muss.  Denn  er  wird  ja 
nicht  durch  etwas  Anderes  ausserhalb  seiner  selbst  bedingt;  er 
wird  vielmehr  als  Bedingung  erkannt.  Seine  logische  Struktur 
wird  durch  die  Bedingung  beschrieben  und  gezeichnet 

Wir  brauchen  also  auch  gar  nicht  hier  die  Frage  zu 
stellen  nach  dem  Begriffe,  welcher  die  Bedingung  in  der  Neben- 
bedeutung des  Umstandes  enthält.  Dieser  Begriff  würde  das 
stets  zu  ergänzende  Vorderglied  des  Bedingungssatzes  bilden,  in 
dem  jedes  Willensurteil  sich  aufbaut.  Es  kann  kein  Zweifel 
darüber  aufkommen,  dass  in  dieser  Umstandsbedingung  kein 
fremdes,  kein  unreines  Element  in  den  Bedingungswillen  hinein- 
getragen werden  darf.  Um  nicht  mehr  an  dieser  Stelle  zu 
anticipieren,  mag  es  genügen,  auf  das  juristische  Beispiel  hinzu- 
weisen, dass  kein  Vertrag  gegen  die  guten  Sitten  Verstössen 
darf.  Diese  bilden  das  stillschweigend  stets  zu  supplierende 
Bedingungsmoment.  Aber  es  ist  hier  noch  garnicht  nötig,  auf 
die  Bedingung  in  dieser  abgeschwächten  Bedeutung  Rücksicht 
zu  nehmen.  Es  kommt  vielmehr  vor  Allem  darauf  an,  das 
Vorurteil  zu  beseitigen,  als  ob  der  absolute  Wille  der  reine 
wäre,  und  der  bedingte,  der  relative  ein  unreiner  Wille  sein 
müsste,  und  dass  es  ebenso  auch  sich  bei  der  Handlung  ver- 
hielte.   Das  Umgekehrte  ist  der  Fall. 

Der  Unterschied  des  reinen  Willens  von  der  Be- 
gehrung lässt  sich  an  der  Bedingung  genauer  feststellen. 
Die  Begehrung  ist,  als  ein  Akt  des  Bewusstseins,  nicht  bedingt 
durch  einen  andern   Gegenstand    als  derjenige  ist,   auf  den  sie 


Die  Handlung  als  Bedingung.  177 


unmittelbar  losstürmt.  Auf  diesen  ist  sie  fixiert  und  isoliert. 
Der  reine  Wille  ist  eben  durch  die  Reinheit  bedingt.  Er  ist  durch 
sie  abgezogen  und  abgelöst  von  jenem  unmittelbaren  Gegenstande, 
an  den  der  Trieb  geheftet  ist.  Dieser  Gegenstand  ist  der  absolute 
Gegenstand  für  den  Trieb,  der  selber  auch  in  ihm  absolut  wird. 
Für  den  Willen  gibt  es  keinen  Gegenstand,  der  als  solcher  absolut 
wäre.  Jeder  Gegenstand  des  reinen  Willens  muss  aufgelöst 
werden;  muss  in  Handlung  aufgelöst  werden. 

Was  ist  denn  der  letzte  Sinn  dieser  Unterscheidung  zwischen 
dem  Gegenstande  und  der  Handlung  für  den  Begriff  des  reinen 
Willens?  Hier  wird  der  Unterschied  in  seiner  methodischen 
Bedeutung  einleuchtend.  Es  soll  keinen  Inhalt  des  reinen 
Willens  geben,  der  als  Gegenstand,  als  absoluter  Gegen- 
stand beglaubigt  wäre.  Ein  absoluter  Gegenstand  mag  immer- 
hin für  die  Erkenntniss  denkbar  sein;  sie  hat  es  mit  Gegen- 
ständen zu  tun.  Für  den  reinen  Willen  gibt  es  keine  Gegenstände 
an  sich,  sondern  nur  Handlung.  In  der  Ethik  gibt  es 
keine  Dinge  und  keine  Gegenstände;  die  Handlung 
allein  bildet  hier  das  Problem  des  Inhalts  und  des 
Gegenstands. 

Diese  grundsätzliche  Bedeutung  der  Handlung  wird  durch 
die  Bedingung  klargestellt  und  sichergestellt.  Der  reine  Wille 
ist  der  bedingte  Wille;  nämlich  der  durch  die  Reinheit  bedingte 
Wille.  Denn  er  ist  Handlung,  und  er  hat  keinen  andern  Inhalt; 
und  er  geht  auf  keinen  andern  Inhalt  als  auf  die  Handlung.  Die 
Handlung  aber  ist  Bedingung.  Wie  heissen  die  Glieder,  in 
denen  diese  Bedingung  sich  errichtet? 

Wir  brauchen  diese  Glieder  hier  nicht  zu  benennen;  wir 
brauchen  die  Consequenzen  nicht  vorwegzunehmen,  welche  aus 
dem  Begriffe  des  reinen  Willens  herfliessen.  Wir  dürfen  uns  auf 
die  Definition  beschränken,  welche  in  den  Momenten,  in  den 
Merkmalen  des  reinen  Willens  zu  vollziehen  ist.  Daher  können 
wir  auf  die  Frage,  wodurch  der  reine  Wille  bedingt  sei,  lediglich 
antworten:  durch  die  Reinheit.  Und  um  dies  zu  verstehen, 
genügt  es  an  dieser  Stelle,  den  Unterschied  zwischen  Handlung 
und  Gegenstand  durchzudenken.  Der  reine  Wille  ist  durch  die 
Handlung  bedingt.  Und  die  Handlung  ist  bedingt.  Das  wird  in 
der  exemplarischen  Handlung  des  Rechtsgeschäftes  unzweifelhaft. 

12 


178  Der  absolute  Gegenstand. 

Und  auf  Grund  dieses  Exempels  vermag  die  Ethik  es  klar  und 
eindringlich  festzustellen. 

So  wird  es  sich  zeigen,  dass  es  gerade  umgekehrt  heraus- 
kommt, als  die  Gegner  des  reinen  Willens  es  darzustellen  pflegen. 
Sie  meinen,  durch  die  dürre  Spekulation  der  idealistischen  Ethik 
werde  ein  absolutes  Gut  aufgestellt,  während  die  gereifte  Ansicht 
der  Erfahrung  vor  einem  solchen  Hemmniss  des  geschichtlichen 
moralischen  Urteils  warnen  müsse.  Es  mag  ein  höchstes  Gut 
allenfalls  geben.  Dabei  verträgt  man  sich  mit  der  Religion, 
mit  der  man  vor  Allem  es  nicht  verderben  dürfe.  Die  idealistische 
Ethik  dagegen,  die  in  ihrem  Idealismus  souverän  zu  sein  sich 
dünkt,  sie  dürfe  man  um  so  ungefährdeter  zurückschlagen;  und 
so  wird  es  zur  Parole,  das  Gespenst  eines  absoluten  Gutes,  des 
absoluten  reinen  Willens  nach  Gebühr  zu  verspotten.  Denn 
welche  Anmassung  ist  es,  gegenüber  dem  reichen  und  so  bunten 
Wechsel  der  geschichtlichen  Erfahrung  mit  seinen  imposanten 
Dramen  und  den  mächtigen  freien  Schauspielern  auf  der  Bühne 
der  Weltgeschichte  von  einem  absoluten,  also  unwandelbaren 
Inhalte  eines  reinen,  absoluten,  den  Umständen  und  Mächten 
der  Welt  gegenüber  selbständigen  Willens  immerfort  noch  zu 
fabeln. 

Umgekehrt  aber  stellt  es  sich  heraus.  Der  reine  Wille  ist 
keineswegs  der  absolute  Wille  in  jenem  falschen  Sinne  des 
Absoluten,  welches  das  allgemeine  und  in  sich  selbständige  Sein 
bedeutet.  Jenes  Sein  der  absoluten  Substanz,  welches  die  Logik 
bereits  vernichtet  hat,  wird  nun  auch  in  der  Ethik  illusorisch 
und  eitel.  Es  handelt  sich  nicht  um  ein  SQlches  verödetes  Sein; 
es  handelt  sich  um  das  Sein  der  Handlung;  um  das  Sein, 
welches  erst  in  der  Handlung  zur  Entstehung  kommt. 
Und  die  Handlung  müsste  im  günstigsten  Falle  in  Bewegung 
verkehrt  werden,  wenn  sie  übrigens  auch  bei  schlechter  Auf- 
fassung der  Bewegung  als  ein  absolutes  Sein  gedacht  werden 
könnte.  Die  Handlung  ist  Bedingung.  Und  in  solcher  Bedingung 
allein  besteht  auch  ihr  Inhalt,  ihr  Gegenstand.  Sie  hat  keinen 
andern  Inhalt,  und  keinen  andern  Gegenstand,  als  welcher  in 
ihr  selbst  besteht,  und  sich  vollzieht.  Es  gibt  für  den  Willen 
keinen  andern  Gegenstand,  und  also  keinen  absoluten  Gegenstand 
als  die  Handlung  selbst,  welche  Bedingung  ist. 


Das  Problem  des  zukünftigen  Willens.  178 

dingung  angewiesen  ist,  als  ein  Doppelwille  sich  darstellt.  Wenn 
selbst  das  Rechtssubjekt  noch  nicht  geboren  ist,  auf  welches  der 
Rechtswille  sich  bezieht,  so  besteht  es  doch  schon  in  dieser  Be- 
ziehung, in  dieser  Bedingung;  und  ohne  dass  es  in  diese  Bedingung 
eingefugt  wäre,  könnte  der  Rechtswille  in  der  wollenden  Person 
nicht  wirklich  werden.  Die  Bedingung  bedingt  daher  nicht 
etwa  nur  Dinge,  sondern  ebenso  genau  die  Person  des 
Rechtsgeschäftes;  sie  bedingt  den  Rechtswillen. 

Nun  hat  man  aber  eine  Schwierigkeit,  weil  eine  Ausnahme 
darin  gefunden,  dass  einer  Willenserklärung,  wie  man  sich 
auszudrücken  pflegt,  eine  Bedingung  hinzugefügt  wird;  als 
ob  eine  Willenserklärung  zu  denken  wäre,  welche  ohne  die  wie 
immer  verhüllte  Verknüpfung  mit  einer  Bedingung  bestände. 
Jener  hinzugefügten  Bedingung  hat  man  sodann  ein  Dasein  für 
sich  gegeben;  dadurch  aber  hat  man  den  Willen  zerteilt  und 
fraglich  gemacht.  Es  ist  so  das  Problem  des  zukünftigen 
Willens  entstanden;  als  ob  nicht  aller  Wille  auf  die  Zukunft 
gehen  müsste;  auch  wenn  er  rückwirkend  gemacht  wird. 

Indessen  hat  jene  hinzugefügte  Bedingung  keineswegs  ein 
Dasein  für  sich;  sondern  sie  bildet  mit  der  Willenserklärung 
ein  ununterschiedenes  Ganzes.  Sie  macht  vielmehr  erst  diese 
zu  einem  Ganzen,  nämlich  zu  einer  ganzen  Bedingung,  einer 
ganzen  Willens-  und  Rechtshandlung.  Es  gibt  eine  klare  Be- 
stätigung für  diesen  logischen  Sachverhalt  im  Rechte.  Die 
Beweislast  trifft  Denjenigen,  der  sich  auf  diese  Willenserklärung 
beruft,  weil,  wer  die  Tatsache  zugibt,  aber  ihre  Bedingtheit 
behauptet.  Eine  Tatsache  zugibt,  nämlich  die  des  bedingten 
Willens.    Der  bedingte  Wille  ist  der  Wille. 

Es  kommt  nun  darauf  an,  diese  Einsicht  dahin  auszudehnen, 
dass  der  bedingte  Wille  schlechthin  als  der  Wille  erkannt  wird. 
Es  gibt  keinen  andern  Willen  als  den  bedingten 
Willen.  Die  hinzugefügte  Bedingung  macht  diesen  Sachverhalt 
nur  deutlich;  aber  sie  bildet  keineswegs  einen  Ausnahmefall. 
Aller  Wille,  alle  Handlung  ist  bedingt;  ist  Bedingung.  Die  Be- 
dingung ist  die  Seele,  wie  des  Urteils  der  Erkenntniss,  so  des 
Urteils  des  Willens. 

Diese  Bestimmung  wird  von  durchschlagender  Bedeutung 
werden    müssen   für   den  Begriff  des  reinen  Willens.    Denn 


180  Das  Subjekt  und  die  Allheit. 


griff  des  reinen  Willens,  wie  er  in  der  Einheit  der  Handlung 
ciilminiert,  zugleich  in  Bezug  auf  den  Urheber  der  Handlung 
einen  neuen  Begriff  der  Einheit  ergibt. 

Wir  wissen  von  der  Einleitung  her,  dass  es  der  zw^eideutige 
Begriff  des  Individuums  ist,  mit  dem  alles  Bewusstsein  von 
Anfang  an  ringt,  und  in  allen  Fragen  der  Religion  und  Sittlichkeit, 
wie  in  allen  Problemen  der  Politik  und  der  Weltgeschichte  zu 
ringen  hat.  Und  wir  hatten  von  vornherein  auf  die  Rechts- 
wissenschaft und  auf  die  Staatslehre  demgemäss  den  Blick  ge- 
richtet, dass  sie  besser  als  die  Religion  es  vermocht  haben,  kraft 
ihrer  wissenschaftlichen  Methodik,  die  Zweideutigkeiten  in  dem 
Begriffe  des  Individuums  zur  Auflösung  zu  bringen.  So  sehen 
wir  es  nun  schon  an  dieser  Stelle,  an  der  der  Begriff  des  Sub- 
jektes noch  gar  nicht  herausgetreten  ist,  wie  schon  der  juris- 
tische Begriff  der  Einheit  der  Handlung  die  Einheit  des  Indivi- 
duums zur  Unterscheidung  bringt  von  der  Einzelheit  desselben. 
Die  Einheit  der  Handlung,  also  die  Einheit  des  WoUens  setzt 
mehr  voraus  als  bloss  das  scheinbare  Individuum,  welches  will 
und  handelt.  Dieses  einzelne  Individuum  vermag  nicht  zu 
wollen,  noch  zu  handeln;  es  kann  nur  begehren  und  tun.  Dieses 
einzelne  Individuum  muss  erst  befreit  und  erlöst  werden  von 
den  Schranken  seiner  Einzelheit,  um  wollen  und  handeln  zu 
können.  Denn  Wollen  und  Handeln  erfordert  Einheit,  wie  Be- 
dingung. Und  Einheit  ist  nicht  Einzelheit.  Einheit  ist  auch 
nicht  Mehrheit;  denn  Mehrheit  ist  die  Mehrheit  der  Einzelheiten. 

Um  Allheit  handelt  es  sich,  wie  wir  es  in  der  Einleitung 
bereits  als  das  Problem  aufgestellt  und  bezeichnet  haben,  bei 
dem  neuen  Begriffe  der  Einheit,  den  die  Ethik  zu  finden,  den 
der  reine  Wille  zu  ermitteln  und  zu  ergeben  hat.  Diese  Einheil 
des  reinen  Willens  hat  die  Handlung  in  ihrer  Einheit  zu  voll- 
ziehen. Und  wir  werden  später  zu  sehen  haben,  wie  sie  sich 
dabei  in  letzter  Instanz  der  Allheit  bedient.  Aber  es  ist  instruktiv 
schon  in  der  Einheit  der  Handlung  und  des  Willens  zu  erkennen, 
wie  sie  daraufhin  gerichtet  sind,  die  Einheit  des  Subjekts  zum 
Problem  zu  machen. 

So  weit  haben  wir  in  den  vorstehenden  Erwägungen  gleich- 
sam die  Vergeistigung  des  Willens  geführt;   seinen   notwendigen 


Gesang  und  Sprache.  181 


innerlichsten  Zusammenhang  mit  dem  reinen  Denken  dargelegt. 
Jetzt  gilt  es,  wieder  auf  die  andere  Seite  zurückzulenken.  Aber 
wir  werden  sehen,  dass  wir  dabei  den  Faden  des  Denkens  nicht 
fallen  zu  lassen  nötig  haben. 

Zu  den  ersten  Mitteln,  welche  der  Bewegungstrieb  ergreift, 
gehört  der  Laut.  Der  Laut  ist  nicht  nur  ein  Mittel,  dessen  der 
Bewegungstrieb  sich  bedient,  um  sich  ins  Werk  zu  setzen; 
sondern  er  ist  der  eminente  Ausdruck,  den  der  Bewegungstrieb 
erfinden  kann,  um  die  Bewegung  als  aus  dem  innersten 
Bewusstsein  fliessend  darzustellen.  Zwar  muss  alle  Art  und 
Form  der  Bewegung  diesem  innersten  Quell  entspringen;  aber 
dieser  Quell  wird  durch  die  gewöhnliche  Muskelbewegung  nicht 
blossgelegt,  sondern  vielmehr  geradezu  verdeckt  und  unkennt- 
lich gemacht.  Im  Laute  dagegen  offenbart  sich  das  Innere; 
drängt  es  sich  hervor,  als  ob  es,  seiner  überdrüssig,  sich  ent- 
äussern wollte.  Der  Laut  ist  der  mächtigste  und  intensivste 
Ausdruck  des  Innern;  das  Zeichen  dafür,  dass  das  Innere  inner- 
halb seiner  Grenzen  sich  nicht  einzuhalten  vermag;  dass  es  in 
das  Aeussere,  in  die  Aeusserung  übergeht.  Diesen  Innern  Zu- 
sammenhang des  Innern  und  des  Aeussern,  den  unser  Begriff 
der  Bewegung  überhaupt  darlegt,  macht  der  Laut  besonders 
deutlich.  Der  Laut  ist  daher  nicht  nur  ein  Aeusseres,  sondern 
ein  Aeusseres  des  Innern;  und  in  so  eminenter  Weise,  dass  er 
als  das  Aeussere  des  Innern  bezeichnet  werden  kann.  Er  voll- 
zieht und  bezeugt  die  notwendige  Correlation  des  Innern  und 
des  Aeussern. 

Dies  gilt  von  dem  Laute  überhaupt,  von  der  Lautbewegung. 
Sie  ist  die  Voraussetzung,  aber  noch  nicht  der  unmittelbare  An- 
fang der  Sprache.  Wir  stimmen  der  Ansicht  zu,  dass  der  Ge- 
sang der  Sprache  vorausgeht.  Im  Singen  ertönt  unmittelbar  das 
Innere,  insofern  es  ohne  allen  besondern  Inhalt  sich  zu  entfalten 
ringt.  Was  das  Innere  ohne  besondern  Inhalt  sei,  das  scheint 
ein  Rätsel.  Wir  werden  dieses  Rätsel  aber  alsbald  auflösen 
können;  jetzt  werde  es  als  solches  ruhig  festgehalten.  Im  Singen 
drängt  sich  das  Innere  zur  Bewegung  und  zur  Aeusserung,  ohne 
dass  ein  distinkter  Inhalt  zum  Ausdruck  kommen  soll.  Für  die 
elementarste  Form  des  Singens,  die  noch  nicht  über  die  Ab- 
stufung der  Töne  verfügen  mag,   darf  von  einer  Distinktion  des 


182  Wort  und  Satz. 

Inhalts  gänzlich  abgesehen  werden.  Nur  Bewegung  soll  im 
Jauchzen  und  im  Klagelaut  hervorbrechen. 

Anders  liegt  es  bei  der  Sprache.  In  ihr  wird  der  Laut  zum 
Worte.  Der  Unterschied  zwischen  Laut  und  Wort  besteht 
kurz  darin,  dass  der  Laut  ein  isoliertes  Zeichen  ist,  das  Wort 
dagegen  niemals  als  ein  einzelnes  gedacht  werden  darf.  Es  ist, 
wenn  es  allein  steht,  doch  immer  nur  die  Abbreviatur  eines 
Satzes.  Das  ist  der  Grundbegriff  des  Wortes:  dass  es  das  Ele- 
ment des  Satzes  ist.  Als  solches  aber  ist  es  ein  Begriff.  Denn 
auch  der  Begriff  ist  die  Abbreviatur  des  Urteils.  So  gehören 
Wort  und  Begriff,  Sprache  und  Denken  zusammen. 

Es  ist  ein  Irrtum  zu  meinen,  dass  zuerst  Worte  da  wären, 
welche  zu  Sätzen  sich  verbänden.  Ohne  die  Urteilsfügung  des 
Satzes  gibt  es  nicht  Worte,  sondern  nur  Laute.  Das  Gefüge  des 
Satzes  stabiliert  den  Laut  kraft  des  Begriffs  und  als  Begriff  zum 
Worte.  Es  ist  wiederum  reines  Denken,  welches  hier  operiert. 
Zugleich  aber  ist  es  Bewegung,  mit  welcher  sich  dieses  Denken 
innerlichst  verbindet.  Diese  Verbindung  des  Innern  und 
des  Aeussern  stellt  die  Sprache  dar. 

So  unterscheidet  sie  sich  in  ihren  Wortgebilden  von  den 
Lautgebärden.  Die  letzteren  vollziehen  nur  den  Uebergang 
des  Innern  zum  Aeussern  und  stellen  diesen  Uebergang  dar.  Bei 
der  Sprache  hingegen  lässt  sich  nicht  mehr  von  einem  Ueber- 
gang reden;  da  sind  die  beiden  Glieder,  an  welchen  der  Ueber- 
gang verläuft,  gar  nicht  mehr  zu  unterscheiden;  das  Aeussere  ist 
ein  Inneres,  und  nichtsdestoweniger  ist  das  Innere  zum  Aeusseren 
geworden.  Das  Wort  ist  Wort  des  Satzes,  ist  Begrifl;  und  denn- 
noch  ist  das  Begriffswort  zugleich  ein  Laut.  Man  darf  vielleicht 
sagen:  spräche  die  Seele  nicht,  so  wüssten  wir  nicht,  wie  die 
Seele  sich  darstellen  könnte. 

So  erkennen  wir  denselben  Zusammenhang  zwischen  der 
Bewegung  und  dem  Denken,  der  bisher  im  reinen  Wollen  zur 
Darstellung  kam,  nun  auch  in  der  Sprache,  und  noch  deutlicher 
in  ihr.  Das  hat  natürliche  Gründe;  denn  es  besteht  eine  not- 
wendige Verbindung  zwischen  dem  Wollen  und  der  Sprache. 
Es  ist  nur  eine  Stufe  der  Abstraktion,  als  welche  der 
Wille  und  die  Handlung  ohne  Berücksichtigung  der 
Sprache  zulässig  ist.    Wir  haben  aber  nunmehr  zu  betrachten. 


Die  Ausgestaltung  des  Begriffs  und  des  Affekts.  183 


wie  diese  Stufe  übergeht  in  die  andere  der  sprachlichen  Willens- 
handlung. Das  praeciseste  Mittel,  durch  welches  der  Wille  in  der 
Handlung  sich  betätigt  und  sich  bezeugt,  das  ist  der  sprachliche 
Ausdruck. 

Dieser  Satz  könnte  Bedenken  erregen;  man  könnte  meinen, 
dass  der  evidenteste  Ausdruck  des  Willens  doch  vielmehr  in  der- 
jenigen Richtung  der  Handlung  liege,  welche,  als  Tat,  eine  Ver- 
änderung in  der  Aussenwelt  herbeiführt.  Eine  solche  Veränderung 
in  der  Aussenwelt  wird  doch  durch  die  Sprache  an  sich  nicht 
vollzogen;  in  ihr  führt  sich  doch  nur  die  Ausspinnung  und  Aus- 
gestaltung des  Innern  fort.  Wie  kann  es  nun  zu  denken  und  zu 
rechtfertigen  sein,  dass  dennoch  in  der  Sprache  der  evidenteste 
Ausdruck  der  Willenshandlung  liegen  solle? 

Der  Einwand  beruht  auf  einer  Verwechselung  der  Handlung 
mit  der  Tat.  Die  Tat  bedarf  der  Tatsache,  um  in  ihr  kenntlich 
zu  werden;  um  sich  als  solche  zu  vollziehen.  Die  Handlung 
dagegen  ist  von  diesem  äusseren  Erfolge  unabhängig.  Die  Folge, 
welche  sich  aus  dem  Willen  für  die  Aussenwelt  ergibt,  gehört 
nicht  mehr  zum  Willen.  Es  wäre  aber  falsch,  darum  den  Willen 
etwa  auf  die  blosse  Absicht  und  Gesinnung  einzudämmen; 
denn  damit  würde  auch  die  Handlung  vom  Willen  abgeschnitten. 
Die  Handlung  gehört  zum  Willen;  der  Erfolg  dagegen 
in  der  Aussenwelt  gehört  nicht  mehr  zur  Handlung, 
darum  also  auch  nicht  zum  Willen. 

So  ergibt  es  sich  aus  dem  Begriffe  der  Handlung,  dass 
genauer  als  durch  irgend  eine  tätsächliche  Veränderung  in  der 
Aussenwelt  der  Wille  in  der  Sprache  sich  bezeugt.  Die  Sprache 
ist  nicht  lediglich  eine  Tatbewegung  in  der  Aussenwelt,  sondern 
vielmehr  vorzugsweise  eine  Handlung,  und  zwar  in  doppelter 
Richtung;  nämlich  eine  Handlung  vermittelst  des  Denkens  an 
und  für  sich,  eine  Erzeugung  und  Ausgestaltung  des  Begriffs; 
dann  aber  auch  eine  Vollziehung  und  Ausgestaltung  des 
Affekts  vermittelst  des  Begriffs  zum  Willen. 

So  lange  der  Affekt  wortlos  bleibt,  verbleibt  er  im  Chaos 
und  Ungestüm  des  Triebes  und  der  Begierde.  Man  kennt  es 
schon  aus  der  Erfahrung,  welche  Hilfe  es  im  Zorne  und  im 
Schmerze,  den  Formen  des  Affekts  in  der  gewöhnlichen  Bedeutung 
desselben,   gewährt,   wenn  es  zum  Ausdruck  im  Worte  kommen 


184  Die  Rechtsformeln. 


kann.  Der  Dichter  preist  es  als  seinen  Vorzug,  dass  Gott  es  ihm 
gegeben  habe,  zu  sagen,  was  er  leide.  Der  Wille  erhebt  sich 
durch  den  sprachlichen  Ausdruck  vorzugsweise  über  den  Trieb 
und  die  Begierde.  Es  ist  kein  Wille,  der  sich  nicht  in  der 
Handlung  der  Sprache  zur  Klarheit  gebracht  hätte.  Es  ist  nur 
ein  Schein,  dass  man  auch  ohne  das  Wort  wollen  könnte;  dass 
es  ein  Wollen  gäbe,  welches  nicht  in  der  Sprache  des  Satzes  und 
des  Urteils  sich  entfaltet  hätte. 

Es  beruht  dies  nur  auf  einer  Verwechselung  von  stillem 
und  lautem  Sprechen.  Der  Sprachlaut  braucht  nicht  in  der 
äusseren  Luftbewegung  zur  Darstellung  gekommen  zu  sein;  darum 
hat  die  Sprache  doch  stattgefunden.  Neuere  Forschungen  haben 
es  an  Erscheinungsweisen  der  Aphasie  klargestellt,  wie  Aiel- 
seitig  die  Mittel  sind,  deren  sich  die  Sprache  bedienen  kann,  um 
in  Handlung  überzugehen.  Der  Wille  kann  niedergeschrieben 
werden;  ist  er  dann  w^eniger  ausgesprochen?  Aber  auch  wenn 
es  nicht  zur  Fixierung  in  der  Schrift  kommt,  wenn  der  Gedanke 
nur  in  den  Sprachbildern  des  Begriffs  sich  auseinanderlegt,  so 
bewährt  sich  auch  darin  die  Correlation,  die  unausweichliche, 
zwischen  Sprache  und  Denken,  zwischen  Wort  und  Be^jriff.  So 
dürfen  wir  es  ohne  Einschränkung  aussprechen,  dass  es  ohne 
Sprache  kein  Wollen  gibt.  Die  Sprache  kann  dabei  abgekürzt 
erscheinen;  aber  in  der  Verkürzung  selbst  muss  sie  noch  in  der 
Praegnanz  der  Sprache  wirken,  wenn  der  Wille  nicht  zum  Rudi- 
ment des  Triebes  entarten  soll;  wenn  er  in  der  allein  legitimen 
Handlung  sich  zu  bezeugen  vermag. 

Dieser  Zusammenhang  von  Willen  und  Sprache  wird  durch 
das  Recht  zu  lehrreicher  Deutlichkeit  gebracht.  Unter  allen 
Formen,  auf  welche  das  Recht  dringt,  ohne  deren  Wahrung  und 
genaue  Darstellung  die  Rechtsgeschäfte  als  solche  nicht  vollzieh- 
bar werden,  steht  das  Wort  obenan.  Der  Rechtswille  muss 
daher  in  bestimmten,  vorgeschriebenen  Worten  ausge- 
sprochen  werden.  Es  ist,  als  ob  durch  die  Formeln,  an  w^elche 
das  Rechtsgeschäft  gebunden  wird,  die  Willenshandlung,  in  der 
die  Rechtshandlung  beruht,  an  die  Aussprache  gebunden  werden 
soll.  Jede  Art  von  Reservatio  mentalis  soll  von  vornherein 
ausgeschlossen  werc^en.  Es  kommt  nicht  darauf  an,  w^as  du  dir 
gedacht   hast;   das   Denken   allein    macht   deinen  Willen    nicht 


Die  Sprachhandlang.  185 


aus.  Wenn  du  willst,  musst  du  deinen  Willen  aussprechen. 
Die  Sprache  erst,  und  sie  allein  vollführt  deinen  Willen.  Darum 
können  Obligationen  nur  durch  Worte  begründet  werden. 
Und  die  Stipulation  ist  ein  Verbal-Contrakt. 

Aber,  wie  gesagt,  es  wird  im  Rechte  nicht  allein  die  Aus- 
sprache im  Worte  gefordert,  sondern  es  wird  auch  die  Aussprache 
im  genau  vorgeschriebenen  Worte  gefordert,  damit  der  begriff- 
lich notwendige  Zusammenhang  zwischen  dem  Willen  und  der 
Sprache  über  jeden  Zweifel  sichergestellt  werde.  Wenn  der 
Wille  in  der  Handlung  sich  vollendet,  so  erkennen  wir 
nunmehr,  dass  diese  Vollendung  in  der  Sprachhandlung 
sich  vollführt. 

Wir  waren  darauf  hier  ausgegangen,  die  andere,  die 
emotionelle  Seite  des  Willens  in  der  Sprache  in  Betracht  zu 
ziehen ;  siehe  da  aber,  wir  haben  nur  um  so  schärfer  die  weitere 
Vergeistigung  daran  erkennen  müssen,  zu  der  der  Wille  in 
der  Sprachhandlung  sich  entwickelt.  Und  die  Reintieit  bewährt 
sich  da  wieder  von  Neuem.  Nicht  von  dem  Erfolge  in  der  Tat 
hängt  der  Wille  ab.  Der  liegt  jenseit  seines  Bereiches  und 
seiner  Competenz.  Was  dagegen  durchaus  zu  ihm  gehört,  was 
keineswegs  eine  Veräusserlichung  seines  inneren  Wesens  ist, 
das  ist  seine  Darstellung  in  der  Sprachhandlung.  Ohne  diese 
Objektivierung  gibt  es  keinen  Willen.  Wenn  anders  der  Wille 
einesteils  auf  dem  Denken  beruht,  so  beruht  er  demgemäss  in 
der  Sprache.  Die  Sprache  stellt  die  Gedanken  in  den  Begriffen, 
daher  in  den  Worten  des  Satzes  auf;  und  ohne  diese  Auf- 
stellung bliebe  der  Wille  im  Halbschlummer  des  Triebes.  Die 
Wachsamkeit,  die  Sonne,  der  Sittentag  des  Willens  gehen  in  der 
Sprache  allein  auf. 

Und  doch  kommt  dieser  Zusammenhang  zwischen  Willen 
und  Sprache  nicht  allein  demjenigen  Anteil  des  Willens  zu 
statten,  der  im  Denken  liegt.  Er  wird  vielmehr  ebenso  sehr 
auch  für  den  Untergrund  des  Affektes  wichtig  und  wirksam. 
Wir  müssen  uns,  wenn  wir  diese  andere  Seite  in  Betracht  ziehen 
wollen,  wieder  auf  die  Erwägungen  zurückbegeben,  welche  für 
das  Gefühl  von  Lust  und  Unlust  anzustellen  waren.  Wir 
wissen,  dass  wir  dieses  Doppelspiel  nicht  als  einen  eigenen 
isolierten  Inhalt  annehmen  dürfen;  dass  dieses  Mischgefühl  viel- 


186  Der  Gefühlsannez  und  das  Gefühlssuffix. 


mehr  einen  notwendigen  Annex  zu  den  verschiedenen  Stufen 
des  inhaltigen  Bewusstseins  bildet.  So  gibt  es  Bewegungs- 
gefühle und  Vorstellungsgefühle;  also  auch  Begehrungs- 
gefühle und  Denkgefühle.  Wenn  nun  aber  der  Wille  eine 
besondere  und  praegnante  Art  des  inhaltigen  Bewusstseins  bildet, 
so  werden  auch  Willensgefühle  anzuerkennen  und  zu  fordern 
sein. 

Woher  sollen  diese  nun  aber  kommen?  Man  darf 
diese  Frage  nicht  so  nehmen,  als  ob  sie  auf  die  einzelnen  Seiten 
und  Elemente  des  Willens  gerichtet  würde.  Die  Frage  geht 
nicht  etwa  dahin,  ob  die  Willensgefühle  aus  der  Bewegung  und 
dem  Affekte,  oder  aber  aus  dem  Denken  herfliessen ;  denn  diese 
Elemente  haben  ihre  eigenen  Gefühlsanhänge,  sie  können  an 
sich  nicht  die  Willensgefühle  ergeben.  Diese  müssen  vielmehr 
selbständig  für  sich  bestehen,  eigene  Resultanten  bilden,  welche 
freilich  jene  elementaren  Gefühlsstufen  zur  Voraussetzung  haben. 
Die  Frage  geht  auf  diese  eigene  Art  der  Gefühlsstufe,  welche  für 
den  Willen  zu  fordern  ist. 

Wir  müssen  hier  Bedacht  nehmen  auf  eine  Unterscheidung, 
die  bei  jener  ersten  Diskussion  über  Lust  und  Unlust  schon 
zum  Vorschein  kam.  Wir  hatten  damals  den  Annex  unter- 
schieden vom  Suffix.  Lust  und  Unlust,  oder  vielmehr  was 
dafür  einzusetzen  wäre  —  wir  hatten  den  Begriff  selbst  nicht 
eingesetzt,  sondern  nur  angegeben,  dass  eine  andere  Bezeichnung 
gesucht  werden  müsse,  was  aber  Sache  der  Psychologie  bleibt 
—  sind  nicht  nur  Anhang,  geschweige  Anhängsel,  sondern  sie 
bilden  ebenso  sehr  einen  notwendigen  Untergrund,  der  nicht 
ausgeschaltet  werden,  der  nicht  versiegen  darf.  Wenn  irgend  ein 
neuer  Vorgang,  und  in  ihm  ein  neuer  Inhalt  auf  irgend  einer 
Stufe  und  Art  des  Bewusstseins  zur  Entstehung  kommen  soll, 
so  muss  dieser  Untergrund  in  stets  neuen  Fluss  kommen. 

Eine  Empfindung  bildet  sich  nicht  etwa  neu  aus  einer 
voraufgehenden  Empfindung,  sondern  zunächst  aus  dem  Em- 
pfindungsgefühl, in  welches  die  voraufgegangene  Empfindung 
eingemündet  war  und  einmünden  musste.  So  ist  demgemäss 
die  jeweilige  Geiühlsstufe  nicht  in  jedem  Sinne  ein  Annex 
nur,  sondern  zugleich  als  Suffix  der  Ausgang  und  der  Quell 
eines  neuen  Inhalts.    Der  Ausdruck  des  Suffixes   bezieht  sich 


Das  Willensgefühl.  187 


sonach  vorgreifend  auf  diesen  neuen  Inhalt,  dessen  Untergrund 
er  bildet. 

Nun  haben  wir  aber  ferner  zu  bedenken,  dass  alle  Arten 
und  Stufen  des  inhaltigen  Bewusstseins  mit  diesen  Gefühlsannexen, 
die  zugleich  Gefühlssuffixe  sind,  nicht  nur  eine  jede  für  sich 
behaftet  bleiben;  sondern  dass  alle  diese  verschiedenen  Gefühls- 
suffixe in  Gegenwirkung  und  Mitwirkung  miteinander  treten. 
Auf  dieser  complizierten  Mitwirkung  der  verschieden- 
artigen Gefühlssuffixe  beruht  die  Eigenart,  in  der 
wir  das  Willensgefühl  zu  suchen  und  zu  erkennen 
haben. 

Wir  waren  von  der  Tendenz  ausgegangen,  und  hatten  in 
dem  Fortschritt  von  Tendenz  zu  Tendenz  aus  dem  Gesichtspunkte 
des  Denkens  die  Aufgabe,  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Begehrung 
aber  den  Affekt  definiert.  Wir  hatten  alsdann  in  der  Ver- 
bindung von  Affekt  und  Aufgabe  den  reinen  Willen  bis  zur 
Handlung  hinaufgeführt.  In  der  Handlung  konnten  wir  das 
Denken  in  Vollzug  setzen,  und  zwar  in  seinen  abstraktesten 
Arbeiten,  zugleich  aber  gemäss  dem  Zusammenhange  zwischen 
der  Vernunft  und  der  Sprache  in  der  Sprachhandlung  den 
reinen  Willen  zur  Vollendung  bringen. 

Schliesslich  ging  die  Frage  aber  dazu  über,  was  dabei  zu- 
gleich für  den  Affekt  herauskomme.  Um  diese  Frage  zu  beant- 
worten, waren  wir  in  die  Betrachtung  des  Gefühls  wieder  ein- 
getreten; und  statt,  wie  früher,  nur  auf  den  Anhang,  den  das 
Gefühl  bildet,  zu  achten,  waren  wir  jetzt  besonders  aufmerksam 
geworden  auf  den  Untergrund,  den  es  bildet;  den  es  zumal  in 
der  Zusammen  Wirkung  der  verschiedenen  Gefühlsstufen  bildet. 
In  dieser  Zusammenwirkung  liegt  der  vulkanische  Charakter 
dieses  Untergrundes.  Unbestimmbar  vielseitig  und  schier  unbe- 
zwinglich  erscheinen  die  Einflüsse,  die  Ausbrüche,  die  aus  dieser 
Mischung  der  Gefühle  herrühren. 

In  dieser  Ausdehnung  muss  der  Begriff  des  Affekts 
gedacht  werden.  Seine  Bestimmung  ist  nicht  einzuschränken 
auf  eine  Art  und  eine  Richtung  der  Bewegung  und  des  Bewegungs- 
gefühls, als  Suffix  gedacht;  sondern  auf  alle  Arten  und  Stufen 
des  Gefühls  muss  er  bezogen  werden;  auf  alle  Arten  der  Vor- 
stellungs-   und  Denkgefühle,   wie   auf  alle  Arten  der  Bewegungs- 


188  Das  Willens-Sprachgcfühl . 


und  der  Begehningsgefuhle.  In  diesem  Conflux  und  Con- 
volut  besteht  der  Affekt. 

Und  mit  diesem  Gewirr  des  Affekts  hat  die  andere  Seite  des 
Willens  sich  auseinanderzusetzen;  mit  dieser  machtvollen  Masse 
hat  der  Gedanke  zu  ringen  und  zu  kämpfen,  wenn  der  Wille 
entstehen  soll.  Der  Affekt  muss  nicht  etwa  abgestumpft,  unter- 
bunden und  geschwächt  w^erden,  wenn  ein  kraftvoller  Wille  sich 
entbinden  soll;  sondern  der  Affekt  soll  anschwellen,  soll  lebendig 
und  viel  verzweigt  bleiben;  ebenso  wie  der  Gedanke  nicht  ver- 
blassen, noch  einseitig  fixiert  werden  soll.  Beide  Quellen  des 
Willens  müssen  ihren  ganzen  Strom  ergiessen,  wenn  der  reine 
Wille  zu  seiner  vollen  Kraft  gedeihen  soll. 

Wir  hatten  nach  der  Eigenart  des  Willensgefühls 
gefragt.  Wir  sehen  jetzt,  worin  sie  beruht.  Die  volle  Energie 
des  Affektes  einerseits,  und  die  volle  Energie  des  Denkens  andrer- 
seits ist  es,  welche  die  Vorbedingungen  des  Willensgefühls 
sind.  Wir  können  dasselbe  nicht  anders  bestimmen  und  be- 
schreiben als  durch  die  Verbindung  dieser  beiden  Vorbedingungen. 
Nicht  eine  Art  des  Gefühls  allein,  welche  einer  Art  des  Anteils, 
auf  dem  der  Wille  beruht,  entspräche,  ergibt  etwa  auch  nur  vor- 
zugsweise das  Willensgefühl;  sondern  beide  zusammen  erst 
machen  es  aus. 

Aber  auch  hier,  und  hier  vorzugsweise  lässt  sich  die  Be- 
deutung erkennen  und  beleuchten,  welche  das  Gefühl  als 
Suffix  im  Unterschiede  vom  Annex  hat.  Das  Willensgefühl 
ist  vorzugsweise  Gefühlssuffix.  Als  Gefühlsannex  stellt  es  sich  in 
der  Ermüdung  und  Erschöpfung  dar,  welche  bei  aller  Bewegung 
sich  einstellt.  Als  Gefühlssuffix  hingegen  wirkt  es  in  der  schöpfe- 
rischen Energie  der  Willenshandlung.  Und  da  ist  es  wiederum 
vorzugsweise  die  Sprache  und  das  Sprachgefühl,  welches  in 
dieser  Bedeutung  des  Suffixes  im  Willensgefühle  sich  betätigt. 
Zunächst  bringt  die  Sprache  freilich  Mässigung  und  Ruhe  in  das 
Gewirr  der  Gefühle;  das  vulkanische  Ungestüm  wird  gebändigt  und 
beherrscht.  Zugleich  aber  auch  wirkt  das  Sprachgefühl,  welches 
<ler  Willenshandlung  zu  Grunde  liegt,  lösend  und  erlösend,  indem 
es  dem  Abflüsse  des  Affekts  ein  Bett  bereitet  und  es  eindämmt. 
In  diesem  Sprachgefühl  prägt  sich  vorzugsweise  das 
Willensgefühl  aus.    Indem    der  Wille,   um  Wille  zu  werden. 


Der  Affekt  als  Willensgefühl.  189 


in  Worte  nicht  sowohl  sich  kleidet,  als  vielmehr  in  dieselben 
hineinwächst,  so  erwächst  er  aus  den  Wortgefühlen,  mit  denen 
die  BegrifTsworte  der  Sprache  vei'wachsen  bleiben. 

Es  gäbe  keine  Poesie,  und  keine  Poesie,  welche  an  Ge- 
danken erblüht,  wenngleich  nicht  in  Gedanken,  wenn  diese  Ver- 
wachsung nicht  bestände  und  nicht  unaufhörlich  in  dem  ge- 
bildeten Bewusstsein  sich  erneute.  Es  ist  ebenso  das  sittlich, 
wie  das  aesthetisch  gebildete  Bew^usstsein,  welches  in  diesen 
Pflanzungen  sich  ergeht.  Und  es  ist  keineswegs  der  Abweg  in 
das  aesthetische  Gebiet,  der  durch  diese  ausgedehnte  Bestimmung 
des  Affekts  und  des  Willensgefühls  beschritten  würde.  Es  müsste 
vielmehr  die  Grundlage,  welche  der  Affekt  für  das  reine  Wollen 
bildet,  verschrumpfen  und  verdorren,  wenn  das  Willensgefühl 
in   dieser  Complikation  versagt  wäre. 

Was  unterscheidet  nun  das  Willensgefühl  von  dem 
Affekte?  Der  Affekt  besteht  uns  jetzt  nicht  mehr  bloss  in  dem 
Fortschritt  von  Tendenz  zu  Tendenz;  sondern  er  schliesst  die 
Gefühlsstufen  in  sich,  und  zwar  alle  Arten  der  Gefühlsstufen; 
und  er  schliesst  sie  in  sich  nicht  nur  als  Gefühlsannexe,  sondern 
als  Gefühlssuffixe,  so  dass  aus  ihm  an  seinem  Teile  die  Willens- 
handlung hervorgehen  mag.  Aber  die  Willenshandlung  hat 
andererseits  das  Denken  und  den  Begriff  zur  Voraussetzung. 
Dieser  Unterschied  darf  nicht  aufgehoben  werden,  wie 
Spinoza  es  gethan  hat,  indem  er  den  Willen  zum  Affekt  machte, 
nachdem  er  zuvor  ihn  in  den  Intellekt  aufgehoben  hatte. 

Wohl  aber  darf  der  Unterschied  zwischen  Affekt 
und  Willensgefühl  aufgehoben  werden,  und  zwar  gerade 
als  Suffix;  während  er  in  Bezug  auf  den  Gefühlsanhang,  auf  das 
resultierende  Gefühl  erhalten  bleiben  kann.  Die  Quelle  dagegen, 
welche  das  Willensgefühl  für  die  Willenshandlung  bilden  muss, 
wie  überall  der  neue  Inhalt  aus  der  vorausgehenden  Gefühls- 
stufe sich  bilden  muss,'  sie  ist  in  der  positiven  Bedeutung  des 
Affektes  anzuerkennen.  Das  ist  der  richtige  Kern  an  jener  über- 
spannten Formulierung,  dass  der  Affekt  in  der  Tat  die  Grund- 
lage der  Willenshandlung  bildet;  nicht  die  ganze,  aber 
einen  Teil,  einen  wichtigen  Bestandteil. 

Es  ist  wichtig,  diesen  Beitrag  des  Affekts  noch  genauer 
gegen  Missverständnisse,    wie   sie  hier  besonders   naheliegen,   zu 


190  Der  Motor  und  das  Motiv. 

9 

verwahren  und  zu  schützen.  Der  Affekt  in  dieser  Ausdeh- 
nung, als  positives  Willensgefühl,  könnte  als  ein  Faktor 
der  Willenshandlung  gedacht  werden.  Das  ist  er  nicht. 
Er  treibt  die  Mühle,  wie  der  Wind  sie  treibt;  aber  er  enthält 
das  Korn  nicht,  das  zu  mahlen  ist.  Diesen  Inhalt  bildet  aus- 
schliesslich das  Denken  im  Begriffe  und  in  diesem  begrifflichen 
Elemente  der  Handlung.  Die  Aufgabe  bleibt  das  Motiv;  der 
Affekt  und  das  Willensgefühl,  zu  dem  der  Affekt  ge- 
steigert wird,  ist  nur  der  Motor.  Der  Motor  darf  nicht 
fehlen  und  nicht  erlahmen;  er  hat  jedoch  das  Motiv  nicht  zu 
ersetzen.  Das  Motiv  liegt  rein  und  ausschliesslich  in  dem  ge- 
danklichen Inhalt  der  Aufgabe,  den  die  Handlung  bildet;  die 
Handlung,  welche  von  dem  Affekt,  von  dem  Willensgefühl  ge- 
trieben, belebt,  beseelt  und  bisweilen  beseligt  werden  muss.  Die 
Aufgabe  bildet  den  geistigen  Inhalt;  den  seelischen 
Schwung  gibt  der  Affekt. 

Es  liegt  somit  auch  ein  richtiger  Gedanke  in  der  Wendung, 
welche  die  Xenie  Schillers  gegen  Kant  aussprach,  obwohl  nur 
zum  Scheine  die  Gegnerschaft  angenommen  war.  Nicht  nur 
darf  nicht  Unlust  allein,  nicht  Abneigung  die  Willenshandlung 
leiten,  so  wenig  als  Lust  allein  sie  motivieren  darf,  sondern  auch, 
wenn  man  einmal  das  Willensgefühl  ungenau  als  Mischung  von 
Lust  und  Unlust  denkt,  so  darf  diese  Mischung  nicht  gänzlich  ab- 
gewehrt und  ausgelöscht  werden.  Der  Aufschwung  des  Willens 
darf  des  Schwungs  nicht  verlustig  gehen,  den  der  Affekt  und  er 
allein  zu  erteilen  vermag. 

So  bildet  das  Willensgefühl  einen  unverächtlichen 
Bestandteil  und  Untergrund  der  Willenshandlung.  Nicht 
Abtötung,  nicht  Erschlaffung  der  Willensgefühle  ist  zu  fordern, 
noch  zuzulassen  und  zuzugestehen,  um  etwa  sicherer  den  reinen 
Willen  zu  stände  zu  bringen,  sondern  je  höher  die  Aufgabe  des 
reinen  Willens  gespannt  wird,  desto  mächtiger  muss  die  Energie 
des  Willensgefühls  ihr  entsprechend  gefordert  werden.  Der 
reine  Wille  hat  ebensosehr  das  Willensgefühl,  wie  das  strenge 
Denken  der  Aufgabe  zur  Voraussetzung.  Die  Handlung  voll- 
zieht ihre  Einheit  in  der  Durchdringung  der  beiden  Be- 
dingungen: des  Motivs  und  des  Motors. 


Viertes  Kapitel. 

Das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens, 


Wenn  wir  den  Unterschied  des  reinen  Willens  von  der 
Begehrung  an  einem  Begriffe  bezeichnen  sollten,  so  wäre  dies 
der  Begriff  des  Gegenstands.  In  der  Begehrung  scheint  der  In- 
halt, auf  den  sie  sich  richtet,  ein  Gegenstand  zu  sein.  Im  reinen 
Willen  geht  der  Gegenstand  über  in  die  Handlung.  Diese  Handlung 
wird  das  Objekt  des  Willens. 

Aus  diesem  Unterschiede  zwischen  dem  reinen  Willen  und 
der  Begehrung,  der  sich  an  dem  Begriffe  des  Objekts  vollzieht^ 
ergibt  sich  der  scharfe  und  deutliche  Unterschied  zwischen 
dem  Willen  und  dem  Denken.  Das  Denken  geht  immer  auf 
den  Gegenstand.  Der  Begriff,  der  sein  reines  Erzeugniss  bildet, 
ist  nichts  Anderes  als,  um  es  einmal  ungenau,  aber  anschaulich 
auszudrücken,  das  Symbol  des  Gegenstandes.  Der  Begriff  hat 
keinen  eigenen  Wert;  der  liegt  lediglich  in  dem  Objekt,  das  er 
darstellt,  das  er  vertritt.  Der  Wille  dagegen  geht  gar  nicht  auf 
ein  Objekt.  Der  Begriff,  dessen  er  sich  bedienen  muss,  sofern 
er  einesteils  am  Denken  sich  vollzieht,  geht  daher  auch  nur  ver- 
mittel ungsweise  auf  ein  Objekt;  denn  freilich  kann  der  BegrifT 
zu  nichts  Anderem  benutzt  werden,  als  zur  Darstellung  dieses 
Gegenstands.  Aber  diese  Benutzung  und  diese  Darstellung  ist 
hier  nur  ein  Mittel  zur  Vorspiegelung  des  eigentlichen  und 
einzigen  Inhalts,  auf  den  der  Wille  sich  richtet:  das  ist  einzig 
und  allein  die  Handlung. 

Daher  sind  es  vorzugsweise  die  Begriffe  der  Einheit  und 
der   Bedingung,    mit   denen   das  Denken    im  Wollen   operiert. 


192  Der  Unterschied  zwischen  Willen  und  Denken. 

weil  in  diesen  vorzugsweise  die  Handlung  sich  entfaltet  und  sich 
zusammenzieht.  Auch  auf  diese  Zusammenziehung  kommt  es 
an;  sie  gibt  der  Handlung  den  Halt,  der  die  Ruhe  in  dieser  Be- 
wegung bildet,  und  den  Gehalt  in  dieser  Aufgabe.  Sie  gibt  die 
Festigkeit  und  den  Bestand,  der  doch  kein  Stillstand  ist.  So 
fehlen  keineswegs  die  Merkmale,  welche  den  Wert  des  Objekts 
bedingen;  und  dennoch  statten  sie  nur  die  Handlung  damit  aus, 
ohne  diese  in  ein  Objekt  untergehen  zu  lassen.  Es  wäre  ein 
Untergang  für  die  Handlung,  wenn  sie  in  einem  Objekt  aufginge. 

Der  Unterschied,  der  sich  am  Begriffe  des  Objekts  für  den 
reinen  Willen  feststellen  lässt,  erstreckt  sich  somit  nach  allen 
entscheidenden  Richtungen;  nach  der  Begehrung  und  nach  dem 
Denken.  Dennoch  kann  man  noch  immer  von  der  Frage  irritiert 
werden,  warum  denn  durchaus  der  Begriff  des  Objekts 
ausgeschlossen  werden  müsse.  Man  versteht  ja  wohl  die 
Pointe,  die  damit  gegen  den  angeblichen,  anscheinenden  Gegen- 
stand der  Begehrung  ausgespielt  werden  soll ;  aber  der  Gegensatz, 
der  damit  gegen  das  Denken  aufgerichtet  wird,  könnte  immerhin 
als  Ueberspannung  einer  historischen  Tendenz  erscheinen. 
Denn  was  kapn  es  schaden,  wenn  man  die  Handlung,  die  doch 
im  Begriffe  Halt  gewinnen  muss,  als  Objekt  bezeichnet?  Es 
könnte  scheinen,  dass  der  Tendenz  Genüge  geschehe,  wenn  der 
Inhalt  des  Willens  als  Handlung,  diese  Handlung  aber  als 
Objekt  anerkannt  würde. 

Indessen  erfordert  der  Unterschied  zwischen  dem 
WMllen  und  dem  Denken  noch  eine  andere  Rücksicht,  durch 
welche  die  Abwehr  eines  Objekts  dringlicher  geboten  wird. 
Erinnern  wir  uns  der  Unterscheidung  zwischen  dem  Innern 
und  dem  Aeussern,  auf  die  wir  recurrieren  mussten.  Das 
Innere  sollte  durchaus  Inneres  bleiben;  auch  in  der  Aeusserung 
als  Tendenz,  und  in  deren  Fixierung  und  Gestaltung  als  Aufgabe. 
Die  Ungenauigkeit  dieses  Ausdrucks  des  Innern  konnte  uns  nicht 
verhohlen  bleiben ;  dennoch  war  er  nicht  zu  entbehren,  nicht  zu 
umgehen.  Es  könnte  scheinen,  dass  dieser  Anstoss  noch  ge- 
steigert würde  dadurch,  dass  der  Affekt  als  ein  eigenartiges 
Moment  des  W^illens  geltend  gemacht  wird.  Ist  es  doch  die 
blosse  Innerlichkeit,  welche  durch  ihn  mit  allem  Nachdruck 
vertreten  und  geltend  gemacht  wird. 


Das  Selbstbewusstsein  und  die  systematische  Philosophie.  198 

Dieser  Ausdruck  des  Innern  erfordert  genauere  Bestimmung. 
Wir  ^'aren  auch  sonst  schon  auf  den  Träger  und  Urheber  des 
Willens  gestossen.  Kurz,  es  muss  sich  in  dem  reinen  Willen 
vor  Allem  doch  um  das  Subjekt  des  Willens  handeln.  In  dem 
Begriffe  des  Subjekts  aber  wird  von  Neuem  die  Unterscheidung 
zwischen  Wollen  und  Denken  notwendig  werden;  und  aus 
dem  Gesichtspunkte  des  Subjekts  wird  auch  die  Unter- 
scheidung des  Objekts  noch  deutlicher  werden. 

Es  kann  doch  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  es  im  reinen 
Wollen  letztlich  sich  um  gar  nichts  Anderes  handeln  könne  als 
um  das  Subjekt  dieses  Wollens.  Wir  hatten  statt  des  Innern 
auch  den  Ausdruck  des  Bewusstseins  bisweilen  nicht  vermeiden 
können.  Im  letzten  Grunde  muss  es  sich  doch  um  die  Reinheit 
des  Bewusstseins  im  reinen  Willen  handeln.  Das  Bewusstsein 
muss  es  sein,  das  in  der  Handlung  sich  entfaltet;  als  welches  die 
Handlung  sich  vollzieht.  Was  ist  denn  nun  aber  der  Inhalt 
dieses  Bewusstseins,  welches  nicht  von  Inhalten  angefüllt  ist; 
welches  lediglich  in  Handlung  sich  vollzieht  und  besteht?  Der 
Inhalt  des  Bewusstseins,  welches  in  dem  Willen  und  in  der 
Handlung  sich  verwirklicht,  ist  deshalb  nicht  als  Objekt  zu  be- 
zeichnen, weil  er  vielmehr  das  Subjekt  bildet.  Und  wenngleich 
auch  das  Subjekt  der  Objektivierung  als  Inhalt  des  Bewusstseins 
bedarf,  so  bildet  es  doch  dasjenige  Problem,  welches  im  Unter- 
schiede von  dem  Bewusstsein  des  Objekts  bezeichnet  wird  als 
das  des  Selbstbewusstseins. 

Im  Selbstbewusstsein  ist  der  Unterschied  zwischen  dem 
Denken,  als  dem  Denken  der  Erkenntniss,  und  dem  reinen 
Willen  zu  begründen.  Und  auf  diesem  Unterschiede  beruht 
die  Tendenz  der  Unterscheidung  Beider  am  Objekt. 

Hier  liegen  nun  aber  die  eigentlichen  Schwierigkeiten  im 
Begriffe  der  systematischen  Philosophie;  die  historischen 
Schwierigkeiten  im  Begriffe  des  Idealismus.  Als  Descartes  den 
Idealismus  erneuerte,  ging  er  von  dem  Cogito  aus.  Es  war  nicht 
das  Cogitare,  welches  er  tatsachlich  doch  als  die  Methode  des 
reinen  Denkens  suchte  und  bestimmte;  sondern  es  war  das  Selbst- 
bewusstsein, das  er  in  der  ersten  Person  auf  die  Fahne  schrieb. 
Er  brauchte  es  für  die  Seele,  welche  er  neben  der  Materie,  neben 
der   Ausdehnung    als    Substanz    aufstellte.    Kant   hat   den    ver- 

18 


194  Die  Einheit  des  Bewusstseins  bei  Kant. 


schiedenen  Sinn  in  diesem  Ausdrucke  der  Substanz  blossgestellt; 
er  hat  das  Selbstbewusstsein  dieses  Denkens  auf  die  erste  Person 
demaskiert,  welche  das  Praesens  dieses  Denkens  regiert  So  wird 
dieses  Selbstbewusstsein  zu  der  ersten  Person  Singularis  in  dem 
Tempus  eines  Zeitwortes.  Das  ist  sein  Sinn,  sein  Wert  und  seine 
vielberufene  Autorität. 

Dennoch  aber  hat  selbst  Kant  den  Begriff  des  Selbstbewusst- 
seins  nicht  hinlänglich  aus  der  Schussweite  des  Spiritualismus^ 
und  der  Mystik  zu  bringen  vermocht.  Er  hat  das  Selbstbewusst- 
sein zurückgedrängt  hinter  die  Einheit  des  Bewusstseins.  Die 
Einheit  des  Bewusstseins  wurde  bei  ihm  das  Centrum  der  Er- 
kenntniss.  Was  Descartes  mit  dem  Selbstbewusstsein  zu  gewinnen 
suchte,  nämlich  die  Selbständigkeit  der  reinen  Erkenntniss,  das 
brachte  Kant  durch  die  Einheit  des  Bewusstseins  in  Sicherheit; 
während  er  das  Zweideutige  und  Schlüpfrige  im  SeelenbegrifTe 
des  Selbstbewusstseins  abschnitt  und  ausschloss.  Dennoch  aber 
hat  auch  er  den  Ausdruck  des  Selbstbewusstseins  nicht  ganz  ver- 
mieden; geschweige  dass  er  nachdrücklich  den  Unterschied  . 
zwischen  der  Einheit  des  Bewusstseins  und  dem  Selbstbewusstsein 
hervorgehoben  hätte. 

Der  Mangel  in  Kants  Terminologie  an  diesem  centralen 
Punkte  ist  jedoch  damit  noch  nicht  ausreichend  gekennzeichnet. 
Schon  in  der  Logik  mussten  wir  darauf  aufmerksam  werden, 
dass  Kant  den  Begriff  der  Einheit  des  Bewusstseins  zu  enge  ge- 
fasst  hat,  indem  er  ihn  auf  die  Erkenntniss  in  erster  und 
praegnanter  Bedeutung  einschränkt,  nämlich  auf  diejenige  Er- 
kenntniss, welche  kraft  der  synthetischen  Grundsätze  sich 
vollzieht,  also  auf  die  Erkenntniss  der  mathematischen  Natur- 
wissenschaft. Schon  auf  diejenige  Erweiterung  der  Erkenntniss, 
welche  auf  den  regulativen  Gebrauch  der  Ideen  für  die  be- 
schreibende Naturwissenschaft  der  Organismen  sich  stützt, 
erstreckt  sich  die  Bedeutung  der  Einheit  des  Bewusstseins  nicht. 
Die  Einheit  des  Bewusstseins  ist  ausschliesslich  der  zusammen- 
fassende Ausdruck  der  synthetischen  Grundsätze;  nicht  aber  der 
regulativen  Ideen. 

Wenn  es  nun  schon  ein  offenbarer  Mangel  ist,  dass  eine  Art 
des  wissenschaftlichen  Erfahrungsgebrauchs,  also  der  wissen- 
schaftlichen  Erkenntniss  von   dem  Prinzip   der  Einheit  des  Be- 


Einheit  und  Selbst.  Id5 


wusstseins  entblösst  wird,  so  wird  derselbe  zu  einem  anstössigen 
Fehler  in  Bezug  auf  die  ethische  Erkenntniss.  Wie  kann  der 
Wille  als  eine  Art  der  Vernunft  anerkannt  werden,  wenn  er 
nicht  in  der  Einheit  des  Bewusstseins  gegründet  wird? 

Man  muss  hier  jedoch  die  Frage  noch  ganz  anders  wenden. 
Für  alle  Erkenntniss  mag  die  Einheit  des  Bewusstseins  der 
richtige  Terminus  sein;  für  die  Ethik  dagegen  scheint  sie  nicht 
zu  genügen,  scheint  vielmehr  der  verstossene  Ausdruck  des 
Selbstbewusstseins  wieder  in  Ehren  kommen  zu  müssen.  Die 
Einheit  des  Bewusstseins  ist  Einheit  in  der  Einheit  des  Begriffs. 
Und  die  Einheit  des  Begriffs  ist  Einheit  wegen  der  Einheit  des 
Objekts,  die  in  ihr  vollzogen  wird.  In  der  Ethik  dagegen  handelt 
es  sich  im  letzten  Grunde  um  die  Einheit  des  Subjekts. 
Ihretwegen  richtet  sich  die  Polemik  auf  das  Objekt,  damit  der 
Wille  an  diesem  sich  nicht  verliere. 

Diese  Einheit  des  Subjekts  heisst  besser  nicht  Einheit; 
denn  man  weiss  es  ja,  und  man  darf  es  nimmermehr  aus  dem 
Auge  lassen,  dass  diese  Einheit,  wie  alle  Einheit,  nur  im  Begriffe, 
und  also  nur  im  Objekte  zur  Bestimmung  gebracht  werden 
könnte.  Da  es  sich  nun  aber  hier  nicht  um  das  Objekt  drehen 
soll,  so  muss  man  auch  die  Einheit  für  diese  Richtung  des 
Bewusstseins  im  centralen  Ausdruck  des  Prinzips  vermeiden. 
Für  den  reinen  Willen  gilt  es,  das  Selbstbewusstsein  als  das 
Centrum  des  Problems,  in  dem  alle  Hebel  spielen,  zu  erkennen 
und  zu  formulieren. 

Wenn  wir  so  das  Selbstbewusstsein  an  die  Stelle  der 
Einheit  des  Bewusstseins  hier  einsetzen,  so  könnte  es 
scheinen,  als  ob  wir  nicht  zwar  der  Psychologie  nachgingen, 
die  freilich  den  Pulsschlag  des  Selbst  für  den  Willen  in  erster 
Linie  fordert,  aber  als  ob  wir  dabei  vornehmlich  an  den  Affekt 
dächten,  und  auf  ihn  Bezug  nähmen,  insofern  wir  ihn  zu  einem 
gleichberechtigten  Faktor,  wenn  auch  nur  als  Motor  des  Willens 
gemacht  haben.  Der  Affekt  bildet  demgemäss  ja  den  In> 
begriff  aller  Gefühlsstufen;  was  liegt  da  näher,  als  in 
diesem  Inbegriff,  oder  wenigstens  seinetwegen  das  Centrum  des 
Selbstbewusstseins  zu  fixieren? 

Es  wäre  ein  schwerer  Irrtum,  wenn  man  nur  diesen  Grund 
für  die  Wiederaufnahme  des  Selbstbewusstseins  annehmen  und 

18« 


196  Affekt  nicht  Grund  des  Selbst. 

anerkennen  wollte.  Es  läge  erstlich  darin  der  schon  recht  be- 
denkliche Irrtum,  dass  der  Begriff  des  Persönlichen,  der  das 
Selbstbewusstsein  auszeichnet,  der  es  von  der  Einheit  des  Be- 
wusstseins  unterscheidet,  nur  durch  den  Affekt  definierbar 
würde,  nicht  aber  durch  das  Denken  im  Wollen.  Das  wäre 
gewiss  schon  ein  schwerer  Mangel  für  den  Begriff  der  Erkennt- 
niss,  und  kein  geringerer  für  den  Begriff  des  Selbst  im  Wollen. 
Bedenken  wir  zuerst  den  Fehler  für  die  Erkenntniss.  Es  genügt, 
an  die  Sophisten  zu  erinnern,  wie  sie  das  Problem  der  Iden- 
tität verdrehten,  indem  sie  an  dem  Unterschiede  der  Personen, 
welche  denken,  die  Identität  des  Gedankens  vereiteln  zu  können 
meinten.  Auch  für  das  Denken  also  besteht  das  Selbstbewusst- 
sein, w^elches  keineswegs  darüber  hinfallig  wird,  dass  es  noch 
andere  Leute  gibt;  denn  auch  diesen  steht  das  Selbstbewusst- 
sein und  zwar  im  Denken  zu. 

Schwerer  wird  dieser  Irrtum,  dieses  Aergerniss,  welches 
man  an  dem  Selbstbewusstsein  nehmen  könnte,  für  den  Willen. 
Wir  haben  es  schon  wiederholentlich  ausgesprochen,  dass  es 
sich  in  allerletzter  Instanz  für  den  reinen  Willen  schlechterdings 
nur  um  das  Subjekt  desselben  handelt.  Würde  man  nun  meinen, 
die  Position  des  Selbstbewusstseins  müsste  deshalb  eingenommen 
werden,  weil  man  ohnedies  der  Grundlage  des  Affekts  sich  be- 
geben würde,  so  würde  man  die  Einseitigkeit  des  theore- 
tischen Idealismus  nur  nochmals  begehen.  Dieser  hatte  eine 
begründete  Scheu  vor  dem  persönlichen  Beigeschmack  des 
Selbstbewusstseins,  an  welchem  das  Gespenst  der  dogmatischen 
Seele  hing.  Hier  aber  kann  keine  methodische  Besorgniss  uns 
davon  befreien,  dieses  eigentliche  Problem  des  Willens  beim 
rechten  Namen  zu  nennen.  Es  handelt  sich  eben  um  gar  nichts 
Anderes  als  um  das  Selbstbewusstsein.  Wie  könnte  man  nun 
meinen,  der  Affekt  allein  bringe  dieses  eigentlichste  Problem 
auf  den  Plan ;  würde  es  damit  nicht  zu  einem  halben  Problem, 
während  es  doch  das  ganze  sein  soll?  Wie  sehr  man  auch  den 
Affekt  neben  dem  Denken  im  Willen  anzuerkennen  hat,  so  ist 
er  doch  nur  Motor.  Das  Selbstbewusstsein  ist  dagegen  für  den 
reinen  Willen  stets  und  überall  das  eigentliche  Motiv,  der  tiefste 
leitende  und  entscheidende  Beweggrund.  Daher  darf  das  Selbst- 
bewusstsein nicht  dem  Affekt  überantwortet,  sondern  es  muss 
aus  dem  Denken  hergeleitet  und  im  Denken  begründet  werden. 


Wir  und  Ich.  197 

Die  Irrungen  sind  noch  nicht  vollständig  in  dem  Vor- 
stehenden bezeichnet,  welche  unvermeidlich  werden,  wenn  man 
das  Selbstbewusstsein  auf  den  AfTekt  gründet.  Es  handelt  sich 
nicht  allein  um  den  Wert  des  Prinzips  dabei,  der  durch  die 
Grundlage  des  Affekts  beeinträchtigt  wird.  Es  handelt  sich  viel- 
mehr um  den  Inhalt  dieses  Grundbegrifls  selbst  und  um  die 
Disposition  und  die  Anlage  in  der  Bestimmung  dieses  Inhalts. 

Schon  im  Ausgange  des  Altertums  findet  sich  für  das 
Selbstbewusstsein  der  Ausdruck  des  persönlichen  Fürworts,  der 
das  Stichwort  dieses  Idealismus  und  seiner  Abarten  wurde. 
Uebrigens  findet  es  sich  schon  in  sehr  charakteristischer  Weise 
bei  Piaton,  aber  im  Plural  als  Wir  (yjfisi;).  Dieses  Wir  wird 
mit  aller  pointierten  Schärfe  den  Dingen  und  ihren  Verhält- 
nissen entgegengestellt.  Bei  Plotin  tritt  es  im  Singular  auf  als 
Ich  (s'i'oj).  Dieses  Ego  tritt  auch  bei  Leibniz  auf,  als  die 
charakteristische  Differenz  des  Bewusstseins,  das  er  als  Appcr- 
ception  definierte,  von  aller  Materie.  So  hat  sich  bei  Leibniz 
das  Ego  aus  der  ersten  Person  des  Cogito  herausgelöst  und 
selbständig  gemacht. 

Kant  hatte,  wie  wir  soeben  es  betrachtet  haben,  nach  dem 
Vorgange  von  Leibniz  an  die  Stelle  des  Selbstbewusstseins  die 
Apperception  gesetzt,  welche  Leibniz  bereits  durch  die  Einheit 
charakterisiert  hatte.  Und  wie  Leibniz  diese  seine  Apperception 
von  dem  Bewusstsein  schlechthin,  als  der  Perception,  unter- 
schieden hatte,  so  war  die  Einheit  des  Bewusstseins  bei  Kant 
zur  Einheit  der  Erkentnniss  geworden,  und  der  gewöhnliche 
Sinn  des  Bewusstseins  war  verscheucht.  Man  weiss,  wie  er  es 
noch  erleben  musste,  dass  sein  Grundgedanke  wie  in  den  WMnd 
verweht  wurde.  Die  Romantik  fing  mit  Rhetorik  an.  Und 
gerade  in  der  Ethik  sollte  diese  Rhetorik  trotz  allem  guten 
Winde,  mit  dem  sie  segeln  wollte,  SchitTbruch  leiden.  An  dem 
Begriffe  des  Selbstbewusstseins  lässt  sich  dies  betrachten  und 
von  der  Logik  aus  für  die  Ethik  beleuchten. 

Man  meint,  der  Gebrauch,  den  Fichte  von  dem  Selbst- 
bewusstsein wiederum  in  der  Wissenschaftslehre  machte,  bilde 
seinen  hauptsächlichen,  wie  freilich  auch  seinen  grundsätzlichen 
Fehler.  Indessen  ist  dieser  Fehler  nicht  geringer,  sondern  nur 
noch   verhängnissvoller  geworden    in   seiner  Sittenlehre.    Fichte 


198  Ich  und  Nicht-Ich. 


setzt  für  das  Selbstbewusstsein  ein  das  Ich.  Und  dem  Ich  setzt 
er  entgegen  das  Nicht-Ich.  Dieses  Nicht-Ich  ist  das  Ding,  das 
Objekt  iiberhaupt;  jeder  Gegenstand,  als  solcher.  Wir  nehmen 
hier  keine  Rücksicht  auf  die  theoretische  Frage,  ob  das  Objekt 
als  Correlat  zum  Subjekt  gesetzt  werden  darf.  Diese  Frage  be- 
trifft Fichtes  Wissenschaftslehre,  auf  die  wir  jetzt  nicht  einzu- 
gehen haben.  Was  bedeutet  der  Gegensatz  von  Ich  und 
Nicht-Ich  aber  für  die  Sittenlehre?  Ist  es  da  in  jedem 
Sinne  richtig,  dass  ich  vom  Ich  das  Nicht-Ich,  welches  hier  viel- 
mehr der  Nicht-Ich  ist,  unterscheide? 

Es  handelt  sich  hier  um  ein  unendliches  Urteil.  Dieses 
ist  aber  ein  Urteil  des  Ursprungs.  Für  welchen  Begriff  soll 
in  diesem  Urteil  der  Ursprung  gesetzt  werden,  so  dass  auf  dem 
Umwege  des  Nichts  das  neue  Etw^as  gefunden  werden  soll?  Da 
der  Umweg  hier  an  dem  Ich  versucht  wird,  so  muss  es  sich  um 
nichts  Anderes  als  um  den  Ursprung  des  Ich  handeln.  Es 
widerspräche  dem  wissenschaftlichen  Gebrauche  des  unendlichen 
l'rteils  und  seiner  Gebilde  mit  der  eigentümlichen,  dafür  wie 
erfundenen  griechischen  Partikel  (»xV;),  wenn  in  einem  andern 
Sinne  die  Formel  des  Nicht-Ich  gemeint  würde.  Sie  darf  nicht 
gebraucht  werden,  wenn  es  sich  um  die  Bestimmung  und  Er- 
zeugung einer  Sache  handelt,  und  wenn  selbst  dieser  der  grösste 
Wert  beizumessen  wäre.  Nicht-Ich  darf  ausschliesslich 
nur  gebraucht  werden  als  Ursprungsbegriff  des  Ichi 
keineswegs  aber  als  Correlat  zu  Ding  und  Sache;  denn 
diese  gehören  einer  andern  Welt  an  als  das  Ich  und  die  Person 
Das  wäre  die  erste  durchgreifende  Correktur,  die  wir  an  Fichtes 
Formel  auf  Grund  der  Logik  der  reinen  Erkenntniss  anzubringen 
haben.  Die  Formel  ist  logisch  falsch;  methodisch  falsch.  Sie 
passl  nicht  für  die  Logik,  für  die  F^rkenntniss  der  Natur- 
wissenschaft. 

Passt  sie  aber  für  die  Ethik?  Hier  kann  sie  passen; 
konnte  sie  passen,  wenn  sie  im  richtigen  Sinne  des  Ursprungs- 
urteils verstanden  und  behandelt  wird.  Denn  das  ist  ja  die 
Grundfrage  der  Ethik:  was  ist  das  Selbstbewusstsein?  Oder  also: 
was  ist  das  Ich?  Wie  ist  der  Ursprung  des  Ich  zu  bestimmen, 
so  dass  aus  diesem  Ursprung  der  volle,  ganze  Inhalt  des  Ich  zur 
reinen  Erzeugung  gelangen    kann?     So   viel    sehen    wir   bereits» 


Woher  der  Nebenmensch?  199 


dass  es  weder  aus  dem  Ding,  noch  aus  der  Correlation  zum 
Ding  erzeugt  werden  kann. 

Das  Nicht -Ich  kann  daher  nur  auf  den  Begriff  des 
Menschen  sich  beziehen,  als  in  welchem  allein  das  Ich  seinen 
Ursprung  haben  kann.  Der  Begriff  des  Menschen  ist  aber  auf 
eine  Mehrheit  von  Menschen  bezogen,  und  aus  dieser  Mehrheit 
abgezogen.  Wäre  er  nur  eine  solche  Abstraktion,  so  würde  in  ihm 
erstlich  nicht  die  Logik  des  Begriffs,  dann  aber  auch  vornehmlich 
die  Ethik  nicht  zur  Entdeckung  gekommen  sein.  Und  Plato 
hätte  auf  Grund  dieser  Logik  den  Begriff  nicht  zur  Einheit  der 
Idee  entwickeln  können.  Der  Begriff,  die  Idee  des  Menschen  ist 
Einheit,  insofern  diese  nicht  nur  alles  Treiben  und  Trachten  des 
Menschen,  sondern  alle  bunte  Mannigfaltigkeit  und  Verschieden- 
heit der  Menschen  in  die  Einheit  des  Begriffs  zusammenfasst.  So 
ist  zwar  der  Begriff  des  Menschen  keineswegs  lediglich  eine  Abs- 
traktion von  der  Vielheit  der  Menschen;  aber  er  bleibt  not- 
wendigerweise freilich  auf  diese  Vielheit  bezogen.  Und  nun  ent- 
steht eine  neue  Frage  für  die  Ethik:  Woher  kommtdiese 
Mehrheit  der  Menschen?  W^oher  kommt  der  zweite 
Mensch,  der  Nebenmensch? 

Man  sieht,  es  kann  nicht  bei  dem  Problem  sein  Bewenden 
haben,  w^elches  Sokrates  aufgestellt  hat.  Dieses  war  eben  zugleich 
und  gleicherweise  ein  logisches,  wie  ein  ethisches  Problem.  Die 
Menschen  nach  ihren  mannigfaltigen  Berufen  lagen  seinem  Blicke 
vor;  sie  bildeten  in  dieser  Mannigfaltigkeit  keine  Frage  für  ihn; 
sie  waren  die  Tatsache,  von  der  er  ausging.  Die  neue  Frage,  die 
in  ihm  sich  erhob,  war  die  nach  der  Einheit  dieser  vielen,  einer 
grossen  Verschiedenheit  der  Lebensarbeit  nachgehenden  Menschen. 

Es  ist  sehr  beachtenswert,  dass  auch  Plato  nur  auf  die 
Einheit  für  den  Begriff  des  Menschen  seinen  Blick  richtete;  dass 
er  aber,  weil  er  die  Vielheit  voraussetzte,  und  an  dieser  Viel- 
heit in  der  Dreiheit  der  Stände  festhielt,  auch  die  Einheit 
nur  im  Sokratischen  Grundgedanken  der  Einheit  der  Tugend 
festhielt;  sonst  aber  die  Einheit  des  Menschen  nicht  zum 
Problem  machte.  Es  gibt  ein  bedeutsames  Symptom  für 
diesen  Mangel,  der  sich  an  diesem  Symptom  als  solcher  kenn- 
zeichnet. Es  fehlt  bei  Piaton  an  der  Idee  des  Menschen 
Und  gerade   diese   Idee   vermisst   man  doch  sicherlich   schwer; 


200  Die  Idee  des  Menschen. 

schwerer  als  die  Idee  der  Seele.  Man  könnte  zwar  denken,  dass 
Piaton  als  Ideen  nur  methodische  Grundbegriffe  auszeichnet, 
nicht  aber  Gattungsnamen  von  Problemen.  Aber  der  Mensch  be- 
zeichnet ein  eigenes  methodisches  Problem  und  somit  einen 
methodischen  Grundbegriff. 

Es  gibt  zu  denken,  dass  die  Idee  des  Menschen  bei 
dem  Juden  Philo  als  solche  bezeichnet  ist.  Bei  ihm  ist 
die  Einheit  des  Menschen  an  der  Vielheit  und  angesichts  der 
Vielheit  der  Menschen  zu  einem  fundamentalen  Problem  gebracht 
Die  Einheit  des  Menschen  bedeutet  ihm  die  Einheit  des  Men- 
schengeschlechts. Was  Moses  lehrt,  das  lehrt  für  ihn  auch 
Plato.  Was  Moses  offenbart,  das  begründet  für  ihn  Plato.  Die 
Einheit  des  Menschengeschlechts  ist  der  messianische  Ge- 
danke, den  er  von  den  Propheten  ererbt  hat;  der  sein  Juden- 
tum bildet.  Da  er  zugleich  aber  von  der  Begeisterung  für  die 
Wissenschaft  und  die  wissenschafUiche  Philosophie  der  Griechen 
ergriffen  ist,  so  kann  für  ihn  die  Wahrheit  eines  religiösen  Ge- 
dankens nur  auf  seiner  philosophischen  Begründung  beruhen. 
Die  Einheit  des  Menschengeschlechts  fordert  die  Einheit  im  Be- 
griffe des  Menschen  heraus.  Einheit  aber  kann  nur  die  Idee 
vollziehen  und  gewährleisten.  So  wird  ihm  der  Mensch  zur 
Idee  des  Menschen.  So  formuliert  er  zuerst  den  ein- 
heitlichen Menschen  als  Idee. 

Die  Einheit  ist  nunmehr  in  dem  Begriffe  des  Menschen  zur 
methodischen  F'ormulierung  gelangt.  Aber  die  Frage,  die  wir 
oben  gestellt  haben^  ist  dadurch  nicht  gelöst;  ist  eher  zurück- 
geschoben. Für  Philo  war  das  keine  Frage.  Von  Gott  geschaffen 
ist  für  ihn  nur  der  eine  Mensch,  und  allenfalls  das  erste  Men- 
schenpaar. Die  Verschiedenheit  der  Menschen  wird  in  der  Ver- 
schiedenheit der  Sprachen  zum  eigentlichen  Anstoss;  sie  erscheint 
als  der  eigentliche  geschichtliche  Sündenfall.  Indessen  handelt 
es  sich  bei  der  Vielheit  der  Menschen  nicht  allein  um  die  Ver- 
schiedenheit, die  als  ein  Ausfluss  der  Sünde  betrachtet  werden 
mag,  sondern  überhaupt  um  die  Mehrheit,  um  die  Anzahl.  Diese 
aber  bildet  kein  religiöses  Problem.  Sie  ist  umsomehr  ein 
ethisches  Problem.    Woher  kommt  der  Nebenmensch? 

Eis  ist  die  Meinung  ausgesprochen  worden,  und  rwar  sehr 
bezeichnender  Weise  im  Kampfe  gegen  alle  Art  von  Nalurrecht, 


Der  Andere  der  Ursprung  des  Ich.  201 

dass  ein  zweiter  Mensch  a  priori  nicht  zu  denken,  nicht  zu  be- 
weisen wäre;  dass  er  vielmehr  ein  Ding  der  Erfahrung  sei.  Wäre 
dies  der  Fall,  dann  wäre  die  Deßnition  des  reinen  Willens  ein 
eitles,  ein  vergebliches  Bemühen.  Dann  würde  das  Problem 
einer  reinen  Ethik  hinfallig;  denn  dann  wäre  jede  andere 
Hypothesis  unnütz  und  unmöglich.  Wenn  irgend  eine  Hypothesis 
notwendig  und  zulässig  ist,  so  muss  es  die  des  Nebenmenschen 
sein.  Und  es  ist  gute  Aussicht  vorhanden,  dass  sie  als  Hypothesis 
sich  bewähre.  Den  Nebenmenschen  lediglich  aus  der  Er- 
fahrung entnehmen  wollen,  das  scheint  noch  aussichtsloser 
als  die  Definition,  dass  die  Gerade  durch  zwei  Punkte  bestimmt 
sei,  lediglich  auf  Erfahrung  zu  gründen. 

Der  Irrtum  an  diesem  entscheidenden  Punkte  wird  wiederum 
durch  den  Begriff  der  Mehrheit  begünstigt.  Der  Nebenmensch 
wird  als  ein  Nebenmensch  gedacht,  oder  vielmehr  vorgestellt 
als  einer  der  vielen  Nebenmenschen.  Gehen  wir  dagegen 
von  dem  richtig  verstandenen  Begriffe  des  Nicht-Ich  aus,  so  tritt 
an  die  Stelle  des  Nebenmenschen  der  genauere  Begriff  des 
Andern.  Der  Andere  ist  nicht  ein  Anderer;  er  steht  in  der 
genauen  Correlation,  vielmehr  in  der  Continuitätsbeziehung  zum 
Ich.  Der  Andere,  der  alter  Ego  ist  der  Ursprung 
des  Ich. 

So  wird  auf  die  strengste  logische  Weise  die  Ansicht  wider- 
legt, dass  der  Nebenmensch  nur  der  Erfahrung  angehöre,  nicht 
aber  in  der  Ethik  konstruierbar  sei.  Umgekehrt  stellt  es  sich 
heraus.  Das  Ich  könnte  nicht  definiert,  nicht  erzeugt  werden, 
wenn  es  nicht  durch  die  reine  Erzeugung  des  Andern  bedingt 
wäre  und  aus  ihm  hervorginge.  Man  müsste  mithin  auch  sagen, 
dass  das  Ich  nur  der  Erfahrung  angehöre,  dass  es  kein  Problem, 
geschweige  ein  Erzeugniss  der  auf  idealistischen  Hypothesen  be- 
ruhenden Ethik  sei.  Damit  aber  würde  ausdrücklich  die  Möglich- 
keit einer  solchen  Ethik  aufgehoben.  Diese  äusserste  Gefahr  liegt 
in  dem  Gedanken,  dass  der  Nebenmensch  keinen  Begriff  a  priori 
zu  bedeuten  habe.  Auch  das  Ich  bedeutet  alsdann  keinen  Be- 
griff der  reinen  Ethik.    Und  was  bleibt  dann  für  die  Ethik  übrig? 

Das  Selbstbewusstsein  bleibt  alsdann  sicherlich  nicht  übrig. 
Was  an  ihm  dann  noch  Problem  bleiben  könnte,  das  wäre 
lediglich  ein  logisches  und  allenfalls  noch,   aber   nur  mit  Rück- 


2  2  Die  Correlfttion  der  beiden  Subjekte 

sieht  auf  dieses  logische,  ein  psychologisches  Prohlem;  ein 
ethisches  Prohletn  würde  das  Seliisthewusstsein  dann  nicht 
bilden.  Denn  das  ethische  Problem  des  Selhstbeis^nisstseins  i\t 
das  Problem  des  reinen  Willens.  Der  reine  Wille  aller  vollxicht 
sich  in  der  Handlung.  Tnd  zur  Handlung  gehören  zwei 
Subjekte,  wie  wir  dies  an  der  Hechtshandlung  erkannt 
haben.  Das  Selbstbewusstsein  kann  für  den  Willen  und  für  die 
ibindlung  nicht  das  Bewusstsein  des  Selbst,  als  eines  Kinzigen. 
bedeuten.  Ks  muss  vielmehr  dieses  Selbst  den  Andern  nicht 
sowohl  einschliessen,  als  vielmehr  auf  ihn  bezogen  werden. 
Durch  den  Kinschluss  konnte  der  Andere  invohiert  erscheinen, 
und  so  als  ein  Anderer  in  dem  Kinen  Selbst  aufgehoben  scheinen. 
Das  darl^  bei  <ieni  Kinen  so  wenig,  als  bei  dem  Andern  der  Kall 
vin.  We<ler  darf  der  Eine  den  Andern,  noch  der  Andere  <len 
ICincn  in  sich  verschlungen  hallen. 

Keiner  darf  durch  <len  Andern  auch  etwa  als  erweitert  In*- 
Inuhtet  werden.  Heide  müssen  isoliert  bestehen  bleibrn. 
Aber  gerade  dann  bleiben  sie  nicht  isoliert:  sondern  sie  sind  auf 
nninider  bezogen  und  bilden  in  dieser  (Korrelation  das  Selbst- 
bewuHsIsciu  Das  Selbstbewusstsein  ist  in  erster  Linie 
bedingt  durch  das  Hewusstsein  des  Andern.  Diese  Ver- 
riniKung  des  Andern  mit  dem  Kinen  erzeugt  erst  das  St'lbst- 
br>\nHslHcin,  als  das  des  reinen  Willens. 

hulem  wir  so  das  SelbstbewusstsiMn  aus  dem  Ursprungs- 
lirKHlle  des  Nicht-Ich,  als  des  Andern,  ableiten,  so  erkennen  ^ir 
dir  t  ii/ulanglichkeit,  die  Irrigkeit  und  Schädlichkeit,  welche  in 
drni  ticdanken  liegt,  das  ,Si*lbstbewusstsein  auf  den  Affekt  zu 
>:iuiiden  Der  AlTekt  konnte  sich  nur  auf  ein  Bewegungs-  oder 
ll«7rliiunK*'geluhl  stutzen,  allenfalls  auch  durch  ein  Denkgcfuhl 
iMilnstMt/t  werden,  aber  es  wäre  dies  elH*n  nur  ein  (iefühlsanuei. 
I  nd  \\vi\\\  dei  AlTekt  als  solcher  auch  eine  (Kombination  und 
I  iiiii|irMsalMMi  aller  (ieluhlsstulen  zu  In^tieuten  vermöchte,  %o 
\\uts\v  n  innnei  nur  als  Motor  wirken  können,  nicht  aber  aU 
Mtili\  l  nd  das  S4*lbsllH*wussts4*in,  als  das  Bewusstsein  zugleich 
d(H  Vndnu.  ist  das  (irun«lmotiv  der  Kthik,  muss  das  (irundmotiv 
d<i  ii'inrn  WilliMis  sein  Dieses  Moti\  muss  im  reinen  Denken 
H«  inru  ttiuud  Itabru 


Die  Religion  und  der  Egoismus.  203 


In  der  Tat  zeigt  es  sich  schon  im  Rechtsgeschäfte,  wo 
€s  sich  doch  für  jeden  Cpntrahenten  um  seinen  Vorteil  handelt, 
dass  nichtsdestoweniger  auch  der  Andere  berücksichtigt  werden 
muss;  andernfalls  könnte  es  nicht  zu  derjenigen  Genauigkeit, 
Klarheit  und  Sicherheit  kommen,  welche  in  der  Rechtshand- 
lung gefordert  werden.  Andernfalls  würden  Irrungen  und 
Täuschungen  unvermeidlich,  welche  die  Aufhebung  der  Hand- 
lung herbeiführen,  oder  dieselbe  vor  ihrer  Ausführung  illusorisch 
und  nichtig  machen.  So  ist  es  auch  hier  das  reine  wissenschaft- 
liche Denken,  und  keineswegs  der  blosse  Affekt,  welcher  den 
Andern  zur  Ergänzung,  zur  Beigesellung  bringt.  Das  Selbst- 
bewusstsein  des  rechtlichen  Wollens  und  der  Rechtshandlung 
darf  nicht  auf  den  Einzigen  beschränkt  bleiben.  Das  Selbst- 
bewusstsein  bedeutet  die  correlative  Vereinigung  des  Einen  und 
des  Andern. 

.Wir  stehen  hier  an  einem  Kreuzwege  der  systema- 
tischen Ethik,  an  dem  diese  von  der  Religion  sich 
scheidet. 

Es  ist  die  Meinung  vorherrschend,  dass  die  Religion  darin 
ihre  Hauptstärke  besitze,  das  Individuum  von  den  Schranken 
und  den  Fesseln  der  Selbstsucht  zu  befreien.  Sicherlich  ist  dies 
das  Ziel  aller  Religion.  Und  der  Monotheismus  insbesondere 
hätte  keinen  geschichtlichen  Sinn,  wenn  er  sich  dieses  Ziel  nicht 
schon  in  seinem  Begriffe  des  Einzigen  Gottes  hätte  stecken  müssen. 
Der  Einzige  Gott  bildet  nicht  sowohl  den  Gegensatz  gegen  die 
vielen  Götter,  als  vielmehr  gegen  die  vielen  Menschen  und 
Völker.  Der  Sinn  des  israelitischen  Monotheismus  liegt 
von  vornherein  im  Messianismus.  Es  ist  nur  die  unkritische 
Vorstellung,  die  wir  mit  den  Büchern  des  alten  Bundes  zu  ver- 
binden gewohnt  sind,  dass  die  Propheten  später  kommen  als  die 
mosaischen  Bücher.  Es  sind  aber  von  vornherein  die 
Propheten,  welche  den  einzigen  Gott  entdecken.  Und  sie 
entdecken  ihn  an  ihrer  messianischen  Idee  von  der  einstigen 
Einigung  der  Menschen  weit,  der  Einheit  der  Menschheit.  Die 
Einheit  Gottes  bedeutet  von  Anfang  an  nichts  Anderes 
als  die  Einheit  der  Menschheit. 

Vor  diesem  Gedanken  der  Einen  Menschheit  entsteht  das 
Problem  des  Andern  in  einem  ganz  andern  Sinne,  als  in  dem  es 


204  Der  Fremdling  und  der  Mensch. 

uns  entstanden  war.  Wir  forderten  den  Andern  als  Bedingung 
des  Ich.  Für  die  Propheten  hingegen  erschien  der  Andere  als 
ein  Fremder,  der  die  Einheit,  die  der  Eine  Gott  am  Menschen 
darstellen  sollte,  zu  verletzen  schien.  Daher  musste  dieser  Schein 
der  Fremdheit  zerstreut  und  vernichtet  werden.  Der  Fremd- 
ling erscheint  zunächst  als  solcher  Fremde;  er  scheint  ver- 
schieden zu  sein  vom  eigenen  Volke  und  vom  eigenen  Glauben. 
Daher  muss  vor  Allem  dieser  Schein  beseitigt,  dieses  Vorurteil 
zerstört  werden.  Der  Fremdling  sei  Euch  wie  der  Ein- 
geborene. Und  wie  man  bei  dem  Eingeborenen  Mitleid  hat  mit 
dem  Armen,  mit  der  Waise  und  der  Witwe,  so  wird  demzufolge 
es  zu  einer  stilistischen  Figur  bei  den  Propheten:  der  Fremd- 
ling, die  Waise  und  die  Witwe.  Sie  gehören  zusammen;  sie 
stehen  überall  zusammen.  Und  wie  das  Recht  und  das  Gesetz 
die  Grundlagen  der  Gesittung  bilden,  und  von  den  Propheten  in 
besonderer  Energie  und  Consequenz  als  solche  eingerichtet  werden, 
so  wird  der  Fremdling  auch  mit  Recht  und  Gesetz  in  Verbindung 
gesetzt:  „Ein  Gesetz  sei  Euch,  dem  Fremdling  und  dem  Ein- 
geborenen im  Lande.'*  So  wird  der  Fremdling  zum  ver- 
mittelnden Begriffe  im  Begriffe  des  Menschen. 

Und  diese  Vermittlung  wird  genauer  und  packender  zu- 
gleich durch  den  Begriff  des  fremden  Volkes.  Das  hat  ja 
hauptsächlich  alle  Wahrhaftigkeit  der  sittlichen  Einsicht,  nicht 
nur  alle  Gediegenheit  und  innere  Folgerichtigkeit  aller  geschicht- 
lichen Kultur  gehemmt,  dass  man  nicht  aufgehört  hat,  an  dem 
Begriffe  einer  fremden  Nation  keinen  Anstoss  zu  nehmen;  dass 
man  Kosmopolitismus  und  Vaterlandslosigkeit  für  einen  und 
denselben  BegrifT  halten  zu  müssen  glaubt.  Wenn  man  im 
Privatleben  schon  es  wenigstens  für  die  dürftige  Wohltätigkeit 
zugestehen  mag,  dass  das  Selbstbewusstsein  auch  die  fremde 
Person,  als  den  Nächsten,  einzuschliessen  habe,  so  hält  man  dies 
doch  in  der  Politik  in  Bezug  auf  die  fremde  Nation  für  einen 
Frevel.  Die  Propheten  dagegen  glaubten  ihr  Vaterland  nur  da- 
durch lieben  zu  können,  dass  sie  die  Menschheit  lieben  lehrten. 
Und  sie  wollten  lieber  ihr  Vaterland  preisgeben,  als  dass  sie  ein 
Jota  an  der  Einen  Menschheit  verlören.  Neben  dem  Fremdling 
ist  durch  den  messianischen  Gegensatz  gegen  die  fremden  Völker 
die  Einseitigkeit  und  Selbständigkeit  des  Individuums  durch  die 


Die  Liebe.  205 

Religion  aufgehoben  worden.  Und  es  war  die  Menschheit  in 
ihrer  dereinstigen  Einheit,  welche  auch  für  das  Individuum  die 
Einheit  des  Menschen  zur  Darstellung  brachte. 

Wenn  w^ir  nun  aber  fragen  dürfen,  wie  es  geschichtlich, 
wie  es  nach  der  Musterung,  die  wir  an  den  verschiedenen 
Arbeits-  und  Denkweisen  der  Kultur  anzustellen  für  angemessen 
halten,  zu  verstehen  sein  möchte,  dass  diese  erhabenen  Gedanken 
zwar  das  Gemüt  erfüllen  und  erschüttern  konnten,  dennoch 
aber  im  politischen  Sinne  eine  geschichtliche  Wirklichkeit  so 
gut  wie  gar  nicht  zu  entfalten  vermochten,  so  dürfen  wir  diese 
Frage  als  eine  Lebens-  und  Rechtsfrage  der  systema- 
tischen Ethik  erklären.  Und  wir  stehen  an  dem  Punkte,  an 
dem  bei  aller  Anerkennung  der  Religion  und  ihrer  sachlichen 
Verdienste  dennoch  der  Gegensatz  zu  ihr  festgestellt  werden 
muss.  Nicht  in  dem  sachlichen  Werte  der  Gedanken  liegt  ihr 
wirksamer  Wert;  sondern  allein  in  dem  methodischen  Werte. 
Und  der  methodische  Wert  vermag  auch  den  sachlichen 
Ausdruck,  also  auch  den  sachlichen  Wert  belangreich 
zu  verändern. 

Der  höchste  Ausdruck,  mit  dem  die  Religion  zu  operieren 
vermag,  ist  die  Liebe.  Was  bedeutet  ihr  dagegen  das  Erkennen? 
Im  hebräischen  Ausdruck  bedeutet  Erkennen  zugleich  Lieben. 
Um  so  mehr  daher  Lieben  zugleich  Erkennen.  Die  Liebe  hat 
den  Xebenmenschen  geboren.  Das  ist  ein  grosses  Werk, 
das  von  der  Geschichte  der  Ethik  nicht  verkleinert  werden  darf. 
Die  Geschichte  der  Ethik  hat,  wie  alle  Arten  der  sittlichen  Kultur, 
so  vorzugsweise  auch  die  Religion  und  ihre  sittlichen  Ent- 
deckungen zu  ertbrschen  und  zu  würdigen.  Aber  die  systema- 
tische Ethik  muss  ihre  eigenen  Wege  gehen,  sie  darf  sich  von 
der  Sprache  und  von  den  Ausdrücken  der  Religion,  die  im 
strengen  Sinne  niemals  Begriffe  sind,  nicht  gängeln  lassen. 
Daher  müssen  wir  hier  den  Ausdruck  der  Liebe  in  Anspruch 
nehmen  und  in  Frage  stellen. 

Liebe  ist  ein  AfTekt,  und  zwar  auch  in  der  gewöhnlichen 
Bedeutung  dieses  Begriffs,  geschweige  in  der  unsrigen.  Das 
Selbstbewusstsein  aber,  welches  den  Andern  fordert,  darf  nicht 
auf  den  Affekt  allein  gegründet  sein.  Es  beruht  nicht  auf  dem 
AJTekt ;  es  wird  von  dem  reinen  Denken    im   reinen  Willen   ge- 


206  Amor  intellectualis. 

fordert.  Der  Andere  wird  vom  Recht  gefordert.  Und  wir  werden 
sehen,  wie  er  auch  vom  Staate  gefordert  wird,  und  das>  es 
keineswegs  richtig  ist,  dass  im  politischen  Sinne  der  Andere 
ausschliesslich  als  der  Fremde  betrachtet  werden  müsse,  welcher 
die  Einheitlichkeit  des  Staates  bedrohte  und  zu  nichte  machte. 
Der  Andere  wird  von  deA  realen  Mächten  des  wissen- 
schaftlichen Denkens  gefordert;  er  darf  nicht  und  er 
braucht  nicht  dem  Affekt  überantwortet  zu  werden;  auch  der 
Liebe  nicht. 

Wir  können  diesen  Fehler  auch  noch  aus  dem  Begriffe 
des  Affektes  selbst  beurteilen.  Der  Affekt  ist  höchstens  ein 
Suffix,  wenn  er  nicht  nur  ein  Annex  ist.  Hier  aber  wird  er 
selbständig;  tritt  er  an  die  Stelle  des  Willens,  als  ob  im  Willen 
gar  nichts  Anderes  wirksam  wäre  als  nur  er  allein.  So  war  ja 
der  Doppelfehler  bei  Spinoza  entstanden.  Aber  wie  derselbe 
aus  einer  doppelten  Berichtigung  verständlich  wird,  nämlich 
einmal  gegen  die  Begehrung  und  zweitens  gegen  die  Einseitigkeit 
des  Intellekts,  so  zeigt  sich  auch  hier  der  moralische  Sinn  in 
seiner  Vorurteilslosigkeit  und  Energie  als  der  Grund  der  falschen 
Terminologie.  Liebe  allein  und  selbständig  verwirft 
Spinoza.  Wo  Liebe  ist,  da  ist  auch  Hass;  denn  da  ist  Eifer- 
sucht und  Neid.  Und  Barmherzigkeit  verachtet  er,  wie  das 
auch  Kant  in  schneidenden  Worten  tut.  Der  Affekt  darf  nicht 
selbständig  sein  wollen. 

Daher  greift  Spinoza  auf  den  Terminus  zurück,  den  das 
religiöse  Philosophieren  des  Mittelalters  in  allen  Lagern  gebraucht 
hat.  Die  Liebe  wird  Amor  intellectualis.  So  wird  der 
affektive  Charakter  in  der  Liebe  durch  den  Intellekt  korrigiert. 
Aber  das  Hauptwort  bleibt  doch  der  Affekt,  und  der  Intellekt 
wird  nur  zum  Attribut.  Daher  hat  auch  dieser  Terminus  seine 
schweren  Gefahren  Inder  Mystik  gezeitigt.  Und  alle  Verklärung 
durch  den  Pantheismus  hat  es  nicht  verhindern  können,  dass 
die  intellektuale  Liebe  in  der  Unklarheit,  in  der  theoretischen 
Desorientierung  befangen  und  daher  auch  praktisch  und  politisch 
unfruchtbar  blieb. 

Die  Liebe  wurde  dadurch  besonders  zu  einem  bestechlichen. 
Ausdruck  des  Affektes  für  das  sittliche  Selbstbewusstsein,  dass 
die   andere  Person,  auf  welche  die  Liebe  und  somit  das  Selbst- 


Der  Nächste.  207 


bewusstsein  bezogen  wurde,  unter  der  Bezeichnung  des  Nächsten 
in  die  allgemeine  und  höchstgeschätzte  Aufnahme  kam.  Wie 
kann  man  die  andere  Person  enger  und  inniger  mit  dem  Ich 
verknüpfen  als  durch  diesen  unübertrefflichen  Superlativ  des 
Nächsten?  Indessen  wo  der  Superlativ  steht,  da  lauert  der 
Comparativ  im  Hintergrunde.  Es  findet  sich  immer  ein  neuer 
Anlass  zur  Steigerung.  Und  doch  sollte  von  dieser  Wahrheit 
vorzugsweise  das  Dichterwort  gelten :  gibt's  etwa  hier  ein 
Weniger  oder  Mehr?  Wo  die  Steigerung  nicht  bis  auf  jede 
Spur  ausgeschlossen  wird,  da  wird  der  Sinne  Glück  nicht  über- 
wunden. Der  Positiv  enthält  schon  die  Gefahr  in  sich;  es  darf 
sich  hier  überhaupt  nicht  um  Nähe  handeln,  sondern  lediglich 
um  den  Begriff  des  Selbst. 

Wie  ist  die  Nächstenliebe  überhaupt  entstanden?  Im 
hebräischen  Urtext  heisst  es:  Liebe  Deinen  Rea  als  Dich 
selbst.  Rea  ist  der  Andere.  Der  Ausdruck  wird  sogar  von  zwei 
Nägeln  gebraucht,  die  zu  einander  gehören.  Wie  ist  aus  dem 
Andern  nun  aber  der  Nächste  geworden?  Die  Septuaginta  über- 
setzt Rea  mit  Nachbar  (tcXtjoio;).  Dieser  Ausdruck  nimmt  auch  in 
dem  klassischen  Griechisch  die  erweiterte  Bedeutung  der  Nähe 
an.  Und  in  der  römischen  Sprache  sind  ja  die  Verwandten 
die  Nahen  (Propinqui).  Wenn  nun  im  lateinischen  Sprach- 
gebrauche Rea  mit  Proximus  übersetzt  wird,  während  die  Vulgata 
dagegen  mit  dem  nicht  minder  verfänglichen  Amicus  übersetzt, 
so  scheint  durch  den  Superlativ  der  Positiv  der  Verwandten 
überstiegen  zu  sein.  Also  sind  zugleich  mit  den  Blutsverwandten 
auch  die  Stammesverwandten  übertroffen;  und  welche  andere 
Nähe  und  Freundschaft  könnte  es  sonst  noch  geben,  in  welche  die 
Menschen  in  engere  Verbindung  sich  zusammenfügten?  Man  weiss 
aber,  wie  schwer  und  verhängnissvoll  für  das  sittliche  Selbst- 
bewusstsein  der  Fortgang  der  Kultur  diese  Frage  beantwortet  hat. 

Näher  als  Blut  und  Stamm  hat  der  Glaube  die  Menschen 
verkettet.  Und  der  Genosse  des  Glaubens  wurde  zum  eigent* 
liehen  Hausgenossen  (oIxsxtjc;  t^c  maxecot;),  er  erzeugte  jedoch 
unvermeidlich  die  legitime  Ausnahme  von  der  Regel  der 
Nächstenliebe.  Er  wurde  zum  Nächsteren.  Man  kann  es  bei 
Hugo   Grotius  gewahren,   man   braucht   dafür   nicht    auf  die 


208  Die  relativen  Gemeinschaften. 

scholastische  Lileratur  zurückzugreifen,  wie  die  Kriege  mit  den 
unchristlichen  Völkern  dadurch  gerechtfertigt  werden. 

Aber  es  wäre  ungerecht,  für  die  Charakteristik  dieses 
ethischen  Grundgebrechens  bei  der  Religion  stehen  zu  bleiben, 
und  bei  den  Indulgenzen,  zu  denen  alles  religiöse  Denken  sich 
bereit  finden  Hess,  vielmehr  muss  man  auf  die  gesamte  recht- 
liche und  wirtschaftliche  Lage  der  Kultur  hierbei  vorzugsweise 
Rücksicht  nehmen.  In*  einem  neueren  Buche,  auf  das  wir  schon 
in  der  Einleitung  hinweisen  mussten,  ist  dieser  Fehler  er- 
schreckend deutlich  geworden.  Mit  einer  unbefangenen  Buch- 
stäblichkeit ist  da  die  Schablone  des  Nächsten  für  die  Einzäunung 
relativer  Gemeinschaften  verwendet  worden,  so  dass  dieser  zwei- 
deutige Begriff  in  seiner  ganzen  Gefährlichkeit  erscheint. 
Während  der  Sinn  des  Nächsten  doch  schlechterdings  von  ab- 
soluter Geltung  sein  sollte  und  in  der  Devise  auch  so  gemeint 
sein  will,  wird  er  dort  in  eine  genau  berechnete  und  abgemessene 
Stufenleiter  von  Relativitäten  aufgelöst,  damit  man  nur  ja  nicht 
daran  irre  werden  könnte,  dass,  was  die  Religion  fordert,  in  den 
gebührlichen  Ermässigungen  auch  in  der  bürgerlichen  Wirklich- 
keit sich  zu  einer  verständigen  Anwendung  bringen  lasse.  Wer 
aber  wird  an  der  Wahrheit  des  Sprichworts  zweifeln  w^oUen, 
dass  das  Hemd  mir  näher  ist  als  der  Rock. 

All  dieses  Unheil  und  diese  anstössige  Zurückschraubung 
desjenigen  Grundgedankens,  den  man  doch  sonst  als  den  Eck- 
stein der  Religion  ausgibt,  liegt  in  der  falschen  Uebersetzung 
des  Nächsten  begründet.  Nicht  die  Nähe  bildet  das  Problem, 
nicht  ihr  Grad,  und  wäre  er  der  höchste,  nicht  die  Verwandt- 
schaft, nicht  die  Genossenschaft,  nicht  die  Gemeinschaft  selbst: 
das  Selbst  allein  ist  das  Problem.  Und  dieses  Problem  ist  allein 
durch  das  Selbstbewusstsein  zu  bezeichnen,  durch  das  Selbst- 
bewusstsein  des  reinen  Willens.  Ob  ich  das  Selbstbewusstsein 
des  reinen  Willens  erlangen  kann,  wenn  ich  allein  auf  der  Welt 
bin,  wenn  nur  ich  mich  habe,  nur  mich  kenne  und  will,  oder 
aber  ob  ein  Anderer  als  der  Andere  unbedingt  zu  meinem  Selbst 
erforderlich  sei,  das  ist  die  Frage.  Und  der  Sinn  dieser  Frage 
wird  verdunkelt  und  verkümmert,  wenn  aus  dem  Andern  der 
Nächste  wird.  Sagt  man  etwa  von  zwei  Hälften  eines  Ganzen, 
dass  sie  einander  nahe  oder  nächst  wären? 


Die  Nächstenliebe  und  die  aesthetische  Liebe.  209 


Bei  der  Nächstenliebe  ist  aber  die  Skepsis  verborgen,  und 
sie  bildet  dabei  das  unlautere  Versteckenspiel,  dass  man  diesen 
Begriff  des  Selbstbewusstseins  für  eine  poetische  Ueberspanuung 
hält,  die  kein  Mensch  ernst  nehmen  dürfe.  Die  Erweiterung  des 
eigenen  Selbst  zum  Mitgefühl  für  ein  anderes  Selbst,  das  allein 
sei  der  keusche  Sinn  dieser  Nächstenliebe.  Und  man  scheut  sich 
auch  keineswegs,  auf  die  Geschlechtsliebe  Anspielungen  zu  machen 
bei  welcher  diese  Erweiterung  ja  tatsächlich  sich  bis  zu  der 
Ueberspanuung  vollzieht,  dass  man  das  eigene  Selbst  preisgibt, 
wenn  man  es  nicht  leiblich  mit  dem  andern  Selbst  zu  verschlingen 
vermag.  Und  es  ist  nicht  allein  die  sinnliche  Geschlechtsliebe, 
die  dabei  als  evidentes  Beispiel  wirkt;  sondern  auch  die  aesthetische 
Liebe,  die  Liebe,  wie  sie  in  der  Kunst  und  im  Kunstgefühl 
lebendig  wird,  wird  zur  Veranschaulichung  und  zu  mehrerer 
Beglaubigung  herangezogen.  Auch  da  sieht  man,  wie  das  Selbst 
des  Individuums  sich  verliert  in  die  Furcht  und  das  Mitleid  für 
den  leidenden  Helden;  und  wie  es  in  dessen  Erlösung  die  eigene 
Ruhe  und  Beseligung  findet.  Und  doch  sind  alle  diese  Beispiele, 
so  reizvoll  sie  sind,  mangelhaft  und  ablenkend  von  dem  genauen 
Sinn  des  ethischen  Selbstbewusstseins. 

Es  ist  nicht  nötig,  auf  die  schlüpfrigen  Abwege  der  Ge- 
schlechtsliebe für  die  Bedenklichkeit  dieses  Beispiels  Bedacht  zu 
nehmen;  es  sei  denn  in  der  Hinsicht,  in  welcher  es  für  die 
religiöse  Liebe  selbst  so  oft  gefährlich  geworden  ist.  Man  muss 
dabei  schon  die  Grenzen  der  dogmatischen  Kritik  streifen,  wenn 
man  dabei  doch  an  den  Marienkultus  sich  erinnern  muss.  Und 
wie  verführerisch  haben  zu  allen  Zeiten  die  Formen  der  Seelen- 
brautschaft  gewirkt.  Aber  nicht  geringere  Gefahr  liegt  in  der 
aesthetischen  Liebe.  Abgesehen  davon,  dass  die  Ethik  grund- 
sätzlich geschädigt  wird,  wenn  die  Idee  des  Guten  zur  Idee  des 
Schönen  abgeschattet  wird,  so  hat  es  sich  in  der  epigonischen 
Literatur  immer  gezeigt,  wie  leicht  der  Kultus  des  Genies  in  den 
des  Uebermenschen  ausartet. 

Durch  Nichts  hat  sich  D.  Fr.  Strauss  in  seiner  religiösen 
Kritik  so  sehr  geschadet,  wie  durch  den  unklassischen  Gedanken, 
durch  den  er  den  klassischen  Gedanken  der  aesthetischen  Er- 
ziehung vergröbert  hat,  dass  die  Religion  in  Kunst,  in  den  Kultus 
des  Genies  aufzuheben  sei.    Er  hat  es  nicht  an  der  Probe  dafür 

u 


910  Die  mystische  Metaphysik. 


fehlen  lassen,  dass  seine  Rechnung  grundfalsch  war,  indem  er 
von  aller  sozialen  Gesinnung  in  seiner  nationalen  Politik  ent- 
blösst  sich  darstellte.  Aber  auch  bei  Carlyle  sollte  man  vor- 
sichtiger sein,  und  die  gefahrliche  Angrenzung  seiner  ernsthaften 
und  lebendigen  Religiosität  und  Sittlichkeit  an  die  aesthetische 
Verschwommenheit  des  Heroenkultus  nicht  übersehen  und  nicht 
für  unwichtig  halten. 

Die  ungenaue,  die  falsche  Ansicht  von  der  Bedeutung  des 
ethischen  Selbstbewusstseins  wird  endlich  auch  durch  die  an- 
gebliche Metaphysik  bekräftigt.  Sie  wurzelt  in  der  pantheisti- 
schen  Mystik.  In  dieser  hat  sie  ihre  ganze  Kraft;  und  aus  dieser 
bezieht  sie  stets  von  neuem  ihr  Ansehen.  Gott  und  Mensch  sind 
Eins.  Der  Gott  verwandelt  sich  in  einen  Menschen.  Und  der 
Mensch  vermag  sich  in  Gott  zu  versenken;  sein  menschlich  Erb- 
teil zu  verlieren  und  das  göttliche  Wesen  anzunehmen.  Wenn 
der  Mensch  Gott  werden  kann,  wie  sollte  dann  das  Selbstgefühl, 
das  man  für  das  Selbstbewusstsein  hält,  nicht  auch  den  Neben- 
menschen mit  sich  vereinigen  können?  Mit  dieser  Formel  hat 
die  Mystik  aller  Zeiten  ihre  Wunderkreise  gezogen.  Und  die 
Metaphysik  hat  sich  auf  diesem  Boden  angebaut.  In  ihrer  Sprache 
heisstes:  es  gibt  überhaupt  nicht  zwei,  nicht  verschiedene 
Individuen.  In  der  indischen  Weisheit  heisst  es:  der  Schleier 
der  Maja  ist  über  die  Dinge  und  Menschen  dieser  sinnlichen 
Welt  gebreitet.  Und  die  Scholastik  kommt  mit  diesem  Heils- 
gedanken überein,  indem  sie  den  Raum  und  die  Sinnlichkeit 
überhaupt  als  das  Principium  individuationis  bezeichnet. 
Die  Sinnlichkeit  erst  bringt  den  Schein  der  Individuen  hervor; 
in  Wahrheit  gibt  es  gar  keine  Individuen.  Das  ist  dieser  Weis- 
heit letzter  Schluss. 

Sofern  es  scheinbar  dennoch  aber  Individuen  gibt,  so  ent- 
steht daher  die  Möglichkeit  einer  Ethik,  die  sonst  entfallen 
würde.  Die  Aufgabe  dieser  Ethik  ist  es,  diesen  Schein  der  Indi- 
vidualität aufzuheben;  den  Willen,  als  den  Willen  des  indivi- 
duellen Daseins  zu  verneinen  und  das  Individuum  zu  vernichten. 
Diesen  empörenden  Widersinn  nennt  man  heutzutage  Metaphysik 
und  Philosophie,  weil  es  Schopenhauer  nicht  an  Wissen,  noch 
an  Talent  gefehlt  hat,  diesen  Wahnsinn  mit  dem  Schein  von 
Denken   und   Gelehrsamkeit   auszustatten.    Es   gibt   aber  keinen 


Das  sinnliche  Individuum.  211 


unversöhnlichem  Gegensatz,  als  welchen  dieser  Gedankenwust 
gegenüber  den  Systemen  Piatons  und  Kants  bildet. 

In  allen  diesen  dem  genauen  Begriffe,  welchen  das  Selbst- 
bewusstsein,  als  das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens,  bildet 
widerstrebenden  und  widersprechenden  Begriffen  des  Selbst  und 
seiner  angeblichen  Versittlichung  bleibt  dies  der  Grundfehler, 
dass  es  sich  in  ihnen  allen  im  letzten  Grunde  um  die  leibliche 
Darstellung  der  Person  handelt.  Freilich  soll  es  nicht  bei  der 
Leiblichkeit  verbleiben.  Aber  das  ist  es  eben,  dass  sie  es  ist, 
welche  vergeistigt  werden  soll.  Wenn  sie  daher  noch  so  sehr 
verfeinert  und  verhimmelt  wird;  die  Vergöttlichung  selbst  bessert 
Nichts  an  diesem  Grundfehler:  die  Person  bildet  das  Niveau, 
w^elches  nur  verlegt  und  gehoben  werden;  welches  nicht  ver- 
ändert werden  kann.  Das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens 
dagegen  muss  das  Niveau  verändern;  denn  der  reine  Wille  ist 
nicht  unmittelbar  von  dem  leiblichen  Material  der  Person  abge- 
zogen, er  ist  auf  das  Denken  und  die  Handlung  angewiesen;  und 
auch  der  Affekt,  der  dabei  mitwirkt,  so  sehr  er  aus  den  ver- 
schiedenen Gefühlsluftarten  seinen  Atem  bezieht,  vermag  sich 
doch  zur  Aufgabe  aufzuschwingen  und  zu  objektivieren.  So  wird 
das  Selbstbewusstsein  durch  ihn  selbst  zur  Aufgabe;  auch  wenn 
das  Denken  nicht  dahin  den  Schwerpunkt  verlegen  würde.  Auf- 
gabe ist  das  Selbstbewusstsein,  und  bleibt  es;  nicht  aber  bildet 
es  den  noch  so  seelisch  gedachten  Zusammenhang  der  Glied- 
massen und  ihrer  Funktionen.  Diesen  Zusammenhang  könnte 
allenfalls  die  Einheit  des  Bewusstseins  bedeuten;  das  Selbst- 
bewusstsein bedeutet  mehr,  als  was  in  diesem  Sinne  die  Einheit 
des  Bewusstseins  zu  besagen  hat.  Das  Selbstbewusstsein  ist  nicht 
das  des  Denkens,  noch  das  einer  andern  Bewusstseinsrichtung 
als  der  des  sittlichen.  Das  Selbstbewusstsein  darf  nicht  ver- 
wechselt werden  mit  dem  Ich  der  Erkenntniss;  und  auch  nicht 
mit  dem  des  aesthetischen  Gefühls.  Es  ist  einzig  und  allein  als 
das  Problem  des  sittlichen  Bewusstseins,  als  das  des  reinen 
Willens  zu  denken. 

Der  Begriff  des  reinen  Willens  erfüllt  sich  erst  in  ihm. 
Denn  was  wäre  die  Handlung,  wenn  sie  nicht  ihr  eigentliches 
Ziel  in  dem  Selbstbewusstsein  des  Willens  hätte?  Wir  haben  es 
schon   betrachtet,   dass   der  Ausschluss   des  Objekts  an  sich  aus 

14« 


212    Die  religiöse  und  die  juristische  Fassung  des  Selbstbewusstseins. 

dem  reinen  Willen  den  Einschluss  des  Subjekts  bedeutet.  Der 
reine  Wille  will  kein  äusseres  Objekt,  als  ein  gegebenes,  als  ein 
ihn  bestimmendes;  er  will  nur  in  der  Handlung  sich  selbst  ent- 
äussern, sich  selbst  entfalten.  Daher  ist  aber  auch  die  Handlung 
nichts  Anderes  als  diese  Selbstentfaltung  des  Willens;  als  diese 
Entfaltung  des  Willens  zum  Selbst;  als  die  Erzeugung  des  Selbst- 
bewusstseins, als  des  Selbstbewusstseins  des  reinen  Willens. 

Wir  sind  schon  darauf  aufmerksam  geworden,  dass  besser 
als  an  den  religiösen  und  sonstigen  moralischen  Beispielen  die 
Rechtswissenschaft  diesen  Begriff  des  WoUens  und  der  Handlung 
darzustellen  und  klar  zu  machen  vermag.  Und  auch  darauf 
hatten  wir  schon  vorläufig  Bezug  genommen,  dass  der  Begrifl 
des  Selbstbewusstseins  in  diesem  Bereiche  sich  zu  genauer 
Praegnanz  werde  bringen  lassen.  Diese  Bedeutung  der  juristischen 
Technik  haben  wir  nunmehr  ins  Licht  zu  setzen.  Wenn  es 
gelingt,  für  das  Problem,  für  den  BegrifT  des  ethischen  Selbst- 
bewusstseins die  Rechtswissenschaft  als  eine  unzweideutigere  und 
fruchtbare  Quelle  kenntlich  zu  machen  und  zu  legimitieren,  als 
welche  man  bisher  in  Religion  und  Poesie  anzusprechen  gewohnt 
war,  so  dürfte  damit  der  Zusammenhang  zwischen  Ethik 
und  Recht  unverbrüchlich  gesichert,  andererseits  aber  auch  von 
einer  neuen  Seite  das  Problem  der  Rechtsphilosophie 
behauptet  werden. 

Fassen  wir  zunächst  den  Unterschied  ins  Auge,  der 
zwischen  der  juristischen  und  der  religiös-sittlichen 
Auffassung  des  Selbstbewusstseins  besteht.  Die  religiöse 
Ansicht  fasst  das  Selbstbewusstsein  im  besten  Sinne  objektiv;  in 
Bezug  auf  den  Andern,  der  mit  dem  Selbst  zu  vereinigen  sei. 
Zwar  gilt  es  in  letzter  Instanz  auch  das  eigene  Selbst,  dessen 
Heil  und  Frieden  begründet  werden  soll;  aber  der  Umfang  des 
Begriffs  bildet  von  diesem  Ausgange  aus  die  eigentliche  Schwierig- 
keit. Daher  geht  die  Forderung  und  die  Aufgabe  auf  diesen 
objektiven  Umfang,  den  der  Begriff  gewinnen  muss. 

Im  Rechte  dagegen  bildet  dieser  Umfang  gar  keine  Schwierig- 
keit. Es  tritt  gar  nicht  in  Frage,  ob  und  wie  der  Contrahent  in 
Bezug  auf  sein  Ich  mit  dem  andern  Contrahenten  in  Bezug  auf 
dessen  Ich  vereinigt  werden  könne,  oder  solle.  Denn  an  diesen 
Ichs   werden   nur  Merkmale    und    Kennzeichen   in  das  Interesse 


Die  juristische  Person.  213 


bezogen,  welche  für  dasselbe  durch  das  Denken  objektivierbar 
sind.  Die  Handlung  selbst,  wie  sehr  auch  in  ihr  der  AtTekt  mit- 
wirken muss,  tritt  als  Rechtshandlung  nur  in  diesen  objektiven 
Kriterien  in  die  Erscheinung.  So  zieht  sich  für  den  juristischen 
Begriff  des  Selbstbewusstseins  Alles  auf  das  eine  Subjekt  zurück; 
und  es  ergeht  keine  F'orderung  von  diesem  einen  an  das  andere 
Subjekt,  welches  mitgedacht  wird,  um  sich  etwa  als  Subjekt  mit 
dem  ersten  zu  vereinigen.  Die  Forderung  der  Vereinigung  er- 
streckt sich  und  beschränkt  sich  auf  die  Vereinigung  zur  Rechts- 
handlung; also  zur  Erzeugung  eines  Rechtsinhalts,  eines  Rechts- 
verhältnisses; aber  nicht  etwa  zur  seelischen  oder  geistigen 
Verschmelzung  von  Subjekten.  Auf  die  Entäusserung  des  Sub- 
jekts nach  seinem  sonstigen  geistigen  und  seelischen  Inhalt  und 
seine  Isolierung  auf  die  Handlung  allein  kommt  es  an.  Daher 
bleibt  der  Umfang  hier  subjektiv;  auf  das  Eine  Subjekt  bezogen. 
Denn  was  von  dem  einen  gilt,  das  gilt  demgemäss  auch  vpn  dem 
andern.  Das  andere  Subjekt  ist  hier  nicht  ein  neues  Problem; 
es  bezeichnet  nicht  das  Problem  des  Andern.  Und  es  gilt  hier 
nicht  die  Forderung  und  die  Aufgabe  der  Vereinigung  des  Andern 
mit  dem  Selbst. 

Dieses  im  höchsten  Masse  und  Sinne  instruktive  und  metho- 
dische Problem,  welches  die  Rechtswissenschaft  der  Ethik  darzu- 
bieten vermag,  bildet  der  Begriff  der  juristischen  Person 
wie  er  sich  von  dem  Privatrecht  in  das  Staatsrecht  hinein  ent- 
wickelt, und  daher  zum  methodischen  Grundbegriffe  der  sozialen 
Politik  und  der  mit  derselben  verbundenen  reinen  Ethik  wird. 
Denn  die  reine  Ethik  ist  die  PZthik  des  reinen  Willens.  Der 
reine  Wille  aber  gibt  sich,  wie  wir  es  nunmehr  erkennen  wollen, 
in  der  Rechtswissenschaft  und  Staatslehre  mit  wissenschaftlicher 
Genauigkeit  und  Unzweideutigkeit  kund.  Daher  muss  die  reine 
Ethik  die  Ethik  der  Rechts-  und  Staatslehre  sein. 

Die  Ethik  muss  selbst  als  Rechtsphilosophie  sich 
durchführen.  Denn  alle  die  logischen  Probleme,  die  dabei  als 
Bedingungen  und  Voraussetzungen  mitzuwirken  haben,  sie  müssen 
in  den  Problemen  der  Ethik  selbst  zur  Ausführung  kommen,  so 
dass  auch  von  dieser  Seite  zwischen  der  Ethik  und  der  Rechts- 
philosophie kein  Unterschied  bestehen  bleibt.  Von  dem  metho- 
dischen Unterschiede,   der    für  die  Ausführung  einzelner  begriff- 


2L4     Das  methodische  Verhältniss  von  Ethik  und  Rechtswissenschaft 


lieber  Fragen  anerkannt  und  festgehalten  werden  kann,  darf  für 
die  allgemeine  Fassung  des  Problems  füglicb  abgesehen  werden. 
Die  Rechtswissensebaft  einscbliesslicb  der  Staatslehre  bedarf  der 
Ethik.  Das  ist  die  alte  Forderung,  in  welcher  die  Rechtsphilo- 
sophie zu  allen  Zeiten  im  tiefsten,  eigentlichen  Sinne  sich  be- 
hauptet und  ihr  Recht  geltend  gemacht  hat. 

Die  Rechtswissenschaft  bedarf  der  Ethik  zu  ihrer  eigenen 
Grundlegung.  Es  darf  in  keiner  Weise  zugestanden  werden,  was 
Stammler  in  seinem  Buche  vom  Richtigen  Rechte  unternimmt, 
das  Recht  richtig  zu  machen,  ohne  den  Grund  der  Richtigkeit 
in  der  Ethik  festzulegen  und  festzuhalten.  Das  ist  Aufgeben, 
Preisgeben  der  Ethik  und  der  Philosophie.  Es  darf  nicht  zu- 
gestanden werden,  dass  zuerst  selbständig  und  schlechterdings 
unabhängig  das  Recht  seine  eigenen  Wege  ginge;  und  dass  hinter- 
her erst  die  Ethik  kommen  dürfte,  als  die  Ethik  des  Individuums 
und  der  Gesinnung.  Denn  es  gibt  keine  Gesinnung  ohne  Hand- 
lung; kein  Individuum  im  ethischen  Sinne  ohne  Rechts- 
gemeinschaft.  Auf  diese  Verirrung  kann  man  nur  geraten, 
wenn  man  aus  der  Ethik  im  Handumdrehen  die  Religion  macht, 
die  es  dann  eben  mit  jenen  Begriffen  der  Gesinnung  und  des 
Individuums  zu  tun  hat.  Die  philosophische,  die  systematische 
Ethik  kommt  nicht  hinterher,  nachdem  die  Rechtswissenschaft 
sich  eingerichtet  und  sich  richtig  gemacht  hätte.  Das  ist  so 
wenig  der  Fall,  als  dieses  nachhinkende  Verhältniss  zwischen 
der  Logik  und  der  mathematischen  Naturwissenschaft  statt- 
haft ist,  und  dem  methodischen  Sachverhalte  entspricht. 

Die  mathematische  Naturwissenschaft  erhebt  nicht  geringern 
Anspruch  auf  Eigenart  und  Selbständigkeit  als  die  Rechtswissen- 
schait ;  und  sie  vermag  vielleicht  mit  einem  grössern  Anschein 
von  Befugniss  und  von  methodischer  Vorsicht  diesen  Anspruch 
zu  begründen.  Dennoch  aber  muss  er  abgewiesen  und  zurück- 
geschlagen werden.  In  dieser  Abwehr  betätigt  und  bezeugt  sich 
die  weltgeschichtliche  Eigenart  und  Selbständigkeit  der  Philo- 
sophie und  insbesondere  der  Logik.  Und  diese  Abwehr  begründet 
die  wissenschaftliche,  die  kritische  Philosophie;  die  Philosophie 
Kants.  Und  die  Philosophie  Kants  bildet  ein  System. 
Wer  dieses  System  in  der  Ethik  zerschlägt,  der  hat  es  auch  in 
der  Logik  zerbrochen.     Da  ist  Alles  Einheit,  von  der  man  nicht 


Der  Mangel  in  der  Disposition  der  transscendentalen  Methode.     215 

einen  Teil  wegnehmen  kann.  Die  transscendentale  Methode  kann 
nicht  für  die  Logik  aufgenommen,  für  die  Ethik  aber  verworfen 
werden.  Wie  die  Logik  in  der  Physik  enthalten  ist,  so  muss 
sie  aus  der  Physik  ermittelt  werden.  Und  wie  die  Physik 
sonach  in  der  Logik  wurzelt,  so  muss  auch  das  Recht 
in  der  Ethik  seine  Wurzel  haben;  so  muss  daher  auch 
aus  der  Rechtswissenschaft  die  Ethik  ermittelt  und  in 
ihr  begründet  werden. 

Das  ist  die  neue  Position,  die  wir  hier  der  Ethik  geben 
Während  Kant  zwar  auch  metaphysische  Anfangsgründe  der 
Naturwissenschaft  geschrieben  hat,  dennoch  aber  in  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  die  eigentlichen  metaphysischen  Grundlagen 
der  Naturwissenschaft  ermittelt  und  aufgerichtet  hat,  so  ist  er 
anders  in  der  Ethik  verfahren.  In  der  Kritik  der  praktischen 
Vernunft  hat  er  keinesw^egs  in  einer  nur  irgend  vergleichbaren 
Weise  auf  die  Rechtswissenschaft  Bezug  genommen  und  an  ihr 
sich  orientiert,  wie  dort  an  der  Naturwissenschaft.  Er  hat  viel- 
mehr das  analoge  Faktum  einer  Wissenschaft  als  ein  Desiderat 
bezeichnet,  und  dagegen  nur  das  Analogon  eines  Faktums  in 
Anspruch  genommen.  Daher  ist  der  Unterschied  entstanden, 
in  dem  das  Recht  bei  ihm  später,  nämlich  in  seinen  metaphy- 
sischen Anfangsgründen  der  Rechtslehre  der  Ethik  gegenüber 
befangen  ist.  Wir  werden  auf  diesen  Unterschied  zwischen  Recht 
und  Sittlichkeit  noch  zurückzukommen  haben.  Hier  soll  nur 
hervorgehoben  werden,  dass  Kant  die  Anwendung  der  trans- 
scendentalen Methode  hier  fallengelassen  hat;  dass  er  die 
Deduktion  der  Ethik  nicht  an  der  Rechtswissenschaft  vollzogen 
hat„  wie  die  der  Logik  an  der  Naturwissenschaft. 

Es  kann  aber  keine  Frage  sein,  dass  hierdurch  ein  unheil- 
barer Fehler  in  den  Begriff  der  transscendentalen  Methode 
kommen  musste.  Denn  wenn  sie  für  die  Logik  gilt,  warum 
sollte  sie  nicht  auch  für  die  Ethik  gelten  müssen?  Freilich 
handelt  es  sich  in  ihr  nicht  um  Wissenschaft  im  Sinne  der 
Naturwissenschaft ;  aber  wahrlich  doch  auch  um  Erkenntniss ; 
doch  wahrlich  nicht  nur  um  Glauben.  Dann  würde  ja  die 
Ethik  sich  in  Religion  wieder  auflösen ;  während  die  Theologie 
vielmehr  Ethiko- Theologie  werden,  also  in  der  selbständigen 
Ethik    gegründet    werden    sollte.     In    der  Tat    liegen    hier   alle 


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Die  Stiftungen  und  die  Genossenschaften.  217 

Arbeit  der  Rechtsphilosophie  in  der  Ethik  auf  die  GrundbegrifTe 
beschränkt,  welche  analog  und  teilweise  im  Zusammenhange  mit 
den  Grundbegriffen  der  Naturwissenschaft  als  die  erzeugenden 
Begriffe  der  Rechtswissenschaft,  die  wir  daher  bereits  als  die 
Mathematik  der  Geisteswissenschaften  bezeichnet  haben, 
nachweisbar  werden.  Unter  diesen  Grundbegriöen  ist  es  der  des 
Subjekts,  auf  den  es  in  den  Geisteswissenschaften  in  analoger 
Weise  ankommt,  wie  in  den  Naturwissenschaften  auf  den  des 
Objekts.  Diesen  Begriff  des  ethischen  Willenssubjekts 
wollen  wir  an  dem  Begriffe  der  juristischen  Person 
prüfen  und  beglaubigen. 

Im  Römischen  Rechte  tritt  das  Problem  der  juristischen 
Person  in  den  Stiftungen  (piae  causae)  auf;  im  Deutschen  Rechte 
prägt  es  sich  praegnanter  aus  in  den  Genossenschaften.  Die 
Stiftungen  sind  doch  vorzugsweise  in  Gütern  objektiviert;  das 
Verhältniss  zu  den  Personen  tritt  nicht  unmittelbar  hervor.  In 
der  Genossenschaft  ist  dagegen  die  Beziehung  auf  die  Genossen, 
mithin  auf  die  Personen  unmittelbar  gegeben.  Bei  dieser 
immanenten  Beziehung  auf  die  Person  wird  es  nun  in  aus- 
nehmender Weise  lehrreich,  dass  die  Genossenschaft  in  ihrem 
rechtlichen  Charakter  in  Gegensatz  tritt  zu  der  physischen 
Person;  zu  der  Person,  wie  sie  gewöhnlich  als  Einzelwesen 
gedacht  wird. 

Und  mit  diesem  Gegensatze  gegen  die  einzelne 
Person  tritt  zugleich  auf  der  Gegensatz  gegen  einzelne 
Interessen  und  einzelne  Zwecke,  als  solche  der  einzelnen 
Person.  Mit  dem  Gegensatz  gegen  die  einzelne  Person  verbindet 
sich  demnach  der  Gegensatz  gegen  den  einzelnen  Gegenstand 
und  den  vereinzelten  Zweck.  Auch  die  Objekte  treten 
homogen  in  die  Sphäre  der  Genossenschaft  ein.  Dies  wird 
nur  dadurch  möglich,  dass  sie  in  den  Begriff  der  Handlung  auf- 
genommen werden.  Und  so  verbinden  sich  alle  Momente,  welche 
das  Problem  des  Subjekts  der  Handlung  und  des  Willens  aus- 
machen. Es  entsteht  in  der  Genossenschaft  das  Problem 
des  Rechtssubjektes. 

In  dem  Begriffe  des  Rechtssubjekts  scheint  sich  das  Problem 
der  Rechtswissenschaft  mit  dem  der  Ethik  schlechterdings  zu 
vereinigen;  sofern  man  einerseits  den  sittlichen  Charakter  für  das 


218  Die  Gesamtheit  der  WiUen. 


Rechtssubjekt  nicht  fahren  iässt,  und  andererseits  die  ethische 
Person  eines  mystischen  Nimbus  entkleidet  Es  wäre  nun  aber 
grundfalsch,  Person  und  Mensch  gleichzusetzen.  Die 
Person  ist  von  Anfang  an  eine  Abstraktion;  wie  sie  denn  auch 
in  der  Maske  des  Schauspielers  als  solche  in  die  Erscheinimg  tritt 
Der  Mensch  mag  als  ein  Einzelwesen  gegeben  scheinen;  die 
Person  dagegen  ist  eine  Abstraktion  des  Rechts;  wie  das  Rechts- 
subjekt eine  solche  ist.  Es  kann  auch  nicht  zur  Lösung  des 
Problems  führen^,  wenn  man  mit  I bering  das  Rechtssubjekt  zum 
Destinatar  macht;  denn  es  kommt  nicht  allein  und  nicht  in 
erster  Linie  auf  den  Zweck  an.  sondern  auf  den  Urheber  und 
Disponenten   des  Vertrages,   auf  dem  die  Genossenschaf)  beruht. 

Der  Grund  des  Problems  liegt  in  der  Kraft  und  Richtung 
des  Willens.  Der  Wille  beruht  und  besteht  in  seiner  Einheit; 
dass  er  nicht  in  ein  Ungefähr  von  Velleitäten  zerflattert  Die 
Einheit  des  Rechtssubjekts  vollzieht  und  bewährt  sich  demgemäss 
in  der  Einheit  des  Willens.  Das  ist  nun  eben  das  Auffallige,  das 
Interessante  und  das  entscheidend  Lehrreiche  in  dem  Begriffe 
der  Genossenschaft,  dass  es  sich  in  ihr  doch  nicht  um  einen 
einzelnen  Willen,  nicht  um  den  Willen  eines  Einzelnen  handelt; 
und  dass  gerade  dieser  Wille  mehrerer  Personen  nicht  als 
ein  gespaltener  Wille  gilt:  sondern  dass  in  ihm  und  nur 
in  ihm  die  echte  Einheit  des  Willens,  und  demgemäss 
der  Begriff  des  Rechtssubjekts  zu  seiner  exakten  Geltung 
gelangt 

Diese  mehreren  Willen  vereinigen  sich  in  einen  Gesamt- 
willen auf  Grund  dessen,  dass  die  mehreren  Personen  in  eine 
Gesamtheit  sich  vereinigen.  Welcher  Begriff  stellt  diese 
Gesamtheit  dar?  Durch  welchen  Begriff  wird  sie  gerechtfertigt? 
Durch  den  der  Mehrheit,  oder  aber  den  der  Allheit?  Die  Frage 
betrilTl  das  vorliegende  Problem;  sie  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck 
desselben.  Denn  der  Unterschied  der  Allheit  von  der 
Mehrheit  liegt  in  der  logischen  Befugniss  der  unendlichen  Zu- 
sammenfassung der  einzelnen  Glieder,  welche  demzufolge  als 
einzelne  nicht  ferner  in  Frage  kommen. 

Wenn  die  Genossenschaft  als  Gesamtheit  diesen  logischen 
Charakter  der  Allheit  anzunehmen  fähig  wird,  so  kann  diese 
""^higung  sich  nur  auf  die  Willenshandlung  beziehen,  in  welcher 


Die  juristische  Person  eine  Fiktion?  219 

ihre  rechtliche  Tätigkeit  und  ihr  rechtliches  Dasein  besteht. 
Diese  Rechtshandlung  wird  durch  den  Beschluss  gebildet,  den 
die  einzelnen  Mitglieder  dieser  Korporation  zu  fassen  haben.  Der 
Beschluss  ist  gleichsam  der  Zusammenschluss  der 
einzelnen  Willen  in  einen  einheitlichen  Willen.  Dieser 
einheitliche  Wille  gehört  keinem  dieser  Einzelwillen  an;  er  ist 
ein  Gesamtwille.  Das  ist  aber  wiederum  der  problematische 
Ausdruck,  auf  den  von  Neuem  die  Frage  zu  richten  ist:  ob  er 
ein  AUheits-  oder  nur  ein  Mehrheitswille  sei. 

Es  wird  von  juristischer  Seite  ausgesprochen,  dass  dieser 
Gesamtwille  nicht  die  Summe  der  immerhin  fortbestehenden 
Willen  repräsentiere;  sondern  dass  er  diese  vertilgt  und  sich  an 
ihre  Stelle  gesetzt  habe.  Und  nichtsdestoweniger  ist  dieser  re- 
präsentative, dieser  ideale  Wille  der  eigentlich  reale;  denn  von 
seinem  Beschlüsse,  von  dem  Beschlüsse,  der  sich  nur  auf  ihn 
bezieht,  hängt  der  Wille,  und  somit  das  Rechtssubjekt  der  Ge- 
nossenschaft ab.  Dieser  geeinte  repräsentative,  ideale 
Wille  bildet  die  Einheit  des  Willens  und  die  Einheit 
der  Person;  den  Begriff  der  juristischen  Person. 

Es  wird  nun  aber  die  grosse  idealistische  Aufklärung, 
welche  in  diesem  Begriffe  der  juristischen  Person  die  Rechts- 
wissenschaft der  Ethik  zuführt,  dadurch  abgeschwächt,  dass  man 
diesen  grundlegenden  Begriff  als  eine  Fiktion  zu  bezeichnen 
pflegt.  Man  verkennt  damit  die  Bedeutung  der  Hypothesis, 
welche  und  sofern  sie  der  Fiktion  zuzuerkennen  ist.  Doch  das  gilt 
nur  allgemein  für  diesen  Begriff.  Hier  aber  besteht  der  grössere 
Schaden  darin,  dass  dadurch  die  Annahme  wieder  bekräftigt 
wird,  als  ob  nur  die  Person,  die  physische  Person  Rechtssubjekt 
sein  könnte;  so  dass  die  Genossenschaft  nur  als  Fiktion  einer 
Person  gedacht  werden  dürfe.  Dahingegen  schafft  der  Begriff 
der  juristischen  Person  in  der  Genossenschaft  eine  neue  Art  von 
Willen,  eine  neue  Art  von  Selbstbewusstsein,  und  demgemäss  eine 
neue  Art  von  Rechtssubjekt.  Daher  ist  dieser  Begriff  nicht 
als  Fiktion  zu  bezeichnen;  sondern  es  ist  ihm  der  Grund- 
wert der  Hypothesis  zuzusprechen.  Es  ist  die  Hypothesis 
des  ethischen  Selbstbewusstseins,  des  ethischen  Subjektes,  welche 
sich  vollzieht  in  der  juristischen  Person  der  Genossenschaft. 


220  Die  Diskussion  zwischen  Heusler  und  Gierke. 

Diesen  methodischen  Wert  erkennen  wir  in  der  DiskuvMon« 
welche  zwisi^hen  Heusler  und  Gierke  geführt  wird.  Heusler 
macht  den  Gharakter  der  juristischen  Person  für  die  (ienoHsen- 
schall  geltend,  und  zwar  im  Unterschiede  von  der  Gemeinder- 
si*han,  der  Gesamthand,  wo  das  (iut  dem  Dritten  durch  die 
Gemeinder  communihus  manihus  aufgelassen  werden  muss. 
Kine  solche  sinnliche  Zusammenwirkung  der  Willen  hraucht  Ihm 
der  (ienossenschan  nicht  stattxurm<ien;  bei  ihr  treten  die 
Kinzelnen  als  solche  zurück.  (Werke  dagegen  lehnt  den  li«*;;rilT 
<ier  juristischen  Person  für  die  (ienossenschatt  ah.  Kr  nuisN  sich 
daher  in  eine  schwierige  Abstraktion  liegeben,  um  die  Art  dor 
(lesamtheit  zu  bestimmen,  welche  die  Genossenscluin  darslellt 
Kr  hebt  den  l'nterschied  zwischen  der  Kinheit  und  der  Vicilieit 
in  ihr  auf;  ist  dies  aber  durchzuführen?  Kr  muss  vielmehr  m»- 
wohl  die  Kinheit,  wie  «lie  Vielheil  festhallen:  er  versteigt  sich  /u 
dem  (ledanken  der  Identilizierung  von  Kinheit  und  Vielheit  Ist 
diese  Identifizierung  alu'r  möglich,  wenn  sie  sich  in  einem 
andern  Ik^grifVe  vollzieht,  der  W(*<ier  Vielheil,  nfK*h  Kinheit  im 
;;rw(  dm  liehen  Sinne  ist? 

Kine  Gesamtheit  \on  (ienossrn  ohne  irgend  nn eiche  br;;n(1- 
liehe  Trennung  ihrer  einheitlichen  und  vielheitlichen  Seitr.  du* 
<iesamtheit  sowohl  in  ihrer  einheitlichen,  ^ie  in  ihrer  \ielhrit* 
liehen  .Vite,  das  ist  eine  Formulierung,  der  man  die  Kmplimiunu 
der  logischen  Schwierigkeit  anmerkt,  welche  jedtH'h  Mm  iler 
Kiisung  abirrt;  tienn  sie  \ereinbarl  BegritTe,  die  nach  der  '^*" 
wohnlichen  Ansicht  sich  wi<lersprechen;  und  sie  umgeht  «len 
fundamentalen  Begriff,  durch  welchen  das  jurislixcbe  Problem, 
wie  «las  ethische,  formulierbar  un<l  Insliar  wird. 

Auch  in  Bezug  auf  das  Objekt  \ erirrt  sich  (Üerke  Ih-i  drr 
Verbindung  \(m  Kinheit  und  Vielheit.  Das  genosM*nM'haft liehe 
(•esamteigenlum  ist  nach  ihm  ein  Bechtsverhaltniss.  welcht^s  auf 
der  Verbindung  \on  (iesamteinheilsrecht  und  (iesamtxielhnls. 
recht  beruhe  Diesrs  Gesamtx  iellteitsrecht  ist  ein  ne;;ali»i's 
Musirr beispirl  für  den  notwendigen  Wert  der  Allheit  Vielheit 
ist  nicht  <iesamtheit;  Vielheit  ist  Mehrheit.  Gesumthnt 
ist  Allheit  Kinheit  ist  \or/ugsweise  Allheit;  sonst  nur 
K i  n / e  1  h e  i t .  \%  e  1 1* h e  d e r  Mehrheit  / ti g e  li ort.  Dan  ist  der 
Fell  1er    in    dieser    ganzen  (>|HTati(»n    mit    den  P.egrifTen    Kinheit, 


Die  Einheit  der  Allheit.  221 


Vielheil  und  Gesamtheit,  bei  der  der  Begriff  der  juristischen 
Person  vermieden  werden  soll,  als  bildete  sie  eine  paradoxere 
Fiktion  als  diese  versuchte  Identifizierung  von  Einheit,  vielmehr 
Einzelheit,  und  Vielheit. 

Und  doch  ist  der  Unterschied  der  Einheit  von  der 
Einzelheit,  zwar  nicht  als  Allheit,  aber  doch  in  der  Richtung 
der  Zusammenfassung  an  dem  Problem  der  Person,  nämlich  der 
Seele  bei  Piaton  schon  zum  Austrag  gekommen;  die  Einheit  ist 
die  Einheit  der  Seele  (sv  v.  '^^yr^).  So  ist  die  Einheit  nicht  in 
der  Zahl  zur  Entdeckung  gekommen;  denn  dort  ist  sie  ursprüng- 
lich auch  nur  Einzelheit.  Die  ideale  Einheit,  die  Grundlage  der 
Zahl,  die  Grundzahl  ist  erst  als  Uebertragung  von  dieser  seelischen, 
geistigen  Einheit  entstanden.  Diese  Einheit  darf  nicht  mit  der 
Vielheit  verwechselt,  geschweige  identifiziert  werden.  Sie  ist 
Allheit.  Und  das  ethische  Beispiel  dieser  Allheit  ist  die  juristische 
Person,  als  das  Rechtssubjekt  der  Genossenschaft,  in  welcher  die 
Vielheit  verschwindet;  und  die  Allheit,  und  in  ihr  die  Einheit 
an  deren  Stelle  tritt.    Sie  ist  die  Einheit  der  Allheit. 

Gegen  diese  Lösung  des  Problems  der  juristischen  Person 
erhebt  sich  abei  jun  immer  von  Neuem  das  Bedenken,  dass 
doch  die  eigentliche  Einheit  der  Person  in  dem  Einzelwesen 
sich  darstelle;  und  dass  man  die  Sache  auf  den  Kopf  stelle,  w^enn 
man  das  Einzelwesen  zur  Illusion,  die  Allheitseinheit  dagegen 
zum  realen  Rechtssubjekt  mache.  Es  scheint,  als  ob  dieses  Be- 
denken unwiderlegbar;  als  ob  dagegen  kein  logisches  Kraut 
gewachsen  wäre.  Und  auf  der  Stärke  dieses  Vorurteils  beruht 
nicht  nur  der  psychologische  Naturalismus;  sondern,  was 
schlimmer  ist,  der  ethische  Materialismus. 

Gegen  dieses  Vorurteil  dürfen  wir  uns  nun  aber  auf  die 
Logik  der  reinen  Erkenntniss  berufen,  w^elche  die  Einzelheit 
als  Einheit  gestrichen,  und  in  der  Mehrheit  aufgehoben  hat. 
Den  besondern  Wert,  der  der  Einzelheit  beiwohnt,  hat  sie  jedoch 
in  dem  Problem  der  Empfindung  zum  Ausdruck  und  zur 
Anerkennung  gebracht.  Demzufolge  ist  die  Einzelheit  aus  der 
Ordnung  der  constitutiven  GrundbegrilYe  ausgeschieden,  und  in  die 
der  modalen,  methodischen  ForschungsbegrifTe  verwiesen  worden. 
Die  constitutiven  Kategorieen,  wie  die  der  Realität,  der  Allheit 
lösen  ihr  Problem  in  sich,  insofern  sie  es  delinieren.    Die  modalen. 


220  Die  Diskussion  zwischen  Heusler  und  Gierke. 

Diesen  inetliodischen  Werl  erkennen  wir  in  der  Diskussion,  • 
welche  zwischen  Heusler  und  Gierke  geführt  wird.  Heusler 
macht  den  Charakter  der  juristischen  Person  für  die  Gcnossen- 
schalt  geltend,  und  zwar  im  Unterschiede  von  der  Gemeinder- 
schaft, der  Gesamthand,  wo  das  Gut  dem  Dritten  durch  die 
Gemeinder  communibus  manibas  aufgelassen  werden  muss. 
Eine  solche  sinnliche  Zusammenwirkung  der  Willen  braucht  bei 
der  Genossenschaft  nicht  stattzulindcn:  bei  ihr  treten  die 
Einzelnen  als  solche  zurück.  Gierke  dagegen  lehnt  den  Begriff 
der  juristischen  Person  für  die  Genossenschaft  ab.  Er  muss  sich 
daher  in  eine  schwierige  Abstraktion  begeben,  um  die  Art  der 
Gesamtheit  zu  bestimmen,  welche  die  Genossenschaft  darstellt. 
Er  hebt  den  Unterschied  zwischen  der  Einheit  und  der  Vielheil 
in  ihr  auf;  ist  dies  aber  durchzuführen?  Er  muss  vielmehr  so- 
wohl die  Einheil,  wie  die  Vielheil  festhalten;  er  versteigt  sich  zu 
dem  Gedanken  der  Identilizierung  von  Einheil  und  Vielheit.  Ist 
diese  Idenlifizicrung  aber  möglich,  wenn  sie  sich  in  einem 
andern  Begriffe  vollzieht,  der  weder  Vielheit,  noch  Einheit  im 
gewöhnlichen  Sinne  ist? 

Eine  Gesamtheit  von  Genossen  ohne  irgend  welche  begrill- 
liehe  Trennung  ihrer  einheitlichen  und  vielheitlichen  Seite,  die 
Gesamtlieit  sowohl  in  ihrer  einheitlichen,  wie  in  ihrer  viclheit- 
lichen  Seite,  das  ist  eine  Formulierung,  der  man  die  Emplindung 
der  logischen  Schwierigkeit  anmerkt,  welche  jedoch  von  der 
Lösung  abirrt;  denn  sie  vereinbar!  BegritTe,  die  nach  der  ge- 
wöhnlichen Ansicht  sich  widersprechen;  und  sie  umgeht  den 
fundamentalen  Begriff,  durchweichen  das  juristische  Problem, 
wie  das  ethische,  förmulierbar  und  lösbar  wird. 

Auch  in  Bezug  auf  das  Objekt  verirrt  sich  Gierke  bei  der 
Verbindung  von  Einheit  und  Vielheit.  Das  genossenschallliche 
neKnmteigentum  ist  nach  ihm  ein  Rcchtsverhältniss,  welches  auf 
erbindung  von  Gesamteinheitsrecht  und  Gesamtviciheits- 
beruhc.  Dieses  Gesamtvielheitsrecht  ist  ein  negatives 
rbeispiel  für  den  notwendigen  Wert  der  Allheit.  Vielheit 
cht  Gesamtheit;  Vielheit  ist  Mehrheit.  Gesamtheit 
Iheit.  Einheit  ist  vorzugsweise  Allheit;  sonst  nur 
ilheit,  welche  der  Mehrheit  zugehört.  Das  ist  der 
*    in    dieser   ganzen  Operation    mit    den  Begriffen    Einheit, 


Die  juristische  Person  und  die  Affekte.  228 


Affekte  ausgehen  und,  durch  ihn  genährt,  ein  Objekt  erzeugen, 
das  sie  daher  auch  nur  dem  Affekte  geben,  ihm  wiedergeben. 
Sicherlich  bildet  der  Begriff  des  Vaterlands  ein  solches  Mittel 
der  Erweiterung  des  Selbst.  Der  Egoismus  des  Einzelnen  wird 
durch  ihn  abgestumpft;  der  Gedanke  einer  Gesamtheit  wird 
entzündet.  Wer  möchte  das  bezweifeln;  nicht  vollauf  beherzigen? 
Und  dennoch  liegen  schwere  Gefahren  in  diesem  so  wichtigen, 
so  heilsamen  Kulturbegriffe.  Schon  im  Altertum  musste  der 
Einseitigkeit  und  Engherzigkeit  des  Patriotismus  der  Kos- 
mopolitismus entgegentreten.  Und  es  waren  nicht  allein  die 
Propheten,  welche  in  dem  Gedanken  der  Einen  Menschheit  dem 
partikularistischen  Patriotismus  entgegentraten ;  sondern  bei  den 
Griechen  waren  es  die  Begründer  der  Ethik  in  Demokrit  und 
Sokrates,  welche  den  gesamten  Kosmos  als  die  Erde  der  guten 
Seele  bezeichneten.  So  tritt  das  Denken  der  Ethik  im  Kosmo- 
politismus auf  gegen  den  Affekt  der  Vaterlandsliebe.  Wir 
werden  aber  sehen,  dass  es  nicht  bei  diesem  Gegensatze  zwischen 
Kosmopolitismus  und  Patriotismus  sein  Bewenden  hat;  dass 
vielmehr  die  Antinomie  eines  andern  Begriffspaares  auf- 
tritt, durch  welches  der  Begriff  der  juristischen  Person  dem 
Vaterlande  gegenüber  in  genauerer  Form  sich  vollzieht. 

Darauf  kommt  es  bei  dem  Begriffe  der  juristischen  Person 
an,  und  darin  liegt  ihr  juristischer  Wert,  dass  es  sich  bei  ihr 
nicht  um  die  Verschlingung  und  Aufsaugung  handelt;  diese 
käme  nur  der  Vielheit  zu  Statten ;  sie  kann  jedoch  nichts  aus- 
richten für  die  Allheit.  Es  genügt  auch  nicht,  dass  die  Einzelnen 
ihrer  Einzelheit  sich  entäussern ;  damit  würden  sie  doch  noch 
nicht  ein  wahrhaftes  einheitliches  Selbstbewusstsein  zu  Stande 
bringen.  Den  Affekterweiterungen,  welche  das  selbstische  Ich 
verengen,  treten  nur  allzu  leicht  wieder  Affektverengungen  zur 
Seite,  welche  die  Machtausdehnung  der  selbstischen  Sphäre  be- 
wirken. Auch  bei  den  religiösen  Affekten  ist  dies  eine  sich  stets 
erneuende  Tatsache.  Die  Liebe  zu  Gott  ist  keineswegs  immer 
nur  als  eine  Sicherung  der  Menschenliebe  gedacht,  geschweige 
angewendet  worden.  Bei  der  juristischen  Person  dagegen  spielen 
die  Affekte  keine  Rolle;  bei  ihr  handelt  es  sich  lediglich  um 
die  Willenshandlung,  welche  vermittelst  und  kraft  der  Bedingung 
und  der  Einheit  als  Rechtshandlung  sich  vollzieht. 


222  ^AS  Vorurteil  der  Einzelheit. 


methodischen  Kategorieen  dagegen  bezeichnen  nur  das  Problem 
und  die  Stufe,  welche  dasselbe  auf  dem  Wege  der  Forschung 
bildet;  keineswegs  aber  enthalten  sie  in  ihrer  Definition  zugleich 
die  Lösung.  Das  Problem  der  Empfindung  ist  das  Problem 
der  Einzelheit. 

Die  Einzelheit  ist  ein  Problem.  Wodurch  wird  dieses 
Problem  gelöst;  wodurch  wird  es  lösbar?  Es  ist  das  eigentliche 
Unglück  der  Logik,  dass  man  die  Einzelheit  nicht  lediglich  als 
ein  Problem  der  Methodik  gelten  lassen  will.  Daher  schleicht 
sich  die  Empfindung  ein  und  verdrängt  das  Denken  der  Er- 
kenntniss.  Einesteils  meint  man,  das  Denken  könne  die  Einzel- 
heit nicht  ergeben  und  nicht  ermitteln;  dazu  bedürfe  es  der 
Empfindung;  andernteils  meint  man  es  aber  so,  dass  es  für  die 
Einzelheit  des  Denkens  nicht  bedürfe;  dazu  sei  eben  die  Empfindung 
da;  und  sie  allein  zulänglich.  So  wurzelt  aller  Gegensatz 
gegen  den  Idealismus  und  seine  Zulänglichkeit  in  diesem 
Fehler;    in   der   logischen  Charakteristik   der  Einzelheit. 

Das  Vorurteil  der  Einzelheit  wächst  zu  dem  der 
Einzelperson  aus;  nur  diese  könne  Selbstbewusstsein  haben 
und  Rechtssubjekt  sein.  Man  wird  versucht,  schon  psycho- 
logisch gegen  dieses  Vorurteil  anzugehen.  Wie  steht  es  denn 
mit  dem  StoflFwechsel  dieser  ehrenwerten  Person?  Und  mit  dem 
Wechsel  normaler  und  gesteigerter,  sowie  geminderter  geistiger 
Regsamkeit  in  ihr?  Und  mit  den  Stufen  der  Aufmerksamkeit 
und  des  vollen,  wachen  Bewusstseins  ?  Wird  nicht  auch  im 
psychologischen  Sinne  schon  das  Selbstbewusstsein  zu  einer  Art 
von  Fiktion?  Und  sieht  man  nicht  schon  hieraus,  dass  es 
keineswegs  lediglich  der  unaufhaltsame  Hang  zu  falscher 
Hypostasierung  ist,  welcher  die  Rechtswissenschaft  und  die  Ethik 
zu  einer  nicht  sowohl  erweiterten,  als  vielmehr  erhöhten  sub- 
jektiven Inhaltsbestimmung  des  Rechtssubjekts  und  des  Selbst- 
bewusstseins  des  Willens  hinführt? 

Diese  rechtswissenschaftliche  Darstellung  und  Begründung 
der  idealen  Person  im  Rechtssubjekte  ist  lehrreicher,  über- 
zeugender, weil  praeciser  und  praegnanter  als  alle  die  sonstigen 
Erweiterungen  des  Selbstgefühls,  mit  denen  man  das  Individuum 
von  den  Schranken  des  Eigensinns  und  der  Selbstsucht  zu  be- 
freien   und    zu    erlösen    liebt.    Sie    können    alle    nur   von   dem 


Die  juristische  Person  und  die  Affekte.  228 

Affekte  ausgehen  und,  durch  ihn  genährt,  ein  Objekt  erzeugen, 
das  sie  daher  auch  nur  dem  Affekte  geben,  ihm  wiedergeben. 
Sicherlich  bildet  der  Begriff  des  Vaterlands  ein  solches  Mittel 
der  Erweiterung  des  Selbst.  Der  Egoismus  des  Einzelnen  wird 
durch  ihn  abgestumpft;  der  Gedanke  einer  Gesamtheit  wird 
entzündet.  Wer  möchte  das  bezweifeln;  nicht  vollauf  beherzigen? 
Und  dennoch  liegen  schwere  Gefahren  in  diesem  so  wichtigen, 
so  heilsamen  Kulturbegriffe.  Schon  im  Altertum  musste  der 
Einseitigkeit  und  Engherzigkeit  des  Patriotismus  der  Kos- 
mopolitismus entgegentreten.  Und  es  waren  nicht  allein  die 
Propheten,  welche  in  dem  Gedanken  der  Einen  Menschheit  dem 
partikularistischen  Patriotismus  entgegentraten ;  sondern  bei  den 
Griechen  waren  es  die  Begründer  der  Ethik  in  Demokrit  und 
Sokrates,  welche  den  gesamten  Kosmos  als  die  Erde  der  guten 
Seele  bezeichneten.  So  tritt  das  Denken  der  Ethik  im  Kosmo- 
politismus auf  gegen  den  Affekt  der  Vaterlandsliebe.  Wir 
werden  aber  sehen,  dass  es  nicht  bei  diesem  Gegensatze  zwischen 
Kosmopolitismus  und  Patriotismus  sein  Bewenden  hat;  dass 
vielmehr  die  Antinomie  eines  andern  Begriffspaares  auf- 
tritt, durch  welches  der  Begriff  der  juristischen  Person  dem 
Vaterlande  gegenüber  in  genauerer  Form  sich  vollzieht. 

Darauf  kommt  es  bei  dem  Begriffe  der  juristischen  Person 
an,  und  darin  liegt  ihr  juristischer  Wert,  dass  es  sich  bei  ihr 
nicht  um  die  Verschlingung  und  Aufsaugung  handelt;  diese 
käme  nur  der  Vielheit  zu  Statten ;  sie  kann  jedoch  nichts  aus- 
richten für  die  Allheit.  Es  genügt  auch  nicht,  dass  die  Einzelnen 
ihrer  Einzelheit  sich  entäussern;  damit  würden  sie  doch  noch 
nicht  ein  wahrhaftes  einheitliches  Selbstbewusstsein  zu  Stande 
bringen.  Den  Affekterweiterungen,  welche  das  selbstische  Ich 
verengen,  treten  nur  allzu  leicht  wieder  Affektverengungen  zur 
Seite,  welche  die  Machtausdehnung  der  selbstischen  Sphäre  be- 
wirken. Auch  bei  den  religiösen  Affekten  ist  dies  eine  sich  stets 
erneuende  Tatsache.  Die  Liebe  zu  Gott  ist  keineswegs  immer 
nur  als  eine  Sicherung  der  Menschenliebe  gedacht,  geschweige 
angewendet  worden.  Bei  der  juristischen  Person  dagegen  spielen 
die  Affekte  keine  Rolle;  bei  ihr  handelt  es  sich  lediglich  um 
die  Willenshandlung,  welche  vermittelst  und  kraft  der  Bedingung 
und  der  Einheit  als  Rechtshandlung  sich  vollzieht. 


Die  Gemeinschaft  und  die  Natur.  225 


Charakter  eingeboren  ist.  Aber  älter  noch  und  unzweideutiger 
als  die  Genossenschaft  ist  doch  die  Gemeinschaft,  auf  die  wir 
ja  früher  schon  nach  ihrer  uralten  Bedeutung  aufmerksam 
werden  mussten.  Das  Gemeinsame  ist  der  erste  Ausdruck  für 
Mass  und  Vernunft  (xotvov,  Sovdv).  So  ist  es  bei  Heraklit  der 
Terminus  für  den  Logos.  Und  das  Gemeinsame  der  Freunde 
(xoiva  tot  Ttt)v  fiXwv)  ist  bei  Piaton  der  religiöse  Ausdruck  der 
Freundschaft.  Sollte  nicht  daher  die  Gemeinschaft  sich  doch 
noch  gründlicher,  weil  umfassender,  zum  Musterbegriffe  des 
Selbstbewusstseins  eignen  als  die  Genossenschaft? 

Man  könnte  meinen,  der  Unterschied  des  juristischen  Be- 
griffs von  allem  religiösen  Begriffe  begünstige  und  begründe  allein 
den  Vorzug  der  Genossenschaft  vor  der  Gemeinschaft.  Das  soll  gar 
nicht  in  Abrede  gestellt  werden;  aber  es  spielt  doch  noch  ein 
anderer  Grund  dabei  mit,  der  scheinbar  für  die  Gemeinschaft  den 
Ausschlag  geben  könnte.  Die  Gemeinschaft  nämlich  fasst 
nicht  nur  die  Subjekte,  sondern  auch  die  Objekte  zu- 
sammen. Und  so  befestigt  sie  die  Bedeutung,  die  ihr  schon 
mit  Rücksicht  auf  die  Subjekte  beizuwohnen  scheint,  dass  sie 
eine  Gesamtheit  darstellt,  die  weniger  willkürlich  und  relativ  sei 
als  die  der  Genossenschaft.  Sie  wird  als  ein  Analogon  zur 
Natur  gedacht.  Wie  diese  die  Einheit  und  den  Inbegriff  der 
Kräfte  und  der  Gegenstände  bezeichnet,  so  scheint  auch  die 
Gemeinschaft  den  Inbegriff  und  die  Einheit  der  sittlichen  Kräfte, 
der  Subjekte  und  der  Objekte  darzustellen. 

Die  Gemeinschaft  moralischer  Wesen  ist  das  Regnum 
gratiae,  welches  dem  Regnum  naturae  zur  Seite  tritt.  Darauf 
aber,  so  scheint  es,  müsse  sich  doch  vornehmlich  das  ethische 
Interesse  richten,  dass  der  Zusammenhang  der  ethischen  Kräfte 
hergestellt  und  sichergestellt  werde.  Diesen  geschlossenen,  ein- 
heitlichen Zusammenhang  stellt  die  Gemeinschaft  dar,  während 
die  Genossenschaft  nur  ein  unzulängliches  Gleichniss  von  ihr 
zu  bedeuten  scheint,  in  welchem  sie  aber  vielmehr  die  Einheit 
dieses  Zusammenhangs  tatsächlich  durchbricht,  sie  relativ  macht, 
und  also  aufhebt  und  vereitelt.  So  stellt  sich  die  Gemeinschaft 
gegen  die  Genossenschaft  aus  dem  Interesse  des  Zusammenhangs 
der  sittlichen  Welt,  der  Gemeinschaft  der  moralischen  Wesen  dar. 

15 


226  Die  natürlichen  .Gemeinschaften. 


Darf  nun  aber  dieses  Interesse  des  Zusammenhangs  schon 
jetzt  sich  geltend  machen,  wo  es  vielmehr  erst  darauf  ankommt^ 
das  Rechtssubjekt  selbst  zur  Erzeugung  zu  bringen?  Liegt  in 
jenem  Bedenken  nicht  daher  deutlich  der  Irrtum,  dass  man  das 
sittliche  Subjekt  aus  dem  Zusammenhange  dieser  Subjekte  her- 
zuleiten habe,  anstatt  dass  man  vielmehr  auf  Grund  des  Rechts- 
subjekts und  seines  Begriffs  den  Zusammenhang  der  Subjekte 
erst  zu  gewinnen  hat?  Es  ist  also  ein  schweres  methodisches 
Bedenken,  das  hier  auftritt  und  gründliche  Beseitigung  fordert 
Es  könnte  nicht  allein  ein  religiöses,  sondern  zugleich  ein 
realistisches  Vorurteil  sein,  welches  die  idealistische  Erzeugung 
des  sittlichen  Subjekts  und  Selbstbewusstseins  hemmt. 

Dieser  Anstoss  ist  um  so  gefahrlicher,  als  er  einen  natür- 
lichen und  rationellen  Anspruch  geltend  zu  machen  scheint, 
nämlich  den  des  natürlichen  Ursprungs  und  der  natürlichen 
Entwickelung  des  Selbstbewusstseins.  Wenn  es  aber  selbst  der 
natürliche  Weg  wäre,  den  das  Selbstbewusstsein  in  der  Er- 
weiterung des  AfTektgefühls  nähme,  so  brauchte  er  darum  noch 
nicht  der  methodische  zu  sein  für  die  Bildung  des  Selbstbewusst- 
seins des  reinen  Willens.  Hier  bewährt  sich  die  Zweckmässig- 
keit der  Orientierung  der  Ethik  auf  die  Rechtswissen- 
schaft. 

Die  juristische  Person  einer  Genossenschaft  wird  an  sich 
nicht  gerade  mit  Affekt  gewollt.  Dennoch  aber  sind  jene  Gegen- 
stände des  natürlichen  Willens,  auf  welche  man  in  jenem  Be- 
denken anspielt,  meistens  juristische  Personen.  Sofern  sie  aber 
auf  dem  Affekt  beruhen,  wirken  sie  zweideutig  und  vermögen 
das  Selbstbewusstsein  des  ethischen  Subjektes  nicht  rein  dar- 
zustellen. Solche  juristische  Personen  von  einem  zweideutigen 
Werte  als  Rechtssubjekte  bilden  der  Stand,  der  Stamm,  die 
Kirche,  selbst  das  V^aterland.  Man  kann  sich  beim  Vater- 
lande durch  einen  kritischen  Blick  sofort  darüber  belehren,  in- 
dem man  nämlich  die  Richtung  dieses  Begriffs  nach  Aussen  und 
nach  Innen  unterscheidet.  Nach  Aussen  wirkt  der  Begriff  in  der 
vollen  Gewalt  des  Affekts,  während  er  nach  Innen  träge  schlummert 
und  nur  langsam  und  gewaltsam  geweckt  werden  kann.  Und 
doch  bildet  das  Vaterland  die  mächtigste  Gestaltung  der 
Gemeinschaft;    wie   ist   es   da  zu  begreifen,   dass  sie  dennoch 


Der  Gentilbegriff.  227 

nicht  den  reinsten  Ausdruck  der  juristischen  Person  und  des 
Rechtssubjekts  darstellt  und  lebendig  macht?  Verrät  sich  darin 
nicht   ein   schwerer  Mangel   in   dem  Begriffe  der  Gemeinschaft? 

In  der  Tat  ist  der  Schein  illusorisch,  als  ob  die  Gemein- 
schaft absolut,  die  Genossenschaft  dagegen  relativ  wäre.  Viel- 
mehr ist  die  Gemeinschaft  ihrem  Begriffe  nach  eine 
Relativität;  nach  den  Kategorieen  der  Quantität  ausgedrückt^ 
würde  sie  nicht  sowohl  der  Allheit  als  vielmehr  der  Mehrheit 
entsprechen.  Nur  als  Mehrheit  ist  sie  Einheit.  Die  Ge- 
nossenschaft dagegen  ist  Allheit;  ist  Einheit  der  juristischen 
Person.  So  ist  es  nur  eine  Illusion,  die  vielleicht  auch  mit  dem 
kirchlichen  Begriffe  der  Gemeinde  zusammenhängt,  dass  man  die 
Gemeinschaft  für  etwas  Absolutes  zu  halten  pflegt;  dass  man  die 
Relativität  und  Particularität,  die  in  ihrem  Begriffe  liegt,  und 
vermöge  der  sie  in  ein  gleichsam  concentrisches  Netz  von  Rela- 
tivitäten sich  zergliedert,  gänzlich  übersieht.  Das  Vaterland  beruht 
auf  dem  Volke.  Das  Volk  auf  dem  Stamm.  Der  Stamm  auf  der 
Familie.  Die  Familie  auf  der  Ehe.  Daraufhin  hält  man  es  für 
den  Weg  der  natürlichen  Entwickelung,  dass  das  Selbst- 
bewusstsein  seines  egoistischen  Charakters  sich  entledige,  indem  es 
von  der  Ehe  aus  an  dem  Bewusstsein  der  Familie,  des  Stammes, 
des  Volkes  und  des  Vaterlands  sich  entwickele  und  erziehe. 

Gerade  die  neueren  Untersuchungen  über  die  Urformen 
der  Gesellschaft,  wie  sie  bei  den  wilden  Völkern  noch  sich 
vorfinden,  haben  indessen  den  umgekehrten  Weg  als  denjenigen 
erwiesen,  den  die  geschichtliche  Entwickelung  genommen 
habe.  Der  Gentilbegriff  erst  hat  die  Familie  und  die  Ehe 
bestimmt;  die  wilde  Ehe  durch  hygienische  Rücksichten  auf  die 
Erhaltung  des  Stammes  eingeschränkt.  Und  alsbald  sind  die 
hygienischen  Rücksichten  durch  politische  und  rechtliche  Rück- 
sichten auf  die  Erhaltung  des  Besitzes  in  einem  Stamme  und 
einer  Familie  verstärkt  worden,  so  dass  der  Volksbegriff  erst  den 
Stammesbegriß  zur  Fixierung  gebracht  hat.  Dass  es  zwischen  den 
Begriffen  Volk  und  Vaterland  so  sich  verhalte,  bedarf  keiner 
Ausführung;  der  Begriff  des  Vaterlands  ist  der  Leitbegriff  für  die 
Einheit  des  Volkes  in  seinen  Stämmen. 

Wenn  man  nun  aber  von  der  Meinung  sich  leiten  lässt, 
dass   in   allen   diesen  Stufen   der  menschlichen  Gesellschaft  eine 

15* 


228  Der  Staat. 


selbständige  und  absolute  Gemeinschaft  mit  dem  Werte  eines 
sittlichen  Selbstbewusstseins  sich  darstelle,  so  wird  diese  Ansicht 
schon  durch  die  Collisionen  und  Kämpfe  widerlegt,  in  welche 
diese  Stufen  mit  einander  geraten.  Die  Ehe  und  die  Familie 
wird  in  ihrem  sittlichen  Charakter  verdächtig,  weil  politische 
und  rechtliche  Interessen  mit  ihnen  sich  complicieren.  Es  ist 
ein  Irrtum,  dass  dadurch  der  reine  sittliche  Charakter  der  Ehe 
und  der  Familie  verdorben  und  verheuchelt  wurde;  denn  auch 
mit  den  rechtlichen  Interessen  des  Eigentums  und  der  Politik 
verschmelzen  sich  nichtsdestoweniger  in  den  frühesten  Anfängen 
schon  ideale  und  aesthetische  Interessen.  Aber  es  ist  doch  er- 
klärlich, das  die  Beurteilung  der  Ehe  und  der  Familie,  als  von 
dem  capitalistischen  Standpunkte  beherrscht,  sich  hervordrängt, 
und  in  den  Fehler  der  Verkennung  und  Verurteilung  dieses 
ethischen  Rechtsinstituts  verfallt.  Wir  haben  den  eigent- 
lichen Grund  dieses  F'ehlers  in  dem  Begriffe  der 
Gemeinschaft  zu  erkennen;  in  dem  naturalistischen,  socio- 
logischen  Begriffe,  welchen  die  Gemeinschaft  als  eine  geschicht- 
liche Relativität  der  filntwickelung  darstellt. 

In  welchem  BegriflFe  können  wir  denn  nun  aber  dieser 
relativen  Gemeinschaft  in  allen  ihren  Stufen  gegenüber  eine  Art 
von  Genossenschaft  aufstellen,  welche  dem  Begriffe  der  juristischen 
Person  entsprechen,  und  demgemäss  den  Wert  des  ethischen  Selbst- 
bewusstseins genau  und  unzweideutig  darstellen  würde?  Nicht 
um  Verbreiterung  der  Affektstufen  darf  es  sich  handeln,  so  dass 
das  Ich,  als  hätte  es  einen  grossen  Magen,  immer  mehr  Parti- 
cularitäten  in  sich  aufzunehmen  und  in  ihnen  sich  zu  erweitern 
hätte;  nicht  auf  dem  Wege  solcher  Ausweitungen  vollzieht  sich 
der  Begriff  und  das  Selbstbewusstsein  der  juristischen  Person. 
Der  gesuchte,  der  geforderte  Begriff  ist  der  Begriff  des 
Staates. 

Viele  und  vielartige  Bedenken  erheben  sich  gegen  diese 
These.  Wir  sind  gewohnt,  den  Begriff  des  Staates  unter  dem 
Begriffe  der  Herrschaft  zu  denken,  gemäss  dem  römischen  Staats- 
rechte vom  Imperium  und  Dominium.  Unter  diesem  Begriffe 
fliessen  freilich  die  Grenzen  des  öffentlichen  und  des  Privatrechts 
gar  oft  und  leicht  ineinander  über.  Es  handelt  sich  da  nur  zu 
oft  und  mit  einer  methodischen  Consequenz  um  die  Eigentums- 


Rousseaus  volontö  universelle.  229 


Herrschaft  der  herrschenden  Stände,  die  den  Staat  zu  bilden 
scheinen,  weil  sie  ihn  regieren.  Indessen  kann  der  Staat  sich 
dennoch  grundsätzlich  nicht  der  Aufgabe  entschlagen,  welche 
durch  die  Formel  pacta  servare  bezeichnet  wird.  Und  diese 
Formel  bedeutet  zugleich  fidem  servare.  In  den  Verträgen 
wahrt  der  Staat  die  Treue.  Und  diese  Treue  bildet  trotz  allem 
Missbrauche  der  Herrschergewalt  seine  Grundlage  und  sein 
ethisches  Recht;  sein  Recht,  als  juristische  Person  anerkannt  und 
als  das  höchste  und  exakteste  Muster  des  ethischen  Sei bstbewusst- 
seins  dienlich  zu  werden. 

Das  Selbstbewusstsein  der  juristischen  Person  ist  das  Selbst- 
bewusstsein  der  Einheit  des  Willens;  derjenigen  Einheit  des 
Willens,  welche  die  Allheit  zu  vollziehen  vermag.  Und  diese 
höchste  Einheit  sollte  im  Staate  zu  erkennen  sein?  Wenn  man 
ganz  absieht  von  den  schweren  Bedenken  gegen  den  fortgesetzten 
Missbrauch  der  Staatsgewalt,  den  die  Geschichte  und  der  sie 
blossstellt,  so  kann  man  sich  des  Bedenkens  schwer  erwehren, 
dass  hier  ein  Svmbol  und  eine  ideale  Fiktion  für  eine  wissen- 
schaftlich  reale  Sache  eingesetzt  würde.  Nun  haben  wir  aber 
schon  erwogen,  dass  eine  juristische  Fiktion  ein  ernsthafter  Be- 
griff ist,  den  man  nicht  seines  Wertes  als  einer  Hypothesis  be- 
rauben, den  man  auch  nicht  mit  einem  aesthetischen  Symbol 
verwechseln  darf.  Daher  muss  der  Begriff  des  Staatswillens  von 
jedem  Verdacht  einer  symbolischen  Abstraktion  befreit  werden, 
um  dem  Begriffe  der  juristischen  Person  gerecht  zu  werden. 

Schon  Rousseau  hat  die  volonte  generale,  und  richtiger 
universelle  von  der  volonte  de  tous  unterschieden.  Dadurch 
ist  der  Allheitscharakter  anerkannt.  Heisst  das  nun  aber  etwa, 
dass  es  auf  die  Einzelnen  selbst  gar  nicht  ankomme,  wenn  nur 
ein  allgemeiner  Wille  zu  Stande  kommt?  Wie  könnte  aber  dieser 
allgemeine  Wille  als  ein  universeller,  als  ein  Wille  der  Allheit 
zu  Stande  kommen,  wenn  von  dem  Willen  der  Einzelnen  abge- 
sehen werden  dürfte?  Auf  dieser  Schwierigkeit  beruht  der 
Anstoss,  den  man  allezeit  an  dem  Begriffe  des  Vertrages, 
als  der  Grundlage  des  Staates,  genommen  hat.  Wenn  der 
Staatswille  den  Vertrag  zur  Voraussetzung  hat,  so  ist  er  durch 
die  Ausübung  jedes  einzelnen  Willens  bedingt.  Wie  aber,  wenn 
ein  einzelner  WMlle  nicht  teilnimmt,  oder  sich  versagt,  wird  davon 


880  Die  Allheit  des  Staatswillens. 


der  Einheitswille  des  Staates  betrofTen  und  aufgeholienf  Hier 
bricht  der  Anarchismus  ein,  der  von  dieser  Bresche  aus  den 
ethischen  BegrifT  des  Staates  angreift.  Und  wie  könnte  in  der 
Tat  der  Staatswille  das  Selbstbewusstsein  des  Willens  bedeuten, 
wenn  auch  nur  ein  Mitglied  seine  Mitwirkung  xur  Einheit  dii^ses 
Willens  nicht  geleistet  hat? 

Allen  solchen  Bedenken  gegenul>er  haben  wir  nun  vielmehr 
unser  Interesse  auf  den  BegrilT  der  juristischen  Person  zu  lenken, 
und  aur  die  metho<lische  Bedeutung,  welche  diesem  Begriffe  zu- 
steht. Das  ist  es  ja  eben,  was  die  Genossenschaf)  auszeichnet, 
was  sie  von  der  Gemeinerschaft  unterscheidet:  dass  es  nicht  auf 
die  aktuelle  Mitwirkung  der  einzelnen  Genossen  ankommt;  das% 
dadurch  nicht  ul>er  den  Gharakter  der  (ienossenschaft  und  ulM*r 
die  Einheit  des  durch  sie  auszuiil>enden  Willens  entschieden 
wird.  Gera<le  in  dieser  rnabhängigkeit  von  der  aktuellen  Einzel- 
heit liegt  ihr  rnterschied  von  der  Mehrheit;  beruht  ihr  Wert  nU 
Allheit  und  als  juristische  Person. 

Ileisst  das  nun  al>er  etwa,  dass  es  auf  die  Einzelnen  und 
auf  den  Vollzug  ihres  Einzelwillens  gar  nicht  abgesehen  sei,  weil 
es  in  letzter  Instanz  auf  ihn  nicht  ankommt?  Das  wäre  ein 
plattes  Missverstiindniss  dies(*s  (inmdbegrifTs,  dessc^n  sich  die 
HechlHwivHenschaft  alsdann  nur  bedient  hatte,  um  die  Technik 
des  Diebstahls  zur  feinsten  und  iMTÜckendslen  Ausbildung  /u 
bringen.  Wenn  anders  dagegen  in  der  GenoxM*nsi*han  der  BegrilT 
der  juristtsehen  Person  in  der  Hichtung  zur  Ausbildung  gelangt, 
dass  dadurch  der  Begriff  des  Eigentums  von  seiner  Härte 
und  egoistisc*hen  Einseitigkeit  methodisch  abgelöst  wird,  so  dass 
in  dit*M*r  Ethisierung  des  Eigentums  auch  die  Person  des  Eigen- 
tümers auf  die  Bahn  des  ethiM*hen  SelbsIbewussIvMns  gelenkt 
wint.  dann  kann  der  Bi^grifT  der  juristischen  Pers<m  nur  in  di(*sem 
Sinne  einer  ethischen  Hy|M»tbesis  als  die  Fiktion  der  juristisi'hen 
Technik  dienlich  sein.  Wenn  dies  alMT  Ihm  der  (ienoss4*nsc*liaft 
sicli  nachweisen  lassen  wird,  so  wird  es  so  sich  auch  Im*!  der  All- 
heit des  Staalswillens  zu  bewahren  hal>en.  Seine  Bedeutung 
liegt  nicht  in  seiner  aktuellen  Wirklichkeit,  sondern  in 
seinem  Werte  als  ethischer  Leilbegriff  des  Selbtt- 
bewusslseins. 


Der  Doppelsinn  im  Anarchismus.  23 L 


Wir  dürfen  hier  auch  an  den  BegrifF  der  Aufgabe  erinnern, 
unter  dem  der  Inhalt  des  Willens  schon  in  seinem  Anteil  als 
Bewegung  bestimmt  wurde.  Aufgabe  bleibt  nicht  beschränkt  auf 
die  Tendenz  und  deren  Fortschritt  in  der  Begehrung;  auch  wenn 
das  Denken  hinzutritt,  bleibt  die  Fügung  des  Willens  in  Be- 
dingung und  Einheit,  oder,  wie  man  es  gewöhnlich  zu  bezeichnen 
pflegt,  als  Zweck,  immer  doch  Aufgabe.  Und  so  liegt  denn  auch 
der  Wert  des  Selbstbewusstseins,  als  Fiktion  des  Staatsrechts,  in 
dem  Begriffe  der  Aufgabe.  Sie  gilt  nach  beiden  Seiten:  für  den 
Einzelnen,  wie  für  die  Allheit. 

Dem  Einzelnen  gegenüber  wehrt  die  Aufgabe  des  Selbst- 
bewusstseins des  Staatsbegriffs  den  Anarchismus  ab.  Der  Staat, 
als  Selbstbewusstsein,  sagt  dem  Anarchisten:  nur  in  mir  und 
durch  mich  kannst  du  ein  wahrhaftes  menschliches  Selbst- 
bewusstsein erlangen  und  behaupten.  Du  begehst  also  ein  Un- 
recht am  Menschentum,  nämlich  am  Selbstbewusstsein  des 
Menschen,  indem  du  der  Aufgabe  des  Staates  dich  widersetzest. 
Es  ist  nicht  etwa  ein  Wortspiel,  indem  wir  auf  einen  Doppel- 
sinn in  dem  Worte  Anarchismus  hinweisen.  Zunächst  liegt 
darin  der  Widerspruch  gegen  die  Herrschaft.  Aber  das  griechische 
Wort  bedeutet  zugleich  und  vornehmlich  und  ursprünglich  das 
Prinzip.  Und  so  wird  der  Anarchismus  zum  Widerstreit 
gegen  das  Prinzip  des  reinen  Willens  und  des  Selbstbewusst- 
seins. Und  auch  die  Herrschaft,  auf  welche  das  Prinzip  hinweist, 
wird  zur  Selbstbeherrschung,  welche  in  der  Aufgabe  des 
Selbstbewusstseins  formuliert  wird.  So  hat  der  Anarchismus  seine 
logische  Erklärung  nur  in  einem  Missverständniss:  in  der  ein- 
seitigen Fassung  des  Wortes  als  Herrschaft,  und  nicht  zugleich 
als  Prinzip.  Und  dieses  Missverständniss  wird  durch  das  natura- 
listische Vorurteil  begünstigt,  welches  an  die  Stelle  des  Staates 
das  Volk  setzt.  Darauf  kommen  wir  zurück.  Jetzt  ziehen  wir 
zunächst  die  Folgerung  aus  der  Bedeutung  des  Staats,  als  Auf- 
gabe  des  Selbstbewusstseins,  für   den  Gesichtspunkt  der  Allheit. 

Wir  hatten  der  logischen  Bedeutung  der  Allheit  gemäss  das 
Selbstbewusstsein  des  Staates  unabhängig  gemacht  von  der  Ver- 
wirklichung aller  Einzelwillen.  Aber  wenn  daraus  der  Verdacht 
aufsteigt,  als  ob  der  Staatswille  der  Mitwirkung  aller  Einzelwillen 
entbehren   und   sich  entheben  könnte,   so  vernichtet  der  strenge 


222  Das  Vorurteil  der  Einzelheit. 


methodischen  Kategorieen  dagegen  bezeichnen  nur  das  Problem 
und  die  Stufe,  welche  dasselbe  auf  dem  Wege  der  Forschung 
bildet;  keineswegs  aber  enthalten  sie  in  ihrer  Definition  zugleich 
die  Lösung.  Das  Problem  der  Empfindung  ist  das  Problem 
der  Einzelheit. 

Die  Einzelheit  ist  ein  Problem.  Wodurch  wird  dieses 
Problem  gelöst;  wodurch  wird  es  lösbar?  Es  ist  das  eigentliche 
Unglück  der  Logik,  dass  man  die  Einzelheit  nicht  lediglich  als 
ein  Problem  der  Methodik  gelten  lassen  will.  Daher  schleicht 
sich  die  Empfindung  ein  und  verdrängt  das  Denken  der  Er- 
kenntniss.  Einesteils  meint  man,  das  Denken  könne  die  Einzel- 
heit nicht  ergeben  und  nicht  ermitteln;  dazu  bedürfe  es  der 
Empfindung;  andernteils  meint  man  es  aber  so,  dass  es  für  die 
Einzelheit  des  Denkens  nicht  bedürfe;  dazu  sei  eben  die  Empfindung 
da;  und  sie  allein  zulänglich.  So  wurzelt  aller  Gegensatz 
gegen  den  Idealismus  und  seine  Zulänglichkeit  in  diesem 
Fehler;   in   der   logischen  Charakteristik   der  Einzelheit. 

Das  Vorurteil  der  Einzelheit  wächst  zu  dem  der 
Einzelperson  aus;  nur  diese  könne  Selbstbewusstsein  haben 
und  Rechtssubjekt  sein.  Man  wird  versucht,  schon  psycho- 
logisch gegen  dieses  Vorurteil  anzugehen.  Wie  steht  es  denn 
mit  dem  Stoffwechsel  dieser  ehrenwerten  Person?  Und  mit  dem 
Wechsel  normaler  und  gesteigerter,  sowie  geminderter  geistiger 
Regsamkeit  in  ihr?  Und  mit  den  Stufen  der  Aufmerksamkeit 
und  des  vollen,  wachen  Bewusstseins  ?  Wird  nicht  auch  im 
psychologischen  Sinne  schon  das  Selbstbewusstsein  zu  einer  Art 
von  Fiktion?  Und  sieht  man  nicht  schon  hieraus,  dass  es 
keineswegs  lediglich  der  unaufhaltsame  Hang  zu  falscher 
Hypostasierung  ist,  welcher  die  Rechtswissenschaft  und  die  Ethik 
zu  einer  nicht  sowohl  erweiterten,  als  vielmehr  erhöhten  sub- 
jektiven Inhaltsbestimmung  des  Rechtssubjekts  und  des  Selbst- 
bewusstseins  des  Willens  hinführt? 

Diese  rechtswissenschaftliche  Darstellung  und  Begründung 
der  idealen  Person  im  Rechtssubjekte  ist  lehrreicher,  über- 
zeugender, weil  praeciser  und  praegnanter  als  alle  die  sonstigen 
Erweiterungen  des  Selbstgefühls,  mit  denen  man  das  Individuum 
von  den  Schranken  des  Eigensinns  und  der  Selbstsucht  zu  be- 
freien   und   zu    erlösen    liebt.    Sie    können    alle    nur   von   dem 


Der  Geist.  288 


Da  wird  es  sich  denn  rechtfertigen,  dass  als  das  Wesen, 
als  der  Träger  und  Urheber  dieses  reinen  Willens  der  Geist 
bezeichnet  wird.  Geist  hat  mehr  zu  bedeuten  als  lediglich  die 
Ausübung  der  Intelligenz.  Die  Verwendung  derselben,  die  Ver- 
klärung derselben  im  Willen  und  zum  Willen  ist  das  Erzeugniss 
und  das  Zeugniss  des  Greistes.  Das  Selbstbewusstsein  hat  seinen 
praegnanten  Ausdruck,  den  allein  zulänglichen  im  Geiste.  Und 
so  wird  der  Staat  zu  der  Welt  der  Geister;  zu  dem  Inbegriff, 
zu  der  rechtlichen  Verfassung  der  Geister. 

Das  scheint  ein  sonderbarer  Gebrauch  des  Wortes  Geist  zu 
sein.  Der  Schein  der  Sonderbarkeit  fallt  jedoch  auf  das  Vorurteil 
zurück.  Man  meint,  den  Geist  nur  beziehen  zu  dürfen  auf  die 
religiöse  Verfassung  und  auf  die  religiöse  Gestalt  des  Menschen. 
Die  Kirche  hält  man  für  das  Reich  der  Geister.  Man  übersieht 
dabei  aber,  dass  der  Kirche  die  Ausbildung  des  Bewusstseins  der 
Erkenntniss  niemals  von  der  Kultur  anvertraut  worden  war.  Man 
denkt  also  den  Geist  ohne  den  wissenschaftlichen  Inhalt  des 
Geistes,  wenn  man  ihn  im  geistlichen  Sinne  verstehen  zu  müssen 
und  zu  dürfen  glaubt.  Der  Geist  hat  jedoch  die  theoretische  Kultur 
zu  seiner  unerlässlichen  und  unersetzlichen  Voraussetzung.  Erst 
auf  dem  Grunde  der  theoretischen  Kultur  erhebt  sich  die  sitt- 
liche Art  und  Macht  des  Geistes.  So  fordert  es  das  Grundgesetz 
der  Wahrheit.  Und  so  wirkt  es  nun  auch  positiv  in  dem  Inhalte 
des  StaatsbegrifTes  nach.  So  wird  die  Fiktion  der  juristischen 
Person  zur  Hypothesis  des  Subjekts  in  seinem  höchsten. 
Ausdruck  als  Geist. 

Wir  waren  schon  aufmerksam  geworden  auf  den  juristischen 
Grundbegriff  des  Vertrages;  wie  alle  Rechtshandlung  als  ein 
Vertrag  aufgefasst  werden  kann.  Man  kann  Verträge  beinahe  als 
gleichbedeutend  ansehen  mit  den  Rechtsgeschäften  unter  Lebenden 
überhaupt  ( S a v  i  g  n  y ).  Einseitige  Rechtsgeschäfte  haben  doch 
immer  Rücksicht  auf  den  Andern;  diese  muss  darin  nicht  als 
eine  blosse  Enunciation,  sondern  als  Disposition  enthalten  sein 
(Windscheid).  Pactio  est  duorum  pluriumve  in  idem 
placitum  consensus  (Ulpian).  Savigny  bezeichnet  den  Ver- 
trag daher  als  übereinstimmende  Willenserklärung.  Windscheid 
aber   steigert   noch    den  Ausdruck    der  Einheit,    indem    er   die 


224  Die  juristische  Person  als  die  moralische. 

So  erklärt  es  sich,  dass  für  die  juristische  Person 
der  Ausdruck  der  moralischen  Person  gebraucht  wird 
Es  ist  der  Zugang  zur  Ethik,  der  mit  ihr  und  durch  sie  gebahnt 
und  vollzogen  wird.  Das  subjektive  Selbstbewusstsein  der 
juristischen  Person  wird  zum  Musterbegrifle  des  ethischen 
Selbstbewusstseins.  Dabei  spielt  keinerlei  Mystik  mit,  und  es 
bedarf  keiner  poetischen  Symbolik.  Keine  affektive  Erweiterung 
wird  dabei  gefordert,  und  keine  demütige  Verkleinerung.  Es 
handelt  sich  nicht  um  Ironie  dabei,  sondern  schlechthin  um 
praecise  wissenschaftliche  Technik.  Es  ist  ein  irreführender 
Ausspruch,  dass  das  Individuum  durch  den  Rechtszwang  es 
lernen  solle  und  lernen  könne,  zu  dem  Bewusstsein  der  Gemein- 
schaft sein  Selbstbewusstsein  zu  erweitern.  Es  soll  nicht  das 
Selbstbewusstsein  erweitert  werden  zu  dem  der  Gemeinschaft ; 
sondern  es  soll  dem  Begrifle  der  Genossenschaft  nach  und  ge- 
mäss diesem  Musterbegriffe  des  Rechts  der  Begriff  des  Selbst- 
bewusstseins definiert  werden.  Dass  das  Selbstbewusstsein  dem- 
zufolge gebildet  und  erzogen  werden  könne  und  solle ;  oder,  da 
das  Selbstbewusstsein  als  ein  stehendes  Gebilde  nicht  einmal 
psychologisch  gegeben  ist,  es  wäre  denn  in  Gemeingefühlen, 
dass  es  danach  zu  erzeugen  sei,  von  dem  Allen  handelt  es  sich 
bei  diesem  MusterbegrüTe  nicht ;  wenigstens  nicht  in  seiner 
hauptsächlichsten  Bedeutung.  Diese  besteht  darin,  den  Gedanken 
lebendig  und  eindringlich  zu  machen :  dass  das  ethische  Selbst- 
bewusstsein als  das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens  gedacht 
werden  müsse  gemäss  und  auf  Grund  der  logischen  Bedeutung 
der  juristischen  Person,  welche  in  der  Genossenschaft  zu 
ethischer  Bedeutung  und  Wirksamkeit  gelangt.  Das  Rechts- 
institut und  der  rechtswissenschaftliche  Begriff  bringt 
den  ethischen  Begriff  des  Selbstbewusstseins  des  reinen 
Willens  zur  Realisierung  und  zur  Rechtfertigung.  Das 
ist  der  methodische  Gewinn,  den  wir  aus  dem  Problem  der 
juristischen  Person  der  Genossenschaft  zu  ziehen  haben. 

Es  könnte  sich  hier  ein  Einwurf  erheben,  den  wir  zu  Worte 
kommen  lassen  müssen.  Wir  legen  allen  Wert  auf  die  Genossen- 
schaft. Freilich  ist  die  Societas,  obwohl  sie  zunächst  nur  ein 
Compagniegeschäft  bedeutet,  von  Anfang  an  blutsverwandt  der 
Socialitas  und  Consocialitas,  so  dass  ihr  der  naturrechtliche 


Ich  und  Du.  235 


Und  nun  wollen  wir  den  Fortschritt  betrachten,  der  sich 
für  den  Begriff  des  Nebenmenschen  aus  dem  Gesichtspunkte  des 
Vertrages  entwickeln  lässt  Bisher  erschien  das  Nicht-Ich 
nur  als  der  Andere  zum  Ich.  Nicht  als  ein  Anderer,  sondern 
als  der  Andere.  Aber  die  Aenderung  musste  das  Ich  doch  erleiden, 
um  Selbstbewusstsein  zu  werden.  Die  Identität  des  Selbstbewusst- 
seins  scheint  immerhin  dadurch  beeinträchtigt,  dass  eine  solche 
Aenderung  aufgenommen,  erlitten  werden  muss.  Der  Vertrag 
beseitigt  dieses  Misstrauen  und  diese  Besorgniss;  er  zerstreut  den 
Anschein  des  Fremden  von  dem  Andern. 

Der  Vertrag  ist  ein  Anspruch;  ein  Anspruch  des  Rechts,  den 
ich  an  den  Andern  erhebe.  Ein  solcher  Rechtsanspruch,  zum 
mindesten  als  Gerichtsanspruch,  ist  ja  die  Rechtshandlung  über- 
haupt (Actio).  Der  Vertrag  macht  nun  aus  dem  Anspruch 
die  Ansprache.  Und  daher  verwandelt  sich  der  Andere 
zum  Ich  in  Du.  Du  ist  nicht  Er.  Er  wäre  der  Andere.  Er 
kommt  in  Gefahr,  auch  als  Es  behandelt  zu  werden.  Du  und 
Ich  gehören  schlechterdings  zusammen.  Ich  kann  nicht 
Du  sagen,  ohne  dich  auf  mich  zu  beziehen;  ohne  dich  in  dieser 
Beziehung  mit  dem  Ich  zu  vereinigen. 

Aber  es  liegt  darin  zugleich  die  gesteigerte  Forderung:  dass 
ich  auch  nicht  Ich  denken  kann,  ohne  dich  zu  denken.  So  hat 
der  Andere  im  Selbstbewusstsein  sich  gleichsam  in  den  Dualis 
des  Ich  verwandelt.  Wenn  das  Selbstbewusstsein  die  Einheit  des 
Willens  zu  bedeuten  hat,  so  muss  sie  die  Vereinigung  von  Ich 
und  Du  bilden.  Der  Wille  vereinigt  mich  und  dich;  dich 
und  mich.  Diese  Einheit  bedeutet  die  Aufgabe  des 
Selbstbewusstseins. 

Das  ist  der  Fortschritt  des  Andern  zum  Du.  Und 
diesen  Forschritt  betätigt  die  juristische  Fiktion.  So  bewährt 
sich  die  juristische  Person  als  die  moralische  Person.  Und  diese 
Realität  der  moralischen  Person  stellt  der  Staat  dar,  als  Aufgabe 
des  Selbstbewusstseins.  Dieses  Selbstbewusstsein  ist  die  Ver- 
einigung von  Ich  nnd  Du,  welche  die  Rechtshandlung  des  Ver- 
trages vollzieht.  Dieser  Vertrag  ist  nicht  ein  Versuch  der  Willkür 
und  des  Experiments;  sondern  er  ist  die  Bedingung,  die  not- 
wendige und  die  zureichende  Bedingung  für  den  Vollzug  des 
Selbstbewusstseins.       Im     Staate    wird    das    Ich    zur    reinsten 


236  Der  Unterschied  von  Staat  und  Volk. 


Entfaltung  gebracht,  indem  der  Andere  zum  Du  ver- 
wandelt wird. 

Auf  Grund  dieser  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins,  in  welcher 
die  Einheit  des  Staatswillens  besteht,  beruht  die  Macht,  der 
scheinbare  Zwang  des  Staates;  der  vielmehr  nur  sein  Recht  ist. 
Darauf  werden  wir  in  anderem  Zusammenhange  genauer  einzu- 
gehen haben.  Hier  ist  nur  auf  das  Selbstbewusstsein  zu  achten, 
welches  der  Staatswille  vollbringt.  Und  nur  dies  allenfalls  mag 
noch  beachtet  werden,  dass  aus  dieser  Correlation  von  Ich  und 
Du,  die  er  vollzieht,  seine  Competenz  zu  Gesetzen  und  Ver- 
ordnungen herfliesst,  welche  ebenfalls  in  der  Form  dieser 
Correlation  ergehen:  Ich  will;  Du  sollst.  Das  Soll  geht  uns  hier 
noch  nicht  an;  nur  das  Ich  und  Du  sei  schon  mitbeachtet 

So  haben  wir  denn  den  einzigen  Inhalt  des  reinen  Willens, 
das  Selbstbewusstsein,  aus  dem  juristischen  Begriffe  der  Genossen- 
schaft hergenommen;  die  Gemeinschaft  aber  zurückgewiesen. 
Genossenschaft  und  Gemeinschaft  sind  unvergleichbare 
Begriffe.  Genossenschaft  ist  ein  methodischer  Grundbegriff  der 
Rechtswissenschaft;  Gemeinschaft  dagegen  ein  vieldeutiger  Um- 
fangsbegriff.  Die  Genossenschaft  dient  der  Methodik  der  juristischen 
Person,  mithin  der  desSelbstbewusstseins.  Die  Gemeinschaft  dagegen 
führt  nicht  auf  geradem,  sicherem  Wege  zum  Selbstbewusstsein; 
sie  wird  von  dem  Affekte  beflügelt  und  geleitet.  Der  Affekt  aber 
kann  nicht  nur  die  Gemeinschaft  nicht  als  Einheit  sichern, 
sondern  sogar  das  Individuum  lässt  er  in  ihr  im  Stiche;  während 
es  doch  für  das  Selbstbewusstsein  erhalten  werden  muss. 

So  entsteht  uns  hier  der  Unterschied  von  Staat  und  Volk. 
Das  Volk  bildet  eine  echte  Gemeinschaft;  als  solche  aber  eine 
relative.  Und  alle  Gefahren  und  Zweideutigkeiten  der  Relativität 
sind  daher  mit  dem  Begriffe  des  Volks  behaftet.  Wir  sind  schon 
bei  dem  Begriffe  des  Vaterlands  und  seinen  zwei  Seiten,  nach 
Aussen  und  nach  Innen,  dagegen  behutsam  geworden.  Die  Ge- 
schichte, die  Politik  und  die  Rechtswissenschaft,  sie  alle  lassen  die 
Mängel  und  Gefahren  dieser  Relativität  erkennen.  Am  genauesten 
aber  zeigt  das  Recht,  wie  der  Volksbegriff,  als  Grundlage,  zurück- 
steht gegen  den  Staatsbegriff. 

Die  historische  Rechtsschule  leitet  das  Recht  aus  dem 
Volksgeiste   ab.    Ehe   wir   den   positiven   Sinn   dieser  Ansicht 


Die  rechtshistorische  Theorie  vom  Volksgeist.  237 

bedenken,  beachten  wir  die  negative  Ansicht,  welche  dadurch 
abgewehrt  werden  soll.  Es  ist  dies  die  Vertragstheorie,  deren 
ethischen  Sinn  wir  an  der  Hand  des  Rechts  begründen  konnten. 
In  der  Tat  erkennt  Savigny  für  das  gesamte  Recht  den  Vertrag 
als  die  Grundlage  an.  Der  Staat  dagegen,  sofern  in  ihm  das 
Recht  substantiiert  wird,  soll  nicht  auf  dem  Vertrage  beruhen; 
und  daher  soll  es  nun  auch  das  Recht  nicht,  welches  aus  der  Sub- 
stanz des  Staates  sich  entfaltet;  obwohl  es  doch  mit  dem  Ver- 
trage, als  mit  seinem  methodischen  Grundmittel,  operiert. 

Es  muss  offenbar  ein  doppelter  Sinn  sein,  der  hier  bei  dem 
Worte  Vertrag  obwaltet.  Savigny  versteht  unter  dem  Vertrage 
den  er  als  die  Grundlage  des  Staates  und  des  Rechtes  abweist, 
die  „individuelle  Willkür",  die  er  dabei  voraussetzt;  während 
der  Mensch  „durch  die  Geburt  Glied  eines  Volkes  und  zugleich 
eines  Staates,  welcher  nur  die  Erscheinung  des  Volkes  in  be- 
stimmter Rechtsform  ist**,  sei.  So  wird  einerseits  Volk  und 
Staat  unterschieden,  andrerseits  gleichgesetzt.  Der  Mensch  soll 
nicht  im  rechtlichen  und  ethischen  Sinne  zum  Menschen  werden 
als  Glied  des  Staates,  sondern  als  Glied  eines  Volkes;  und  da- 
durch werde  er  zugleich,  aber  auch  dadurch  erst,  Glied  eines 
Staates.  Schon  dadurch  wird  Staat  und  Volk  ebenso  einander 
gleichgesetzt,  wie  von  einander  unterschieden. 

Und  der  Nachsatz  wiederholt  dieselbe  Doppelform.  Der 
Staat  sei  nur  die  Erscheinung  des  Volkes  in  bestimmter  Rechts- 
form. Dadurch  aber  tritt  auch  das  Recht  in  die  Correlation  ein. 
Obwohl  sonach  der  Staat  an  die  Rechtsform  gebunden  ist,  das 
Recht  aber  sich  auf  den  Vertrag  reduciert,  soll  dennoch  der 
Staat  nicht  auf  dem  Vertrage  beruhen,  sondern  worauf  denn? 
Auf  dem  Volke.  So  jedoch  wird  freilich  der  Gegensatz  nicht  aus- 
gedrückt. 

Wenn  er  so  ausgedrückt  würde,  so  würde  eine  zu  sehr 
offenliegende  Discrepanz  zum  Ausdruck  kommen.  Recht  und 
Staat  sind  Gebilde  des  Geistes;  das  Volk  dagegen  ist  ein  Produkt 
der  Natur.  Wie  könnte  man  auch  den  Naturbegriff  des  Volkes 
mit  dem  religiösen  Gedanken  von  dem  ..Ganzen  der  Menschheit" 
in  Verknüpfung  bringen,  den  doch  Savigny  nicht  fallen  gelassen 
hat,  obwohl  er  die  feine  Consequenz  begeht,  den  Einzelnen  an 
dieses  Ganze  der  Menschheit  anzuknüpfen,   und  zwar  „noch  ehe 


238  Hegels  aUgemeiner  Geist. 

er  ein  Bewusstsein  davon  haben  kann."  So  wird  die  Mensch- 
heit dem  Volke  schon  in  die  Wiege  gelegt.  Indessen  durfte  es 
doch  wohl  bei  diesem  Unbewussten  sein  Bewenden  nicht 
behalten. 

So  ist  aus  dem  Volke  der  „Volksgeist*"  geworden.  Also 
das  Naturgewächs  des  Volkes  sollte  doch  nicht  ausschliesslich 
als  Urheber  und  Schöpfer  von  Recht  und  Staat  anerkannt  werden. 
Das  Volk  musste  in  den  Volksgeist  sublimiert  werden.  Indessen 
ist  dadurch  das  Problem  nur  schwieriger  und  flagranter  geworden. 
Ist  das  Volk  an  und  für  sich  Geist;  und  hat  es  Geist?  Worin 
unterscheidet  sich  dieser  Volksgeist  alsdann  von  den  mythischen 
Begriffen  des  Genius  und  der  Penaten?  Der  ethische  Begriff  des 
Geistes,  und  einen  andern  darf  es  nicht  geben  —  der  theoretische 
selbst  erschöpft  ihn  nicht  —  der  ethische  Begriff  des  Geistes  ist 
auf  die  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins  als  Staat  verwiesen;  der 
Naturbegriff  des  Volkes  kann  dagegen  auch  in  der  Hypostasierung 
zum  Volksgeiste  nicht  als  der  Schöpfer,  nicht  als  der  Träger  dieser 
Aufgabe  gelten.  Die  historische  Rechtsschule  wurzelt  in 
einem  Naturalismus,  der  sich  nach  der  üblichen  Art 
des  Spiritualismus   als  solchen  ausstattet   und  darstellt 

Der  Volksgeist  wird  nur  scheinbar  etwas  Anderes  in 
Hegels  allgemeinem  Geiste.  Auch  dieser  allgemeine  Geist 
hat  seine  Realität  in  der  Wirklichkeit  der  einzelnen  Volksgeister. 
Und  wie  das  Recht  die  Ausgeburt  des  einzelnen  Volksgeistes  ist, 
so  hätte  die  Rechtsphilosophie  zu  ihrem  Inhalte  die  Darstellung 
dieser  Ausgeburten  der  einzelnen  Volksgeister.  Das  ist  die  An- 
sicht, welche  Lassalle  von  dem  Problem  der  Rechtsphilosophie 
hat;  und  ihr  zufolge  urteilt  er  über  die  Rechtsphilosophie  Hegels. 
Sie  habe  nicht  dieselbe  Ausführung  gewonnen,  wie  seine  Reli- 
gionsphilosophie, in  welcher  die  Geschichte  der  religiösen  Ent- 
wickelung  bei  den  einzelnen  Völkern  dargestellt  werde.  Solche 
Aufgabe  sei  auch  der  Rechtsphilosophie  zu  stellen. 

Danach  aber  würde  sich  die  Rechtsphilosophie  in  eine  ver- 
gleichende Rechtsgeschichte  auflösen.  Lassalle  hat  nur  deshalb 
diese  Consequenz  nicht  gezogen,  und  dadurch  seine  Ansicht  sich 
nicht  selbst  berichtigt,  weil  er  in  seinem  System  der  er- 
worbenen Rechte  den  Gedanken  demonstriert  zu  haben  glaubte, 
dass  eine  logische  Beleuchtung,   geschweige  eine  allgemeine  ver- 


Lassalles  Vertauschung  von  Logik  und  Ethik.  239 


gleichende  Würdigung  der  Rechtsgescbichte  ohne  die  Leitung 
der  Philosophie,  ohne  die  Kategorieen  der  Logik  sich  nicht 
durchführen  lasse.  Immer  aber  bleibt  es  auch  für  ihn  bei 
der  Logik.  Dass  es  sich  um  Ethik  dabei  handele,  und  nicht 
allein  um  Logik,  dieser  Wendepunkt  des  Problems  geht  auch 
ihm  nicht  auf;  obwohl  er  doch  Recht  und  Staat  reformieren 
und  umwälzen  will.  Dass  dieses  Beginnen  ein  Problem  der  Ethik 
sein  müsse,  das  sieht  er  nicht  ein.  In  Hegel  befangen,  sieht  er 
in  der  Welt  des  Geistes  nur  die  Welt  des  Begriffs;  und  die 
dialektische  Bewegung  des  Begrijffs  ist  auch  für  ihn  die  Welt- 
geschichte, die  Geschichte  des  sittlichen  Geistes. 

Das  ist  der  Grund  und  die  Wurzel  des  Materialismus, 
in  welcher  der  Materialismus  der  Geschichtsansicht 
gegründet  ist,  welche  zum  tiefen  Schaden  der  Sache  alle 
sozialistischen  Gedankenkreise  beherrscht.  Auch  der 
logische  Begriff  bleibt  Materialismus,  wie  es  der  Begriff  des 
Volksgeistes  ist,  wenn  er  nicht  fortgeführt  wird  zum  ethischen 
Begriffe,  auf  dem  allein  Recht  und  Staat  gegründet  werden  kann; 
wenn  anders  in  ihm  in  Recht  und  Staat  und  somit  letztlich  im 
Staate  das  Selbstbewusstsein  zur  Ausgestaltung,  zur  Ausreifung, 
zur  Ausprägung  gelangen  soll. 

So  gehen  Naturalismus  und  Materialismus  Hand  in  Hand, 
obwohl  sie  in  andere,  in  feindliche  Richtungen  auseinander- 
gehen. Aus  dem  allgemeinen  Geiste  ist  die  Reform  hervor- 
gegangen, welche  machtvoll  und  trotzig  an  die  Revolution  an- 
pocht. Aus  dem  Volksgeiste  aber  ist  die  Romantik,  ist  die 
Reaktion  hervorgegangen,  gegen  welche  der  Sozialismus  in  die 
Schranken  trat.  Die  Romantik  hat  sich  hinter  den  Affekt  ge- 
flüchtet; denn  im  Unterschiede  von  dem  Staatsrechte,  als  der  Auf- 
gabe des  einheitlichen  Selbstbewusstseins  des  Staatswillens,  ist 
auch  das  Vaterland  nichts  Anderes  als  der  Naturtrieb,  der  mit 
allen  Zweideutigkeiten  eines  solchen  behaftet  ist. 

Im  Volksbegriffe  selbst,  als  dem  Begriffe  des  Vaterlandes, 
liegt  nicht  die  unabweisliche  Mahnung,  alle  Glieder  des  Volkes 
ohne  Ausnahme  und  ohne  Unterschied  zu  Teilhabern  und  zu 
Urhebern  des  Rechtes  und  des  Staates  zu  machen  und  auszu- 
bilden. Angesichts  des  Volksbegriffes  drückt  man  die  Augen  zu 
über  die  ständischen  Unterschiede,   die  er  geschichtlich  erfahre. 


240  Der  Begriff  des  Sozialismus. 

und  also  auch  wohl  natürlich  zulasse.  Der  Staalsl)egriff  hingegen 
entlarvt  diese  Romantik  als  eine  der  Aufgabe  der  Ethik  höhn- 
sprechende  Heuchelei,  l'nter  der  Leitung  des  Vertrages  wird 
der  Andere  nicht  nur  zum  andern  Ich,  sondern  zur  andern 
Hälfte  des  Ich;  während  er  unter  dem  Schutze  der  Vaterlands* 
liebe  der  Andere  bleibt,  von  dem  der  Dichter  sagt:  den  ich  Heb' 
und  nicht  kenne;  man  versteht  darunter:  nicht  kennen  will. 

Im  Gegensatze  zu  solcher  Romantik,  welche  mit  dem 
heiligen  Worte  der  Vaterlandsliebe  Verraterei  treibt,  hat  der 
Sozialismus  an  einen  Begriff  der  (lenossenschaft  angeknüpft:  ah 
ob  er  von  dem  dunkeln  (iefühl  getrieben  worden  wiirc,  den 
Geruch  der  Gemeinschaft  zu  scheuen.  Diese  Bedeutung  der 
Genossenschaft  hat  der  Begriff  der  Gesellschaft:  und  in 
dieser  Bedeutung,  als  eine  Form  der  (lenossenschaÜ,  verflicht  rr 
den  Gegensatz  gegen  den  Staat.  Das  scheint  eine  Paradox ie.  Kt 
es  doch  der  Staat,  auf  den  der  Sozialismus  hinsteuert.  Und  das 
ist  ja  die  (lorrectur,  welche  Lassalle  in  einem  scheinbaren 
Widerspruche,  in  der  Vereinigung  seiner  beiden  philosophisi*hen 
(lewährsmänner  darstellt  und  vollzieht.  Er  beruft  sich  auf 
Fichte  und  zugleich  auf  Hegel. 

Bei  Fichte  ist  der  treibende  (uHiunke  der  des  Volks.  Das 
ist  der  Naturalismus  in  ihm,  und  so  liildet  er  die  eigentliche 
Wurzel  der  Romantik.  Er  gründet  daher  die  ethische  Fort- 
bildung aul  die  Nationalerziehung.  Hegel  dag€*gen  erkennt 
die  Substanz  der  Sittlichkeit  im  Staate  an.  DiescT  (ii*<ianke.  der 
die  eigentliche  Philosophie  Hegels,  seine  ges(*hichlliche  Ansicht 
der  Welt  leitet,  bildete  die  Anziehung  für  Lassalle.  So  verbinden 
sich  im  Sozialismus  der  Begriff  des  Volkes  und  des  Staates; 
vielmehr  wird  so  der  Volksbegriff  durch  den  Staatsbegriff 
berichtigt  und  erfüllt. 

l'nd  damit  man  nur  ja  nicht  den  Staat  mit  dem  Volke  ver* 
wechsele,  wird  dem  Ik-griffe  des  Staates,  im  scheinliaren  Wider« 
Spruch  zu  Hegel,  der  Bi'grilf  der  Gesellschaft  entgegengestellt. 
Der  Wicierspruch  ist  nur  scheinbar.  Denn  es  ist  der  romantische 
StaatslM*grtff,  der  auf  der  geschichtlich  absoluten  (ft^mein- 
Schaft  des  Volkes  beruht,  ge^en  welchen  der  ik*griff  der  Gesc*ll- 
schaft  aufgelioten  wird.  In  Wahrheit  ul>er  l>edeutet  die  Ctescil* 
Schaft  nichts  Anderes  als  den  methodischen  Begriff  der  (ienossen* 


Die  nationale  Idee.  241 

Schaft,  der  daher  durch  sie  erneuert,  verjüngt,  zu  erweiterter 
Wirksamkeit  lebendig  gemacht  wird.  Es  steht  also  gar  nicht  so, 
dass  durch  die  Gesellschaft  der  Staat  berichtigt  werden  sollte, 
sondern  es  ist  der  echte  Staatsbegriff,  der  in  dem  Be- 
griffe der  Gesellschaft  enthüllt  und  beseelt  werden  soll. 

So  klärt  sich  der  Schein  des  Gegensatzes ,  welchen  der 
Sozialismus  gegen  den  Patriotismus  bildet.  Es  ist  das  höhere 
Recht  des  Staates,  welches  er  aufbringt  gegen  das  zweideutige, 
zweischneidige  Recht,  welches  der  Affekt  der  Vaterlandsliebe  und 
der  nationale  Absolutismus  austeilt.  Der  Begriff  des 
Volkes  hat  nur  methodische  Bedeutung  für  den  Begriff 
des  Staates.  In  diesem  geschichtlichen  Sinne  hat  sich  die 
nationale  Idee  als  ein  Wegweiser  der  Staatenbildung 
erwiesen;  aber  nur  in  dieser  methodischen  Einschränkung  besteht 
ihr  Heilverfahren;  ausserhalb  derselben  artet  sie  zum  Gifte  des 
Nationalismus  und  des  Rassendünkels  aus. 

Die  nationale  Idee  bedeutet  und  bezeichnet  den  Wegweiser 
zur  Einheit  des  Staates.  Die  Völker  bleiben  Stämme,  und  wenn 
sie  noch  so  volkreich  wären,  wenn  sie  sich  nicht  in  einem  Staat 
zu  vereinigen  bestreben.  Der  Staatsbegriff  ist  der  ethische 
Kulturbegriff.  Er  bildet  das  Ziel  der  geschichtlichen  Ent- 
wickelung.  Der  nationale  Begriff  ist  förderlich  und  zulässig  als 
ein  Mittel  zu  diesem  Ziele;  und  dieses  Mittel  braucht  nicht  aus 
einem  falschen  Verdacht  des  Naturalismus  verschmäht  zu  werden. 
Sobald  jedoch  der  Volksbegriff  selbständig  und  absolut  wird,  so 
wird  er  barbarisch.  Und  es  gibt  ein  sicheres  Kennzeichen  dafür, 
dass  dieses  Urteil  nicht  ungerecht,  noch  unbillig  ist.  Dieses 
Kennzeichen  besteht  und  erneuert  sich  unaufhörlich  in  dem 
Widerspruch,  den  der  Nationalismus  gegen  die  Staatsidee  bildet 
und  erhebt.  Der  Nationalismus  wird  zum  Anarchismus. 
Dieser  aber  besteht,  wie  wir  gesehen  haben,  in  der  Preisgabe  des 
Staatsbegriffs,  als  des  Prinzips  des  ethischen  Selbstbewusstseins. 
Und  auch  der  Nationalismus  setzt  sich  über  dieses  Prinzip  hin- 
weg. Er  macht  sich  zum  Selbstzweck,  während  das  Volk  nur 
das  Mittel  zum  Staate  ist. 

Die  Begeisterung  für  den  Staat  ist  das  Kennzeichen  einer 
wahrhaften  Vaterlandsliebe;  wie  denn  auch  die  Sehnsucht  des 
Patriotismus   sich   stets   auf  den  Staat   gerichtet  hat.    An  der 


^2  Das  politische  Selbstbewusstsein 

germanischen  Rasseneinheit  hat  es  dem  deutsclien  Volke  nirnials 
gefehlt;  und  auch  eine  geographische  Kinheit  war  ihm  besi*hieden 
geblieben  trotz  allen  Duodez -Fürstentümern.  Woran  es  al>cr 
gefehlt  hatte,  das  war  die  Einheit  des  Staates.  Und  auf  diese 
Kealitat  des  Staates  hatte  sich  die  glühende  Vaterlandsliebe  Jahr- 
hunderte lang  gerichtet.  Nicht  anders  ging  es  bei  den  Italienern. 
Und  noch  lehrreicher  ist  das  Beispiel  der  Franzosen,  welche 
durch  ihren  Staat  sogar  erst  zu  einem  Volke  geworden  sind.  S<i 
bildet  der  Staat  die  entscheidende  Widerlegung  gegen  das  angeb- 
liche Recht  des  Anarchismus. 

Indessen  liegt  diese  Krafl  des  Staates  in  seiner  ethisehen 
Bedeutung,  als  Aufgabe  des  Selbstbewu.sstseins.  Und  wie  es  im 
BegrifTe  der  Aufgabe  liegt,  dass  sie  zugleich  die  Mittel  ihrer  Be- 
handlung und  ihrer  Lösung  in  ihrer  Methodik  enthalten  nuiss 
.So  auch  enthält  der  Staat  die  Aufgatn*  und  ihre  Lösung  in  sich. 
Nur  der  Staat  stellt  das  Selbstbewusstsein  des  Menschen 
dar.  Unter  der  Leitung  des  StaatsbegrifTs  der  juristisehen  IVimhi 
lerne  ich  es  vei^stehen  und  ausüben,  <lass  icli  nicht  in  meiner 
natürlichen  Individualita'it  das  Si*lbstbewusstsein  des  Willens 
producieren  kann;  und  auch  nicht  darin,  dass  ich  mich  in  Liebe 
tmd  Kntbusjasmus  zu  den  Stufen  relativer  (iemeinschalt  /u 
erweitern  trachte;  sondern  <ladurch  allein,  dass  ich  in  derjenigen 
Bestimmtheit  und  Fxakiheit,  welche  das  Recht  allein  ermöglicht, 
und  gemäss  derjenigen  .\llheit,  welche  der  Staat  allein  als  Hin- 
heil  >oll/.ieht.  alles  .Selbstischen  mich  begebe,  und  mein  Ich  nur 
in    der  Korrelation   \on    Ich    un<l  Du    denken    und  wollen  lerne 

/u  diesem  lA*rnen  gebort  theon*tische  Kultur.     Und  indem 
der  Staat    mehr    und   besser,    als  Volk  und  Kirche  dies  tun.   die 
theoretische    Kultur     in    seine    Befugnisse    aufnimmt,     wie    dies 
die  Aufgabe  des  SelbsIbewnssNeins  \or/ugs\\eise  fordert,  so  dient 
er  dadurcii  auch  der  Liebe  /u  Volk   und  Vaterlantl.     Die  Vater- 
landsliebe    ist    tmmeidar    eiiu*    Blute    der    nationalen    Kultur 
Diesen   Anteil    darf    nuin    auch    der    Romantik    M*lbst    an    «ler 
Kultur,  >^eil  an  der  \alerlan<iisclien  (tesiniiunK.   nicht  lK*streiteii 
Aber  in  ihr    hat  die  theoretische  Kultur    nicht   ihre  Wur/el.    sie 
scnmnckt    sich    «labei    nur    mit    fremden  Bhunen  und  Fruchten 
Die    echte  theoretische  Kultur  ist  ursprunglich    unti  selbstandu. 
und    sie    l.isst  die  sittliche  Kultur  aus  si(*li  erst  erwachsen      Das 


Chamisso.  243 

ethische  Selbstbewusstsein  hat  das  wissenschaftliche  Denken  zur 
Vorbedingung.  Den  Gipfel  aber,  in  dem  die  theoretische  und 
die  sittliche  Kultur  zusammenkommen,  bildet  der  Staat;  nicht  das 
Volk.  Die  nationale  Kultur,  auch  die  Poesie  und  Literatur,  wie 
die  Philosophie,  sind  auf  die  Einheit  des  Staates  gerichtet;  wenn- 
gleich es  scheinen  mag,  als  ob  der  nationalen  Poesie  der  politische 
Gedanke  fern  läge.  Vielmehr  ist  er  um  so  lebendiger  und 
mächtiger  in  dem  humanitären,  weltbürgerlichen  Geiste,  der  ihr 
eigen  ist,  verborgen  und  geborgen.  Diese  Freiheit  des  staatlichen 
Volkstums  gegenüber  dem  nationalen  Naturalismus  stellt,  wie  ein 
ethisches  Musterbild,  Chamisso  dar,  der,  Franzose  von  Geburt, 
als  wissenschaftlicher  Botaniker  und  als  Kantischer  Philosoph 
ein  deutscher  Dichter  geworden  ist. 


irt* 


Fünftes  Kapitel. 

Das  Gesetz  des  Selbstbewusstseins. 


Das  Selbstbewusstsein  ist  als  der  einzige,  der  entscheidende, 
der  centrale  Inhalt  des  reinen  Willens  nunmehr  erkannt.  Das 
Ich  des  reinen  Willens  ist  das  Selbst.  Und  darin  besteht  der 
Unterschied  zwischen  Selbst  und  Ich,  dass  das  Ich,  als  das  Subjekt 
des  reinen  Denkens,  sein  Correlat  im  Objekt  hat.  Im  reinen 
Wollen  dagegen  fallen  Subjekt  und  Objekt  zusammen.  Das  Ich 
ist  nur  ein  Teil,  eine  Seite,  eine  Richtung  des  Du.  Es  gibt  im 
reinen  Wollen  kein  Ich  ohne  Du.  Dieses  Du  ist  der  unmittel- 
bare Ausdruck  des  Objekts;  und  was  von  ihm  gilt,  das  lässt  sich 
auf  alle  Art  des  Objekts  übertragen.  Der  Gegenstand,  auf  den 
der  reine  Wille  gerichtet  ist,  ist  schlechthin  Vereinigung,  Identität 
von  Subjekt  und  Objekt.  Diesen  Unterschied  vom  Ich  gegenüber 
dem  Objekt  bezeichnet  das  Selbst. 

Es  kommt  daher  bei  dem  Ausdruck  Selbstbewusstsein  nicht 
sowohl  auf  das  Bewusstsein  an,  als  auf  das  Selbst.  Die  An- 
knüpfung an  das  Bewusstsein  muss  freilich  begründet  sein.  Sie 
rechtfertigt  sich  genugsam  durch  die  Hypothese  der  Möglich- 
keit, welche  unserer  Logik  gemäss  das  Bewusstsein  bedeutet. 
Es  ist  eben  gar  nichts  Anderes  als  die  neue  Möglichkeit  des 
reinen  Willens,  und  also  des  Selbst  im  Unterschiede  vom  Ich, 
welche  durch  das  Selbstbewusstsein  erschlossen  und  errichtet 
wird.     Die  Erschliessung   der  Möglichkeit   wird   durch   das   Be- 


Der  Wille  zum  Selbst.  245 


wusstsein  bezeichnet;  die  Errichtung  der  Sittlichkeit  im  reinen 
Willen  durch  das  Selbst.  So  bedeutet  das  Selbstbewusstsein 
die  Möglichkeit  des  Selbst. 

Das  Bewusstsein  tritt  zurück;  das  will  sagen,  es  handele 
sich  jetzt  nicht  mehr  eigentlich  um  Erkenntniss,  sondern  eben 
um  Willen.  Der  Unterschied  zwischen  Willen  und  Erkenntniss 
besteht  nun  aber  nicht  nur  in  dem  verschiedenen  Verhältniss  des 
Subjekts  zum  Objekt,  wie  wir  es  soeben  an  dem  Unterschiede 
von  Ich  und  Selbst  bestimmt  haben.  Wir  haben  vielmehr  von 
Anfang  an  mit  dem  Begriffe  der  Aufgabe  operiert,  und  an  ihr 
den  Unterschied  vom  Gegenstande  erörtert.  Aber  dass  das  Selbst- 
bewusstsein im  letzten  und  im  höchsten  Sinne  nur  Aufgabe  sei, 
das  war  bisher  noch  nicht  zur  nachdrücklichen  Aussprache 
gekommen.  Und  doch  kommt  Alles  auf  diese  genaue  Einsicht 
an.  Wenn  wir  jetzt  sehen,  dass  es  sich  bei  dem  Selbstbewusst- 
sein keineswegs  im  psychologischen,  sondern  nur  im  methodischen 
Sinne  um  Bewusstsein  handelt,  so  können  wir  auch  sagen,  das 
Selbstbewusstsein  bedeute  den  Selbstwillen;  das  heisst 
aber:  den  Willen  zum  Selbst. 

Das  Selbst  ist  nicht  etwa  die  psychologisch  gegebene 
Xaturkraft,  welche  den  Willen  hervorbringt;  und  wäre  sie  noch 
so  primitiv  als  eine  verborgene  Naturmacht  und  Anlage  gedacht; 
sondern  es  ist  immer  nur  die  Aufgabe,  welche,  als  solche,  so  das 
Subjekt,  wie  das  Objekt  des  reinen  Wollens  bildet.  Wie  ist  nun 
aber  die  Aufgabe  nach  dieser  ihrer  anspruchsvollen  Bedeutung 
am  Selbstbewusstsein  durchzuführen,  und  mit  der  Forderung 
und  auch  mit  der  Evidenz  des  Selbstbewusstseins  zu  vereinbaren'? 

Wir  können  die  Frage  auch  in  anderer  Anknüpfung  ent- 
wickeln. Das  Erzeugniss  und  das  Zeugniss  des  reinen  Willens  ist 
die  Handlung.  Ihr  entspricht,  ihr  entspringt  das  Selbstbewusst- 
sein. Das  Selbstbewusstsein  vollzieht  sich,  entfaltet  sich  in  der 
Handlung.  Mehr  und  deutlicher  als  der  Wille  stellt  die  Hand- 
lung die  Erzeugung  des  Selbstbewusstseins  dar.  Wenn  man  nun 
fragen  wollte:  wo  und  wie  ist  das  Selbstbewusstsein  ohne  die 
Handlung,  ausserhalb  der  Handlung  vorhanden?  so  würde  diese 
Frage  sich  kennzeichnen  als  ein  Ausdruck  des  Vorurteils  vom 
psychologischen  Ich,  welches  allenfalls  auf  das  theoretische  Ich 
passen    mag,    gar  nicht  aber  auf  das  wollende;    denn  dieses   ist 


246  Die  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins  im  Staate. 

immerdar  nur  als  Aufgabe  zu  denken;  niemals  aber  als  ein 
psychologischer  Quell  und  Herd,  als  eine  Macht  und  Kraft  des 
sogenannten  Bewusstseins. 

Aber  eine  andere  Frage  kann  von  hier  aus  noch  immer 
auftauchen.  Auch  die  Aufgabe  kann  als  eine  solche  Zwangs- 
auf gäbe  gedacht  werden,  welche  der  fundamentalen  psycho- 
logischen Deßnition  entspricht.  Sie  wurzelt  in  der  Tendenz,  also 
in  der  Eigenart  des  reinen  Denkens  der  Bewegung.  Und  nur  der 
Fortschritt  voi>  Tendenz  zu  Tendenz  macht  das  Denken  zur  Be- 
wegung, und  demzufolge  den  Inhalt  des  Denkens  zur  Aufgal)e; 
also  zum  Inhalt  und  Gegenstand  des  Willens.  Es  kommt  hinzu, 
dass  der  Affekt,  als  das  Convolut  von  Gefühlsannexen  und 
Gefühlssufflxen,  in  die  Verbindung  eintritt.  So  könnte  die  Meinung 
entstehen,  dass  dem  Begriffe  der  Aufgabe  Genüge  geschehe,  wenn 
sie  gemäss  diesen  Definitionen  als  eine  psychologische  Tatsache 
gedacht  würde,  wobei  doch  die  ethische  Definition  der  Psycho- 
logie gegenüber  die  Selbständigkeit  vertreten  würde.  Immerhin 
aber  würde  der  Begriff  der  Aufgabe  alsdann  nur  in  dem  des 
reinen  Willens  begründet  sein,  und  nur  folgeweise  auf  das  Selbst- 
bewusstsein  erstreckt  werden.  Der  Begriff  der  Aufgabe  hat  sich 
jedoch  nicht  nur  als  solche  Consequenz  für  das  Selbstbewusstscin 
zu  bewähren.    Diese  neue  Bedeutung  ist  jetzt  zu  ermitteln. 

Wir  haben  das  genaue  methodische  Verhältniss  des 
Selbstbewusstseins  zum  Staatsbegriffe  erkannt  und  fest- 
gestellt. Der  Staat  bildet  nicht  nur  das  Musterbeispiel  für  das 
Selbstbewusstsein  der  moralischen  Person,  sondern  zugleich  den 
Leitbegriff  und  den  Zielbegriff  des  ethischen  Selbstbewusstseins. 
Wo  und  wie  vollzieht  denn  nun  aber  der  Staat  die  Auf- 
gabe seines  Selbstbewusstseins?  Das  Selbstbewusstsein  und 
das  Selbst  sind  hier  offenbar  lediglich  ideal;  man  vermisst  nicht 
den  Stoffwechsel;  oder  man  sollte  ihn  wenigstens  nicht  ver- 
missen, aus  dem  dieses  Willensgetriebe  resultierte.  Aber  wenn 
das  Selbstbewusstsein  hier  durchaus  als  Aufgabe  sich  darstellt, 
so  bleibt  doch  die  Frage,  wie  diese  Aufgabe  in  Vollzug  komme; 
wie  dieser  Vollzug  zu  denken  und  zu  definieren  sei.  Wir  wissen, 
dass  das  Selbstbewusstsein  am  praegnantesten  sich  in  der  Hand- 
lung vollzieht.  Wie  vollzieht  sich  denn  nun  im  Staate  die 
Handlung?    In   welcher    begrifflichen   Fassung    lässt  ^sich    die 


Das  Gesetz  und  das  Sollen.  247 

Handlung,  in  welcher  der  Staat  die  Aufgabe  des  Selbstbewusst- 
seins  entfaltet,  mittelst  welchen  Begriffs  lässt  sich  diese  Handlung 
fixieren  und  verwirklichen? 

Wir  kommen  hier  auf  einen  neuen  Begrifi,  auf  den  des 
Gesetzes.  Die  Handlungen  des  Staates  bestehen  in  Ge- 
setzen. Die  Aufgabe  muss  als  Gesetz  gedacht  und  bestimmt 
werden.  Der  Wille  des  Staats  bekundet  sich  in  Gesetzen.  Das 
Selbstbewusstsein  des  Staates  muss  daher  in  den  Gesetzen,  als 
seinen  Handlungen,  sich  vollziehen  und  entfalten.  Die  Gesetze 
sind  seine  Aufgaben.  In  ihnen  besteht  die  Aufgabe  des  Selbst- 
bewussiseins.  Der  Begriff  der  Aufgabe  wurde  nicht  erschöpft 
innerhalb  der  Construktion  des  reinen  Willens;  und  so  ist  auch 
durch  diese  Construktion  die  Methode  nicht  erschöpft  worden, 
das  Selbstbewusstsein  zu  erzeugen.  Der  methodische  Begriff  des 
Gesetzes  muss  hinzukommen;  die  Aufgabe  mu^ss  zum  Gesetze 
werden,  wenn  das  Selbstbewusstsein  zum  LeitbegrifT  werden  soll 
für  alle  Rechtsfragen;  für  die  des  Eigentums,  wie  die  der 
persönlichen  Ehre  und  die  des  persönlichen  Gefühls.  Da  ent- 
steht nun  vor  Allem  die  Frage:  warum  haben  wir  dieses  Wort, 
dieses  Grundwort  aller  Kultur  bisher  vermieden? 

Die  nächste  Antwort  könnte  in  dem  Hinweis  gefunden 
werden  auf  die  schon  mehrmals  erwogene  Schwierigkeit,  die  in 
Kants  Begriffe  des  Sollens  im  Unterschiede  vom  Sein  liegt. 
Gerade  weil  das  Sollen  eine  Art  des  Seins  nichtsdestoweniger  zu 
bedeuten  und  zu  vertreten  hat,  wie  Kant  das  Reich  der  Sittlich- 
keti  in  diesem  Sollen  realisiert,  gerade  darum  wird  der  Begriff 
des  Gesetzes  für  das  Selbstbewusstsein  von  nicht  unmittelbar 
einleuchtender  Bedeutung.  Man  denkt  das  Gesetz  danach  zumeist 
als  Grundgesetz,  als  die  Verfassung  des  Reiches  der  Sitten;  mit- 
hin als  das  Analogon  zum  Grundgesetze  der  Natur,  und  somit 
zur  Natur  selbst.  Dadurch  aber  taucht  wiederum  die  Zweideutig- 
keit auf,  die  in  dem  Naturgesetze  liegt,  und  die  das  Gesetz 
daher  als  ein  Gesetz  in  meinen  Gliedern  erscheinen  lässt.  So 
wird  aus  dem  ersten  Momente,  dass  das  Gesetz  die  Verfassung 
und  das  Reich  der  Sittlichkeit  bedeute,  weil  gewährleiste,  unver- 
sehens das  andere  Moment,  dass  das  Gesetz  ein  Naturgesetz  des 
Bewusstseins  sei.  Dadurch  aber  wird  der  methodische  Idealismus 
der  Ethik  von  Grund  aus  verwirrt  und  gelähmt. 


246  Die  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins  im  Staate. 

immerdar  nur  als  Aufgabe  zu  denken;  niemals  al>er  als  ein 
psychologischer  Quell  und  Herd,  als  eine  Macht  und  Krafl  de> 
sogenannten  Bewusstseins. 

AIht  eine  andere  Frage  kann  von  hier  aus  noch  immer 
auRauchen.  Auch  die  Aufgabe  kann  als  eine  solche  Zwangs* 
aufgäbe  gedacht  werden,  welche  der  fundamentalen  |>sycho- 
logischen  Definition  entspricht.  Sie  wurzelt  in  der  Tendenz,  al%o 
in  der  Fligenart  des  reinen  Denkens  der  Bewegung.  Tnd  nur  der 
Fortschritt  voij  Tendenz  zu  Tendenz  macht  das  Denken  zur  Be- 
wegung, un<l  demzufolge  den  Inhalt  des  Denkens  zur  Aufgal>e: 
also  zum  Inhalt  und  Gegenstand  des  Willens.  Hs  kommt  hinzo, 
dass  der  Affekt^  als  das  (lonvolut  von  (lefühlsannexen  und 
(•etuhlssuflixen,  in  die  Verbindung  eintritt.  So  k«~>nnte  die  Meinung 
entstehen,  dass  dem  Begriffe  der  Aufgabe  (ienüge  geschehe,  wenn 
sie  gemäss  diesen  IX'finitionen  als  eine  psychologische  Tatsache 
gedacht  würde,  wolK'i  doch  die  ethische  Definition  der  INvcho- 
logie  gegeniiiHT  die  «Selbständigkeit  vertreten  würde.  Immerhin 
al>er  wünle  der  Begriff  der  Aufgala*  alsdann  nur  in  dem  des 
reinen  Willens  begründet  s^'in,  und  nur  folgeweise  auf  das  Sell»st- 
Im'wussImmu  erstreckt  werden.  Der  Begrill  der  Aufgal>e  hat  sich 
jeilm-h  nicht  nur  als  solche  (lonsequen/  für  das  Si*lbsttM*wusstM*in 
7U  iK'wahren.     Diese  neue  Bedeutung  ist  jet/t  zu  ermitteln. 

Wir  haben  das  genaue  methodische  Verhältnis»  des 
Selbstbewusstseins  zum  Slaatsbegriffe  erkannt  und  fest- 
gt*strlll  IXt  Staat  bildet  nicht  nur  das  MusteriHMspiel  für  das 
Selbstl^ewusstsein  der  moralischen  l*ers<m,  sondern  zugleich  den 
Leitlh'jiriff  uml  den  ZiellH'grilT  des  ethisi^hen  S*»lbstlievusstseins 
Wo  und  wie  \ollzieht  denn  nun  aber  der  Staat  die  Aul- 
gäbe  seines  Selbstbewusstseins*'  Das  Si*li)sllM*wusstM*in  und 
das  Vibsi  sind  hier  olTenbar  lediglich  ideal;  man  vermisst  nicht 
den  .St<»t1>%tvtisel;  cnler  man  sollte  ihn  wenigstens  nicht  %er- 
nusxen,  aus  «lein  dieses  Willensi«etnelK»  n*su liierte.  Alter  wenn 
das  SrlbNtlK*^us%lMMn  hier  durchaus  als  Aufhalte  sich  darstellt. 
Ml  blnlit  d(H*h  tlie  Fr.^e.  >%ie  tbes4>  Auf;^alH*  in  Vollzug  komme. 
Wie  diexer  V<»ll/it;:  /u  ilenken  uml  zu  detinien*n  sei  Wir  wis>rn, 
das>  «las  SflkistbewuNxtsein  am  pniecn  an  texten  sich  in  der  llami* 
Itiiu  \(»ll/ie|it.  Wie  \oll/ieht  sich  denn  nun  im  Staate  die 
HaiittUin^'     In    welcher    iHviiMlulieii    r\iN>iin^    lasxi    sich    die 


Das  Gesetz  und  das  Sollen.  247 

Handlung,  in  welcher  der  Staat  die  Aufgabe  des  Selbstbewusst- 
scins  entfaltet,  mittelst  welchen  Begritfs  lässt  sich  diese  Handlung 
fixieren  und  verwirklichen? 

Wir  kommen  hier  auf  einen  neuen  Begriff,  auf  den  des 
Gesetzes.  Die  Handlungen  des  Staates  bestehen  in  Ge- 
setzen. Die  Aufgabe  muss  als  Gesetz  gedacht  und  bestimmt 
werden.  Der  Wille  des  Staats  bekundet  sich  in  Gesetzen.  Das 
Selbstbewusstsein  des  Staates  muss  daher  in  den  Gesetzen,  als 
seinen  Handlungen,  sich  vollziehen  und  entfalten.  Die  Gesetze 
sind  seine  Aufgaben.  In  ihnen  besteht  die  Aufgabe  des  Selbst- 
bewusstseins.  Der  Begriff  der  Aufgabe  wurde  nicht  erschöpft 
innerhalb  der  Construktion  des  reinen  Willens;  und  so  ist  auch 
durch  diese  Construktion  die  Methode  nicht  erschöpft  worden, 
das  Selbstbewusstsein  zu  erzeugen.  Der  methodische  Begriff  des 
Gesetzes  muss  hinzukommen;  die  Aufgabe  muss  zum  Gesetze 
werden,  wenn  das  Selbstbewusstsein  zum  Leitbegriff  werden  soll 
für  alle  Rechtsfragen;  für  die  des  Eigentums,  wie  die  der 
persönlichen  Ehre  und  die  des  persönlichen  Gefühls.  Da  ent- 
steht nun  vor  Allem  die  Frage:  warum  haben  wir  dieses  Wort, 
dieses  Grundwort  aller  Kultur  bisher  vermieden? 

Die  nächste  Antwort  könnte  in  dem  Hinweis  gefunden 
werden  auf  die  schon  mehrmals  erwogene  Schwierigkeit,  die  in 
Kants  Begriffe  des  Sollens  im  Unterschiede  vom  Sein  liegt. 
Gerade  weil  das  Sollen  eine  Art  des  Seins  nichtsdestoweniger  zu 
bedeuten  und  zu  vertreten  hat,  wie  Kant  das  Reich  der  Sittlich- 
keti  in  diesem  Sollen  realisiert,  gerade  darum  wird  der  Begriff 
des  Gesetzes  für  das  Selbstbewusstsein  von  nicht  unmittelbar 
einleuchtender  Bedeutung.  Man  denkt  das  Gesetz  danach  zumeist 
als  Grundgesetz,  als  die  Verfassung  des  Reiches  der  Sitten;  mit- 
hin als  das  Analogon  zum  Grundgesetze  der  Natur,  und  somit 
zur  Natur  selbst.  Dadurch  aber  taucht  wiederum  die  Zweideutig- 
keit auf,  die  in  dem  Naturgesetze  liegt,  und  die  das  Gesetz 
daher  als  ein  Gesetz  in  meinen  Gliedern  erscheinen  lässt.  So 
wird  aus  dem  ersten  Momente,  dass  das  Gesetz  die  Verfassung 
und  das  Reich  der  Sittlichkeit  bedeute,  weil  gewährleiste,  unver- 
sehens das  andere  Moment,  dass  das  Gesetz  ein  Naturgesetz  des 
Bewusstseins  sei.  Dadurch  aber  wird  der  methodische  Idealismus 
der  Ethik  von  Grund  aus  verwirrt  und  gelähmt. 


248  Die  Satzung  und  die  ungeschriebenen  Gesetze. 


Bei  dem  Gesetze,  wie  es  hier  gemeint  ist,  handelt  es  sich 
aber  nicht  um  die  Einheit  und  den  Inbegriff  der  Gesetze,  den 
das  Grundgesetz,  die  Verfassung  ausmacht;  sondern  um  die 
einzelnen  Gesetze  selber,  in  denen  die  Aufgaben  des  Staatswillens 
sich  bekunden  und  betätigen.  Ohne  Gesetze  kein  Wille,  also 
auch  kein  Selbstbewusstsein  des  Staates.  Dieser  Staatsbegriff 
des  Gesetzes  muss  der  Leitbegriff  werden  für  das  persön- 
liche Selbstbewusstsein.  Das  Gesetz  unterscheidet  die  Auf- 
gabe des  reinen  Willens  von  der  psychologischen  Aufgabe  der 
Tendenz,  der  Bewegung  und  der  Begehrung.  Indessen  ist  es 
nicht  diese  Collision  mit  dem  Naturbegrifte  allein,  welche  den 
Begriff  des  Gesetzes  zweideutig  macht;  auch  für  das  Recht  selbst 
ist  er  prinzipiellen  Bedenken  zu  unterwerfen,  die  nicht  nur  auf 
die  Ethik  auszudehnen  sind;  sondern  die  in  der  Ethik  ent- 
springen. Wir  müssen  auf  das  ganze  Problem  des  Gesetzes,  wie 
es  in  der  Logik  entsteht,  zurückblicken,  um  hier  die  richtige 
Orientierung  zu  finden. 

In  der  griechischen  Kultur  entstand  der  Gedanke  des  Gesetzes 
keineswegs  ursprünglich  in  der  logischen  Besinnung,  wenigstens 
nicht  allein  oder  vorwiegend  in  ihr.  Die  theoretische  Frage  freilich 
verknüpfte  von  vornherein  den  Gedanken  des  Gesetzes  mit  dem  des 
wissenschaftlichen  Seins,  mit  der  Substanz.  Die  Politik  da- 
gegen und  die  politische  Reflexion  und  demgemäss  das  Drama, 
in  ihnen  wird  das  Gesetz  zum  Grundbegriffe,  um  den  sich  alle 
ihre  Fragen  und  alle  Kämpfe  drehen  und  gruppieren.  In  der  poli- 
tischen Bedeutung  stellt  sich  nun  aber  die  Zweideutigkeit  dieses 
Begriffes  schroff  und  unverkennbar  bloss.  Das  Gesetz  ist  das  Gesetzte, 
die  Satzung.    Vernunft  wird  Unsinn;   die  Willkür  wird  Gesetz. 

Daher  entsteht  der  tiefe  Gegensatz  der  ungeschriebenen 
Gesetze  gegen  die  geschriebenen.  Man  sieht,  der  Gedanke  des 
Gesetzes  wird  nicht  fallen  gelassen,  sondern  nur  zurückverlegt 
und  im  Geheimniss  des  Ursprungs  geborgen.  Das  Gesetz  bleibt 
der  Ankergrund  der  Sicherheit  und  der  Gewissheit  in  allen  Fähr- 
nissen des  politischen  und  des  sittlichen  Daseins.  Der  Be-* 
deutung  des  Gesetzes  gleich  der  Satzung  tritt  entgegen 
die  Bedeutung  des  Gesetzes  gleich  der  Natur  und  der 
Wahrheit.    Und  so  ist  der  Begriff  des  Gesetzes  in  der   neueren 


Die  einzelnen  Gesetze.  249 


Zeit  zum  Palladium  der  theoretischen  Kultur  geworden;  und  von 
ihr  aus  erst  auch  zu  dem  der  sittlichen  und  der  politischen. 

Wir  sind  soeben  darauf  aufmerksam  geworden,  dass  wir 
hier  das  Gesetz  als  einzelnes  Gesetz  in  Anspruch  nehmen,  nicht 
aber  im  Sinne  des  Grundgesetzes  und  der  Verfassung.  Wir 
werden  später  zu  erwägen  haben,  dass  durch  jene  Analogie  zur 
Natur,  welche  letztere  allerdings  als  die  Verfassung  der  Gesetze 
objektiviert  wird,  das  Sein  der  Sittlichkeit  in  eine  verhängnissvolle 
Schwierigkeit  versetzt  wird;  in  eine  doppelseitige,  nämlich  in 
Mystik  und  in  Skepsis.  Wir  werden  dieser  doppelten  Schwierig- 
keit zu  begegnen  suchen;  und  es  wird  daher  dieser  Versuch  an 
dem  Begritfe  des  Gesetzes  nach  dieser  seiner  umfassenden  Be- 
deutung für  das  Reich  des  Sollens  einzusetzen  haben.  An  diese 
Bedeutung  des  Gesetzes,  als  der  Verfassung  des  sittlichen  Reiches, 
dürfen  wir  jetzt  daher  nicht  denken;  sondern  nur  an  das 
einzelne  Gesetz,  in  dem  der  Staatswille  sich  entfaltet;  und  indem 
demgemäss  auch  das  Selbstbewusstsein  des  Hinzel willens  sich  zu 
entfalten  hat. 

Man  sollte  denken,  es  könne  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
das  Gesetz  für  das  Selbstbewusstsein  des  reinen  Willens  als  der 
unersetzliche  LeitbegrilT  gelten  müsse.  Wenn  der  reine  Wille 
und  sein  Selbstbewusstsein  noch  so  genau  und  streng  auf  den 
Staat  orientiert  ist,  so  sind  die  Collisionen  mit  der  Willkür,  der 
vorübergehenden  Stimmung  und  Wallung,  und  endlich  mit  der 
nicht  ausgereiften  und  abgeklärten  Ansicht  und  Einsicht  darum 
nicht  ausgeschlossen.  An  welchen  Begriff  soll  sich  die  sittliche 
üeberlegung  heften,  wenn  sie  zur  Ueberzeugung  und  zur  Ge- 
sinnung sich  hindurchringen  will?  Es  ist  nicht  allein  das  unge- 
schriebene Gesetz,  auf  welches  die  sittliche  Arbeit  zu  recurrieren 
hat;  sondern  es  -bleibt  trotz  aller  Mängel  und  Schwächen,  mit 
denen  das  geschriebene  Gesetz  otTenkundig  behaftet  ist,  am 
letzten  Ende  nichts  Anderes  übrig,  als  ihm  sich  zu  unterwerfen 
und  seine  Unverletzlichkeit  zu  bezeugen. 

Das  ist  der  ewige  Sinn,  den  der  Opfertod  des  Sokrates  für 
die  sittliche  Welt  hat.  In  ihm  wurde  an  einer  Satzung  ver- 
blendeten Hasses  einer  verworrenen  Generation  nichtsdestoweniger 
der  Begriff  des  Gesetzes  in  seiner  sittlichen  Grundkraft  beglaubigt. 
Für   die  sittliche  Welt   ist  jenes  Gesetz  Athenischer  Bürger  eine 


260  Der  Opfertod  des  Sokrates. 

Lücke  und  ein  Widerspruch;  für  das  Selbstbewusslsein  des 
Sokrates  war  es  der  LeitbegrifF,  der  ihm  zum  reinen  Willen  und 
zum  Selbstbewusslsein  verhalf.  Und  so  vermochte  er  jene  Lücke, 
welche  das  Athenische  Gesetz  in  der  sittlichen  Welt  entstehen 
Hess,  durch  seine  Auslegung  dieses  Gesetzes  auszufüllen.  Er  trat 
in  die  Bresche,  und  er  heilte  den  Riss,  den  jenes  einzelne  Gesetz 
in  das  Gesamtgesetz  der  sittlichen  Welt  schlug.  Das  Verhältniss 
kehrt  sich  scheinbar  hier  um:  das  Individuum  wird  zum  Leit- 
begriffe für  den  Staat.  Aber  das  ist  nur  Schein ;  aus  dem  Staats- 
begriffe vielmehr  strömte  die  Kraft  des  Gesetzes  auf  Sokrates 
über.  Er  isolierte  das  einzelne  Gesetz  nicht  nach  seiner  statistischen 
Besonderheit;  sondern  er  erkannte^und  er  ehrte  in  ihm  die  Majestät 
des  Staates  und  den  Begriff  des  Gesetzes. 

Daher  ist  dieses  Martyrium  von  einer  einzigartigen  ethischen 
Bedeutung.  Es  hatte  keinen  andern  Zweck  als  den,  das  Gesetz 
zu  heiligen  und  in  ihm  die  Sittlichkeit  zu  begründen.  Und  es 
besteht  hier  ein  klaffender  Widerspruch  zwischen  dem  Individuum 
und  der  Gesamtheit,  welche  das  Gesetz  gegeben  hat.  Dennoch 
sagt  das  Individuum:  es  ist  mir  nicht  nur  gegeben;  sondern  ich 
erkenne  es  an;  und  ich  unterwerfe  mich  ihm.  Das  ist  die  rechte 
Erzeugung  des  Individuums.  Es  gibt  kein  anderes  sicheres 
Mittel,  das  Individuum  zum  Selbstbewusstsein  zu  bringen  und  es 
von  der  Selbstsucht  zu  erlösen.  Hier  hatte  Sokrates  seinen  Wahr- 
spruch zu  bezeugen:  ich  weiss,  dass  ich  nicht  weiss.  Er  durfte 
nicht  sagen:  ich  weiss,  dass  die  Athener  nicht  wissen,  was  sie 
tun;  denn  dann  wäre  er  in  die  Collision  geraten,  in  die  ihn 
Kriton  hineinzieht,  indem  er  ihn  zum  Verlassen  des  Kerkers 
bereden  will.  Er  weiss,  dass  er  selbst  unschuldig  ist.  Aber  er 
will  nicht  wissen,  dass  die  Athener  schuldig  sind.  Darum  geht 
er  nach  ihrem  Gesetze,  welches  er  zu  seinem  Gesetze  macht,  in 
den  Tod.  Es  gibt  kein  Selbstbewusstsein,  welches  ohne  Rück- 
sicht auf  den  Staat  und  ohne  Leitung  durch  den  Staatsgedanken 
des  Gesetzes  zu  gewinnen  wäre. 

Das  ist  der  tiefe  tragische  Zug  der  Weltgeschichte,  dass 
durch  die  frechste  Willkür  und  durch  die  grausamste  Heuchelei 
die  Heiligkeit  des  Gesetzes  verletzt  und  verlästert  wird,  und  dass 
die  Edelsten  dieser  Anomalie  zum  Opfer  fallen;  aber  die  Schlechtig- 
keit  der  Menschen   darf  uns  nicht  irre  machen  an  der  Idee  der 


Die  Paradoxie  im  Gesetze.  251 

Menschheit,  an  der  Idee  der  Sittlichkeit,  also  an  dem  Problem  des 
reinen  Willens  und  des  Selbstbewusstseins.  Der  Frage  nach  der 
Erklärung  des  Bösen  in  der  Weltgeschichte  werden  wir  nicht 
ausweichen;  nur  hier  darf  sie  uns  nicht  den  Weg  versperren; 
hier  gilt  es  die  Richtung  auf  das  Gute  und  seine  Möglichkeit 
einzuhalten;  und  das  Gute  in  dem  Guten,  in  dem  Selbstbewusst- 
sein  des  Guten  zu  begründen;  in  dem  Selbstbewusstsein  des 
Gesetzes. 

Auch  wenn  man  von  den  Gesetzen  des  Staates  und  des 
Rechtes  abstrahiert,  muss  man  eine  feste  Richtschnur  für  das 
Wollen  und  das  Handeln  fordern,  wenn  ein  Selbstbewusstsein 
auch  nur  in  dem  gewöhnlichen  Sinne  der  Einheit  des  Bewusst- 
seins  entstehen  soll.  Das  ist  es  ja,  was  unter  dem  Begriffe  des 
Charakters  in  der  besten  Bedeutung  des  Wortes  gemeint  und 
gesucht  wird.  Er  soll  die  Einheit  bedeuten,  welche  das  Wollen 
von  seiner  Zwiespältigkeit  und  Unberechenbarkeit  befreit;  welche 
dem  Handeln  Sicherheit  und  Uebereinstimmung  gibt.  Indessen 
ist  aus  dem  Begriffe  des  Charakters  dem  des  Gesetzes  doch  wieder 
Gefahr  erwachsen;  denn  mehr  noch  als  das  Gesetz  ist  der 
Charakter  von  methodischen  Schwierigkeiten  durch  flochten.  Wir 
gehen  jedoch  jetzt  noch  nicht  auf  die  Erörterung  des  Charakters 
ein;  die  Einheit,  welche  das  Gesetz  herstellen  soll,  braucht  nicht 
in  dieser  Richtung  begründet  zu  werden. 

Das  Gesetz  soll  ja  doch  ein  solches  des  reinen  Willens  sein. 
Der  Hauptunterschied  muss  demzufolge  gegen  alle  Nuancen  der 
Begehrung  und  der  Lust  gerichtet  werden;  nicht  minder  auch 
gegen  die  der  Unlust,  die  wir  nur  in  Mischung  mit  der  Lust 
kennen.  Das  ist  nun  eben  der  neue  Weg,  den  hier  das  Prinzip 
des  Selbstbewusstseins  führt:  dass  wir  das  Gesetz  zuvörderst  gar 
nicht  als  das  eigene  Gesetz  suchen,  sondern  als  ein  scheinbar 
fremdes.  Das  ist  die  Paradoxie  in  diesem  Begriffe  des  Selbst- 
bewusstseins. Wir  kennen  kein  Ich  ohne  Du;  also  auch  kein 
Selbst  ohne  Du  oder  Wir.  Daher  suchen  wir  auch  das  Gesetz 
nicht  im  absoluten  Ich.  Die  Frage,  ob  es  ein  selbstherrlich 
eigenes  sei,  lassen  wir  uns  einstweilen  nicht  anfechten;  uns  ist 
mehr  darum  zu  tun,  die  Gefahren,  die  Schleichwege  und  die 
Schlupfwinkel  des  Egoismus  auszuschalten.  Gegen  den  Stoss 
von  Aussen   sind  wir  durch  die  allgemeine  Methodik  der  Hypo- 


252  Das  sittliche  Gesetz  nicht  Naturgesetz. 

thesis  geschützt.  Wie  alles  Gesetz,  auch  im  logischen  Sinne, 
Hypothesis  ist,  so  muss  es  auch  hier  gewiss  nur  als  Grundlegung 
zur  Grundlage  und  Richtschnur  gefordert  werden. 

Das  Gesetz  ist  als  die  Grundlegung  zu  erkennen,  welche 
im  Selbstbewusstsein  gelegt  wird.  Die  Aufgabe  des  Selbstbewusst- 
seins  ist  ja  doch  die  Hypothesis  des  Selbstbewusstseins.  Und  sie 
bedeutet  nichts  Anderes  als  die  Aufgabe,  die  Aufforderung  zum 
Selbst.  So  wird  die  Aufgabe  des  Selbstbewusstseins  zum  Gesetz 
des  Selbstbewusstseins,  weil  zur  Grundlegung  des  Selbstbewusst- 
seins. Da  kann  von  keiner  auswärtigen  Aufgabe  die  Rede  sein; 
es  ist  vielmehr  die  innerste  Entwickelung  des  Grundgedankens 
der  Hypothesis,  welche  in  der  Forderung  des  Gesetzes  vollzogen 
wird.  Und  es  ist  zugleich  die  deutlichste  und  natürlichste  Ab- 
lenkung von  allem  Selbstischen,  Transitorischen,  Wechselnden 
des  isolierten  Individuums,  die  durch  das  Gesetz  weitergeführt 
und  durchgeführt  wird.  Wie  ich  mein  Selbst  nicht  im  Ich, 
sondern  im  Du  und  Wir  nur  finden  kann,  so  kann  ich  die  Auf- 
gabe, die  mir  schon  in  der  ersten  Regung  des  Willens  entsteht, 
in  der  Handlung  nur  dadurch  ausführen,  dass  ich  das  Selbst- 
bewusstsein als  Gesetz  erkenne,  wie  ich  es  im  Staate  anzu- 
erkennen habe. 

Woher  es  komme,  diese  Frage  geht  mich  in  diesem  Punkte 
nichts  weiter  an.  Woher  es  auch  kommen  mag,  ich  darf  die 
Richtung  nicht  verlieren,  in  die  es  sich  erstreckt;  ich  muss  die 
Spur  seines  Laufes  verfolgen;  der  Begriff  des  Gesetzes  muss  der 
Leitstern  meines  Selbstbewusstseins  bleiben.  Nur  dadurch  kann 
ich  von  dem  Verdachte  frei  werden,  dass  ich  mit  allem  meinem 
Wollen  und  Tun  doch  nur  in  dem  Zirkel  des  Stoffwechsels  ver- 
haftet bliebe;  dass  ich  nur  ein  isoliertes  Individuum  wäre.  Denn 
das  Gesetz  bedeutet  hier  ja  gerade  das  einzelne  Gesetz;  und 
dennoch  soll  es  den  Begriff  des  Gesetzes  unwidersprechlich  ver- 
treten dürfen.  Das  geht  über  die  Befugniss  eines  Naturgesetzes, 
welches  die  pathologischen  Ausnahmen  ausschliesst.  Hier  aber 
soll  das  einzelne  Gesetz  in  aller  seiner  Schlechtigkeit  nichtsdesto- 
weniger ein  Symbol  des  ewigen  und  wahren  Gesetzes  sein.  So 
sieht  man  hieraus,  dass  der  Begriff  des  Gesetzes,  als  des  einzelnen 
Gesetzes,  notwendig  und  unersetzlich  ist  für  den  reinen  Willen 
und  das  Selbstbewusstsein. 


Legalität  und  Moralität.  253 

Indessen  ist  dem  Begriffe  des  Gesetzes  die  grösste  Schwierig- 
keit gerade  auf  der  Seite  entstanden,  auf  welcher  ihm  seine  tiefste 
Begründung  geworden  war.  Kant  hat  das  Gesetz  zum  Schwer- 
punkt der  Ethik  gemacht.  Und  dennoch  hat  er  Legalität  von 
Moralität  unterschieden.  Die  Moralität  wurzelt  im  Gesetze; 
al)er  sie  ist  nicht  Legalität.  Man  ersieht  hieraus  sofort,  wie  hin- 
tallig  der  Verdacht  ist,  als  ob  das  Gesetz  die  Ethik  entnervte, 
unselbständig  und  unfrei  machte.  Das  wäre  Legalität;  das  ist 
nicht  Moralität.  Das  Gesetz  gerade  unterscheidet  die 
Moralität  von  der  Legalität.  Bevor  wir  jedoch  diesen  Sinn 
des  Gesetzes  weiter  zu  beleuchten  und  tiefer  auszuschöpfen  ver- 
suchen, fragen  wir  nur  vor  Allem  nach  dem  Sinne  der  Legalität. 
Wohin  trifft  und  zielt  diese  Pointe? 

Geht  sie  auf  die  Religion,  die  statutarische,  die  nachdem 
Buchstaben  des  göttlichen  Wortes  sich  einrichtet  und  festbaut? 
Das  Hesse  man  sich  gefallen;  und  in  der  Tat  ist  dies  der  Gesichts- 
punkt, aus  weichem  Kant  die  Religionen  nach  Massgahe  seiner 
literarischen  Kenntnisse  von  ihren  Urkunden  und  ihrer  Geschichte 
beurteilt  hat.  Aber  der  Gegensatz  bleibt  nicht  bei  der  Religion 
stehen;  sondern  er  erstreckt  sie*  auch  auf  das  Recht.  Und 
hier  wird  er  um  so  bedenklicher,  als  er  für  evident  und  für 
unverdächtig  gehalten  wird.  Es  entsteht  daraus  nicht  nur  eine 
schwere  Zweideutigkeit  für  den  Begriil  des  Rechtes  und  des 
Staates,  sondern  zugleich  eine  nicht  minder  verhängnissvolle  für 
das  ganze  Problem  der  Ethik,  gerade  weil  und  insofern  sie  auf 
dem  Begriffe  des  Gesetzes  beruht 

Denn  der  Begriff  des  Gesetzes  wird  durch  jene  Legalität, 
der  die  Moralität  entgegengestellt  wird,  unwillkürlich  und  unver- 
meidlich in  Verdacht  gebracht.  Der  Grundbegriff  der  Moralität 
ist  zugleich  das  Wort  für  das  Widerspiel  derselben.  Eine  solche 
Zweideutigkeit  darf  dem  Begriffe  des  Gesetzes  nicht  anhaften;  sie 
muss  von  ihm  entfernt  werden.  Sie  hat  in  der  Tat  keinen  recht- 
lichen und  keinen  philosophischen  Ursprung,  sondern  einen  un- 
zweifelhaft religiösen.  Sie  entspringt  der  Polemik,  welche 
Paulus  ander  Mosaischen  Lehre  übt, die  er  als  Gesetz  bezeichnet 
und  kennzeichnet.  Es  tritt  in  der  ursprünglichen  Polemik  gegen 
das  Gesetz  mithin  ein  ganz  anderer  Begriff  «luf,  dessen  Bedeutung 
für  die  Sittlichkeit   übrigens   hier  nicht  in  Frage  kommen  darf. 


254  Die  Form  des  Gesetzes. 

Nur  das  Gesetz  darf  uns  darum  nicht  verdächtig,  aber  auch  nicht 
zweideutig  werden. 

Wir  befinden  uns  hier  wieder  an  einem  Wendepunkt  der  Ethik 
in  der  Richtung  zur  Rechtsphilosophie.  Kant  hat  diese  als 
die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Rechtslehre  von  der 
Ethik  unterschieden;  und  zwar  nicht  nur  in  Bezug  auf  die 
technische  Ausfuhrung.  Das  Prinzip  wird  ein  anderes.  An  die 
Stelle  des  Sittengesetzes  tritt  der  Zwang.  Der  Unterschied  wird 
um  so  härter,  als  eine  Vereinbarung  behauptet  wird;  Recht  und 
Befugniss  zu  zwingen  bedeuten  einerlei.  Bevor  wir  nun  die  Be- 
deutung dieses  Zwanges  für  das  Recht  betrachten,  wollen  wir 
nur  erwägen,  was  dieser  Unterschied  für  die  Ethik  ausmacht. 

Man  könnte  denken,  wenn  die  Legalität  des  Gesetzes  so 
gleichbedeutend  wird  mit  dem  Zwange  des  Rechtes,  dass  dadurcli 
der  Sinn  des  Gesetzes  für  die  Ethik  ausser  Zweifel  gestellt  würde; 
dass  es  als  das  schlechthin  allgemeine  Gesetz  von  der  Maxime, 
als  dem  subjektiven  Bestimmungsgrunde,  unterschieden  w^rde. 
Indessen  wenn  sonach  das  Sittengesetz,  als  das  Gesetz  der  Gemein- 
schaft und  der  Menschheit,  aller  Isoliertheit  des  Individuums 
entgegentritt,  worin  unterscheidet  es  sich  alsdann  von  dem  Ge- 
setze des  Rechts,  bei  welchem  es  sich  doch  auch  um  Jedermann 
handelt? 

Es  entsteht  bei  dieser  Unterscheidung  zwischen  Recht  und 
Sittlichkeit  der  schwere  Zweifel,  dass  die  reine  Sittlichkeit  viel- 
mehr leer  sei;  und  dass  sie,  von  der  Lehrart  abgesehen,  in  der 
Hauptsache  doch  nichts  Anderes  als  die  Religion  besage  und  be- 
deute. Der  Zweifel  wird  am  schlimmsten  dadurch  gehoben,  dass 
die  Conse([uenz  daraus  gezogen  wird:  sie  könne  und  sie  solle 
auch  nichts  Anderes  bedeuten.  Man  w^eiss,  dass  die  Kantische 
Ethik  in  ihrem  Sittengeselze  diesem  Verdikte  dauernd  verfallen 
ist;  zumal  der  Verdacht  bestärkt  wurde  durch  das  Missverständniss 
der  Form  des  Gesetzes,  auf  welche  das  Sittengesetz  zurückgeführt 
wurde.  Anstatt  zu  erkennen,  dass  aus  der  Form  des  Gesetzes 
der  echte  Inhalt  des  Gesetzes  lauter  und  fruchtbar  hergeleitet 
werden  sollte,  hat  man  die  Form  dem  Inhalt  entgegengesetzt. 
Wenn  es  aber  angemessen  ist,  für  grosse  durchgreifende  Irrungen 
nicht  nur  Oberflächlichkeit  und  Verkehrtheit  als  die  historischen 
Gründe  anzunehmen,  so  darf  man  vielleicht  in  der  Zwitterstellung. 


Der  Zwang.  255 

des  Gesetzes,  welche  sich  aus  der  Unterscheidung  von  Ethik  und 
Recht  h?\  Kant  ergibt,  einen  Erklärungsgrund  für  dieses  durch- 
greifende Missverständniss  erkennen. 

Welche  Bedeutung  kann  nun  aber  der  Zwang  für  das  Recht 
haben?  Auf  den  Erfolg  des  Zwanges,  um  diesen  Gedanken  zu- 
nächst abzufertigen,  ist  es  keineswegs  abgesehen;  der  wird  nicht 
erwartet.  Es  handelt  sich  lediglich  um  das  Merkmal,  welches 
der  Begriff  des  Rechtes  dadurch  empfangen  soll,  um  die  Willkür 
des  Einen  mit  der  Willkür  des  Andern  zu  vereinigen.  Es  handelt 
sich  also  im  Grunde  nur  um  den  Gegensatz  des  Einen  und  des 
Andern,  der  geschlichtet  werden  soll.  Und  der  Zwang,  als  ein 
inneres  Merkmal  des  Rechtes,  ist  nichts  Anderes  als  das 
Schlichtungsmittel  dieses  Widerstreits.  Handelt  es  sich  denn  aber 
in  der  ganzen  Ethik  um  etwas  Anderes  als  um  das  Problem  des 
Einen  und  des  Andern?  Müsste  nicht  daher  also  auch  für  die 
gesamte  Ethik  der  Zwang  zum  Prinzip  gemacht  werden,  sofern 
er  nichts  Anderes  bedeutet  als  die  Vereinigung  des  Einen  und 
des  Andern?  Es  ist  dies  dieselbe  Frage,  welche  wir  von  Anfang 
an  gestellt  hatten:  was  ist  die  Ethik  ohne  das  Recht? 

Daher  lassen  wir  füglich  den  Zwang  fallen;  denn  er 
kann  und  soll  und  darf  nichts  Anderes  bedeuten  als  das  Gesetz. 
Wenn  die  Befugniss  des  Zwangs  ein  inneres  Merkmal  des  Rechts 
ist,  welches  die  Vernunft  anzuerkennen  hat,  so  geht  der  Zwang 
ebenso  sehr  auf  den  Einen  wie  auf  den  Andern.  Damit  aber  ist 
man  auf  das  sittliche  Gesetz  zurückgekommen,  welches,  ohne 
allen  besondern  Inhalt,  in  seiner  Form  die  Allgemeinheit  voll- 
zieht und  darstellt,  also  den  Widerstreit  vom  Einen  und  Andern 
aufhebt.  Der  Zwang  richtet  sich  eigentlich  doch  nur  gegen  den 
Andern;  denn  für  den  Einen  zwingt  doch  schon  das  Sittengesetz. 
Wenn  dieses  nun  aber  zugleich  auf  den  Andern  bezogen  ist,  wie 
es  denn  gar  nicht  ohne  den  Andern  gedacht  werden  kann,  so 
wird  der  Zwang  gänzlich  überflüssig.  Er  könnte  nur  zum  Ausdruck 
der  doppelten  Tendenz,  das  Recht  von  der  Ethik  und  die  Ethik  vom 
Rechte  abzutrennen  dienen.  Die  Ethik  würde  damit  gegen  das 
historische  Material  des  Rechtes  unabhängig  gestellt,  das  Recht  aber 
auch  der  Ethikgegenüber  souverän.  Jedenfalls  wird  dadurch  wieder- 
um dem  Verdachte  der  Leerheit  des  allgemeinen  Sittengesetzes  Vor- 
schub  geleistet.    Die   Ethik   hat   ihre   Unabhängigkeit    von    der 


266  Die  Normen. 

historischen  Materie  des  Rechts  dadurch  zu  beweisen,  dass  sie 
an  den  grossen  Rechtsinstituten  ihre  methodische  Kritik  übt, 
und  dass  sie  diese  Kritik  positiv  fruchtbar  zu  machen  sucht  in 
der  Forderung  solcher  Rechtsinstitute,  welche  dem  unnachlass- 
liehen  Sittengesetze  schlechterdings  gerecht  werden. 

Die  Ethik  kann  den  Begriff  des  Zwanges  für  das  Recht  um 
so  getroster  fallen  lassen,  als  der  Begriff  des  Gesetzes  in  einem 
andern  charakteristischen  Terminus  an  die  Spitze  tritt:  in  der 
Rechtsnorm.  Die  Normen  sind  an  und  für  sich  Gesetze;  sind 
sie  doch  die  mathematische  Urform  eines  Gesetzes,  insofern  sie 
als  Winkelmass  die  Vorschrift  und  die  Richtschnur  bilden. 
In  den  Normen  legitimiert  das  Recht  den  Begriff  des  Gesetzes. 
Es  lenkt  von  dieser  logischen  Bedeutung  der  Norm  ab,  wenn 
auf  die  sprachliche,  grammatische,  stilistische  Form  der  Nachdruck 
gelegt  wird.  Freilich  drückt  sich  die  Norm  am  bequemsten  und 
natürlichsten  in  der  Form  des  Imperativs  aus;  denn  die  Norm 
richtet  sich  an  Jedermann;  an  jeden  Menschen;  aber  auch  nur 
an  jeden  Menschen.  Wir  werden  sehen,  was  diese  Einschränkung 
zu  bedeuten  hat. 

Wenn  sie  aber  als  Imperativ  sich  ausdrücken  darf,  so  ist 
der  Grund  der  Norm  ebensowenig  in  dem  Befehle  zu  erkennen, 
wie  der  Grund  des  Gesetzes  in  dem  Zwange.  Diese  Spitze  des 
Befehls .  wird  schon  dadurch  abgestumpft,  dass  Niemand  übrig 
bleibt,  dem  nicht  befohlen  wnirde.  Es  ist  Niemand  von  dem 
Gesetze,  von  der  Norm  ausgenommen.  Das  Recht  befiehlt  eben- 
sosehr dem  Einen,  wie  dem  Andern;  wie  es  auch  den  Einen 
ebensosehr  zwingt,  wie  den  Andern.  Man  darf  daher  auch  nicht 
zuviel  Wert  auf  die  sprachliche  Form  des  Gesetzes  legen,  sofern 
sie  sich  in  „Wir  verordnen"  darlegt.  Dieses  Wir  schliesst  eben 
den  Gesetzgeber,  der  das  Winkelmass  anlegt,  ebenso  ein,  wie 
alle  die  Anderen,  auf  die  der  Eine  ebenso  bezogen  ist,  wie  sie 
auf  ihn.  Daher  ist  es  auch  unnötig  und  unzweckmässig,  wenn 
Bierling  ^Du  sollst"  auflöst  in  „Ich  will.  Du  sollsf-.  DennBier- 
ling  verlangt  ja  selbst  richtigerweise  Anerkennung,  wenigstens 
indirekte  für  das  Recht.  Dann  kann  aber  auch  Jedermann  an 
sich  selbst  den  Ruf  ergehen  lassen:  Du  sollst;  und  er  braucht 
dazu  nicht  erst  das  Ich  des  Gesetzgebers  hinzuzunehmen.  In 
seiner  Anerkennung,  die  erfordert  wird,  gibt  sich  eine  Befugniss 


Die  Normen  nicht  Urteile.  267 

zur  Verordnung  kund.    In  der  Aufgabe  seines  Selbstbewusstseins, 
werden  wir  sagen  dürfen,  liegt  der  Rechtsgrund  der  Norm. 

Dieses  Absehen  von  der  Befehlsform  ist  der  richtige  Kern 
in  Zitelmanns  Ansicht  von  den  Normen,  als  Urteilen.  Aber 
hier  entsteht  der  geföhrlichere  Irrtum  in  der  Gleichsetzung 
der  Rechtsurteile  mit  den  Urteilen  über  die  Natur. 
Schon  Mill  hatte  auf  diese  falsche  Bahn  gelenkt,  indem  er  die 
Gesetze  als  Indicative  charakterisiert.  Das  Recht  beschreibt 
jedoch  keineswegs  lediglich  Verhältnisse  und  Einrichtungen; 
sonst  könnten  die  Normen  nicht  Rechtswirkungen  zur  Folge 
haben,  abgesehen  von  den  Strafen.  Das  Recht  erhebt  Forderungen, 
von  deren  Erfüllung  Rechtswirkungen  abhängig  gemacht  werden; 
deren  Erfüllung  Rechtswirkungen  zur  Folge  haben.  Dieses 
consecutive  Verhältniss  greift  über  die  Beschreibung  hinaus, 
welche  dem  blossen  Indicativ  zusteht.  Aber  die  Rücksicht  auf 
die  Folge,  welche  der  Norm  eigentümlich  ist,  unterscheidet  sie 
auch  von  den  Urteilen  über  die  Natur. 

Mit  dieser  Rücksicht  auf  die  Folge  hängt  jedoch  noch  eine 
andere  Schwierigkeit  zusammen,  welche  den  Begriff  der  Norm 
zu  dem  des  Naturgesetzes  zu  nivellieren  droht.  Die  Norm  wird 
demzufolge  als  Bedingung  gedacht;  wie  sie  denn  auch  aus- 
drücklich oder  latenter  Weise  in  der  logischen  Struktur  der  Be- 
dingung errichtet  wird.  Wenn  sie  aber  Bedingung  ist,  so  wird 
sie  zum  Naturgesetz,  welches  als  Bedingung  formulierbar  wird. 
Man  meint  der  Rechtsnorm  dadurch  zu  dem  höchsten  logischen 
Werte  zu  verhelfen,  wenn  man  sie  mit  dem  Naturgesetze  auf 
eine  logische  Stufe  bringt.  Man  übersieht  jedoch,  dass  darüber 
die  Unterscheidung  von  Ethik  und  Logik  verloren  geht;  und 
was  kann  alle  Logik  der  Rechtswissenschaft  helfen,  wenn  sie 
darüber  der  Ethik  verlustig  gehen  muss?  Hier  muss  also  ein 
Fehler  vorliegen;  die  Normen  dürfen  nicht  schlechthin 
als  Urteile  gelten. 

Der  Unterschied  zwischen  den  Gesetzen  der  Rechts- 
normen und  den  Naturgesetzen  der  Bedingungen  lässt 
sich  nach  der  Terminologie  unserer  Logik  der^reinen  Elrkenntniss 
kurz  und  bestimmt  bezeichnen.  Die  Naturgesetze  der  Bedingung 
gehören  dem  Gesichtspunkte  der  Relation  an;  und  sie  sind  not- 
wendig zur  Constituierung   des   sachlichen   Begriffs   der   Natur. 

17 


258  Die  Modalität  ffir  die  Rechtsnorm. 


Man  könnte  nun  glauben,  dass  auch  die  Normen  notwendig  seien 
für  den  sachlichen  BegrifT  des  Rechts.  Das  sind  sie  freilich;  aber 
man  darf  den  sachlichen  Begriff  des  Rechts  nicht  einfach  gleich- 
setzen dem  sachlichen  Begriffe  der  Natur.  Die  Sache  macht 
hier  den  Unterschied;  und  die  Sache  bedingt  das  Problem  und 
die  Methode. 

Uebrigens  enthält  die  Methode  auch  die  Probe  auf  das 
Exempel.  Auch  die  Natur,  und  also  auch  das  Naturgesetz  der 
Bedingung  muss  sich  die  Frage  gefallen  lassen,  ob  sie  nur  ein 
Problema  und  eine  Hypothese,  oder  aber  eine  Wirklichkeit  zu 
bedeuten  habe.  Diese  Frage  ist  die  Frage  der  Modalität.  Und 
die  Modalität  dient  nicht  allein  etwa  der  Skepsis  und  deren  Auf- 
lösung, sondern  sie  begleitet  alle  Schritte  der  Forschung  auf 
ihren  einzelnen  Wegen.  Die  Rechtsnorm  gehört  der  Moda- 
lität an.  Deshalb  darf  sie  nicht  als  Bedingung,  welche 
eine  constitutive  Urteilsart  ist,  gedacht  werden.  Sie 
muss  als  der  Quell  gehalten  und  behütet  werden,  aus  dem  un- 
versiegbar neue  Normen  herleitbar  werden.  Sie  muss  die 
methodische  Richtschnur  der  Rechtsforschung  und  der  Rechts- 
findung, wie  der  Gesetzgebung,  bilden. 

Was  wäre  denn  damit  gewonnen,  wenn  die  Norm  als  Be- 
dingung gelten  dürfte,  wie  man  dies  aus  dem  Gesichtspunkt  der 
Ueberspannung  des  Naturgesetzes  so  ansieht?  Nichts  als  eine 
blosse  Tautologie  wäre  damit  ausgesprochen.  Das  Recht  besteht 
in  den  Normen.  Diese  werden,  wir  wollen  es  einmal  so  annehmen, 
in  Bedingungssätzen  formuliert.  Also  sind  die  Normen  Be- 
dingungen. Und  was  bringen  diese  Bedingungen  zu  Stande? 
Welchen  Inbegriff  von  Verhältnissen  constituieren  sie?  Die 
Antwort  ist:  das  Recht.  Ist  dieses  Recht  aber,  welches  nun  so 
als  der  Inbegriff  der  Bedingungen,  die  die  Normen  bilden,  her- 
auskommt, etwas  Anderes  als  das  Abstraktum  des  Rechtes, 
welches  von  Anfang  an  als  in  den  Normen  bestehend  definiert 
wurde?    Welcher  neue  Begriff  kann  sich  so  ergeben? 

Man  sieht,  der  Begriff  der  Bedingung  bedeutet  hier  für  die 
Constituierung  etwas  ganz  Anderes  als  bei  der  Natur.  Dort  lehrt 
er,  dass  die  Natur,  von  der  man  meint,  sie  werde  durch  die 
Sinne  offenbart,  vielmehr  erst  durch  die  Bedingungsgleichungen 
entdeckbar   werde.    Und   darauf  kommt   alsdann   die  Modalität 


Die  Notwendigkeit  als  Allgemeinheit.  259 


mit  ihren  skeptischen,  vielmehr  methodischen  Fragen:  was  ist 
diese  bedingte  Natur?  Ist  sie  nur  Möglichkeit,  oder  auch  Wirk- 
lichkeit? Hat  es  nun  aber  etwa  den  gleichen  Sinn,  wenn  diese 
modalen  Fragen  auch  auf  die  Rechtsnormen,  wie  sie  als  Be- 
dingungen gefügt  seien,  gerichtet  werden?  Zweifelt  man  etwa 
an  der  Wirklichkeit  einer  Verordnung,  wenngleich  sie  nur  Be- 
dingung sei? 

Der  Nachteil,  der  in  der  Charakteristik  der  Normen  als 
Bedingungen  liegt,  ist  jedoch  noch  schwerer  und  positiver.  Bei 
der  Modalität,  die  so  umgangen  und  aus  dem  Felde  geschlagen 
wird,  handelt  es  sich  nicht  allein  um  Möglichkeit  und  Wirklich- 
keit, sondern  auch  um  Notwendigkeit.  Möglichkeit  und  Wirk- 
lichkeit mögen  für  die  Charakteristik  der  Normen  zurücktreten; 
umso  wichtiger  und  unumgänglicher  wird  die  Notwendigkeit; 
Hier  aber  müssen  wir  uns  auf  diejenige  Bedeutung  der  Not- 
wendigkeit berufen,  welche  die  Logik  der  reinen  Erkenntniss  be- 
gründet hat.  Nach  ihr  ist  die  Allgemeinheit  nicht  mehr  der 
Lückenbüsser,  der  da  sich  einschleichen  mag,  wo  das  Gesetz  sich 
nicht  klar  und  ausdrücklich  als  ausnahmslos  durchgreifend  er- 
w^eist.  Wir  haben  die  Allgemeinheit  von  der  Allheit 
unterschieden.  Die  Allheit  ist  ein  constitutiver  Grundbegriff. 
Sie  ist  dies  für  die  Mathematik.  Sie  hat  sich  so  auch  für  die 
Ethik  bewährt;  das  Selbstbewusstsein  des  Staates  ist  dieser  Muster- 
begriff der  Allheit.  Die  Allgemeinheit  dagegen  hat  aus- 
schliesslich methodische  Bedeutung  für  den  Gang,  für 
den  Stufengang  der  wissenschaftlichen  Forschung  auf 
allen  Gebieten;  so  auch  im  Rechte. 

Im  Rechte  aber  kommt  es  vor  Allem  auf  Allgemein- 
heit an.  Das  ist  der  Sinn  der  Norm,  der  modale  Charakter  der 
Norm,  dass  sie  ausnahmslose  Allgemeinheit  festsetzt.  Das 
ist  schon  negativ  ein  grosser  Gewinn.  In  dieser  Negation  der 
Ausnahme  liegt  der  Grund  für  den  positiven  Inhalt  der  Allgemein- 
heit. Darin  besteht  der  logische  Wert,  mit  dem  Kant  den 
ethischen  Wert  seines  Sittengesetzes,  als  der  Form  einer  all- 
gemeinen Gesetzgebung,  begründet  hat.  Wenn  Nichts  für  den 
Begriff  des  Sittengesetzes  vorausgesetzt  werden  darf,  was  als 
Materie  gelten  müsste,  als  empirische,  sei  es  psychologische,  sei 
es   historische  Voraussetzung,    so   bleibt    in   der  Tat  nur  dieses 

17* 


2(}0  Kants  Form  des  allgeraeinen  Gesetzes. 

übrig,  und  dies  bleibt  übrig:  die  Allgemeinheit  des  Gesetzes.  Ein 
Gesetz,  das  Ausnahmen  zulässt,  ist  kein  Gesetz. 

Man  würde  neue  Planeten  nicht  suchen  können,  wenn  sie 
nicht  als  Störungen  für  das  ausnahmslose  Gesetz  der  Gravitation 
gedacht  würden.  Wieviel  mehr  gilt  dies  für  das  Sittengesetz, 
welches  doch  nicht  einmal  an  die  Planeten  gebunden  ist,  sondern 
lediglich  an  die  Definition  von  Ich  und  Du  und  Wir.  Die  All- 
gemeinheit kann  hier  gar  nicht  mit  der  Allheit  verwechselt 
werden;  denn  die  Allheit  wird  allein  schon  durch  Ich  vertreten. 
Bei  der  Allgemeinheit  dagegen  kommt  es  auf  die  Entfaltung  zum 
Du  und  zum  Er  an,  welches  Er  wiederum  in  Du  verwandelt 
wird;  und  auf  die  breiteste  Entfaltung  aller  Er,  auf  dass  sie  in 
Wir  zusammengezogen  werden.  Es  kommt  dabei  auch  nicht 
auf  die  Zusammenziehung  in  Wir  allein  an,  sondern  auf  die 
breite,  deutliche  Entfaltung  der  Einzelnen,  auf  dass  sie  als  All- 
gemeinheit darstellbar  werden. 

Man  könnte  einwerfen,  die  Allgemeinheit  unterscheide  sich, 
wenn  allenfalls  von  der  Allheit,  so  doch  nicht  von  der  Mehr- 
heit in  unserem  Sinne.  Aber  wir  wissen  aus  der  Logik,  dass 
es  bei  der  Mehrheit  sich  nur  um  diese  selbst  handelt,  gar  nicht 
aber  um  ihre  einzelnen  Glieder.  Das  kann  für  die  Allgemeinheit 
nicht  der  Sinn  sein;  in  der  es  vielmehr  auf  jeden  Einzelnen 
ankommt,  dass  er  nicht  etwa  als  Ausnahme  aus  der  Norm 
herausfalle.  Man  erkennt  an  diesem  Einwände,  dass  es  bei  dem 
Begriffe  der  Allgemeinheit  sich  im  letzten  Grunde  gar  nicht  um 
Allheit  oder  Mehrheit  handelt;  sondern  um  etwas  ganz  Anderes, 
welches  eben  der  modalen  Rücksicht  angehört. 

Hier  kommen  wir  auf  eine  andere  Schwäche  in  Kants 
Bestimmung  des  Gesetzes  unter  der  Form  des  allgemeinen  Gesetzes. 
Die  eigentliche  Bedeutung  der  Allgemeinheit  kommt  bei  dem 
Unterschiede  von  Form  und  Materie  nicht  zum  Austrag. 
Es  handelt  sich  hier  um  einen  modalen  Unterschied,  also  um 
eine  Stufe  auf  dem  Wege  der  Forschung,  der  Findung  und  der 
Ausbildung  und  Ausdehnung  und  erweiterten  Durchführung  des 
Gesetzes.  Diese  Rücksicht  ist  auch  schon  für  den  Charakter  des 
Sittengesetzes  an  sich  von  Belang.  Es  beruht  darauf  seine 
Lebendigkeit  und  seine  ewige,  unerschöpfliche  Fruchtbarkeit; 
nicht    nur   die   Variabilität    seiner    Formulierung.    Aber    dieser 


Der  Uebergang  der  Form  in  den  Inhalt.  1)6  L 

modale  Wert  der  Allgemeinheit  wird  nun  für  den  logischen 
Charakter  der  Norm  wichtig  und  ausschlaggebend. 

Wir  haben  soeben  den  hohen  Wert  betrachtet,  der  dem 
Kantischen  Gedanken  des  Gesetzes  beiwohnt,  sofern  dasselbe 
lediglich  durch  die  allgemeine  Gesetzgebung  der  Form  gemäss 
bestimmt  wird,  und  seinen  Inhalt  empfangt.  Wir  haben  dabei 
allerdings  nur  auf  die  Allgemeinheit  Rücksicht  genommen;  aber 
das  Moment  der  Gesetzgebung,  auf  das  wir  ausführlich  noch  ein- 
zugehen haben,  ist  ja  immerhin  schon  im  Begriffe  des  Selbst- 
bewusstseins  zur  Anlage  gekommen.  Auch  kommt  in  letzter 
Instanz  für  den  Begriff  des  Sittengesetzes  doch  Alles  auf  die  All- 
gemeinheit an.  Da  muss  man  nun  aber  fragen:  worin  liegt  die 
Bürgschaft  für  diesen  hauptsächlichen  Wert  der  allgemeinen 
Geltung  des  Gesetzes?  Und  die  Antwort  kann  nur  die  sein,  dass 
die  Definition  allein  diese  Bürgschaft  enthalte;  in  Kantischer 
Terminologie  der  analytische  Begriff  des  Gesetzes.  Daraus  wird 
es  aber  wiederum  verständlich,  dass  man  mit  dieser  Bestimmung 
des  Gesetzes  aus  der  Methodik  der  Form  heraus  sich  nicht  zu- 
frieden geben  mochte,  dass  man  in  einem  falschen  Ausdruck  des 
gefühlten  Mangels  den  Inhalt  in  dieser  allgemeinen  Form  ver- 
misste;  während  man  mit  Recht,  wie  wir  sehen  wollen,  den  Zu- 
sammenhang mit  dem  Inhalt  und  den  Uebergang  gleichsam 
der  Form  in  den  Inhalt  vermissen  durfte.  Es  genügt  nicht 
zu  sagen,  dass  der  Begriff  des  Gesetzes  die  Allgemeinheit  fordere; 
sondern  es  gilt  ausdrücklich  zu  lehren,  dass  die  Allgemeinheit 
den  praegnanten  methodischen  Sinn  hat:  alle  Einzelheit,  die  dem 
betreffenden  Problema  angehört,  aus  sich  ableitbar  zu  machen. 
Das  ist  der  modale  Sinn  der  Allgemeinheit. 

Dieser  modale  Sinn  setzt  die  Allgemeinheit  gleich 
der  Notwendigkeit.  Allgemein  und  notwendig  sind  immer 
schon  zusammen  gedacht  worden.  Die  Logik  der  reinen  Er- 
kenntniss  hat  es  klargestellt,  dass  und  wie  sie  zusammengehören. 
Das  Beweisverfahren,  wie  es  für  die  Probleme  der  Induktion 
geboten  ist,  ist  auf  den  allgemeinen  Obersatz  angewiesen.  Der- 
selbe enthält  daher  keineswegs  eine  Erschleichung  oder  Vorweg- 
nahme dessen,  was  erst  bewiesen  werden  soll,  sondern  einfach 
die  Anweisung  und  den  Leitfaden,  dessen  sich  die  apodiktische 
Notwendigkeit,   die  Notwendigkeit  des  Beweisverfahrens  zu   be- 


262  Das  Gesetz  bat  keine  Lücke. 


dienen  hat.  Wenn  man  Alle  sagt,  so  hat  man  nicht  etwa 
die  Einzelnen  vorweggenommen;  sondern  man  sagt  nur 
Alle,  um  die  Einzelnen  zu  finden;  man  gibt  sich  damit 
nur  die  Direktion,  sie  zu  suchen.  Der  allgemeine  Satz  hat 
seine  praegnante  Bedeutung  nur  als  Obers  atz  des  induktiven 
Syllogismus.  Wo  er  als  deduktiver  Satz  ausgesprochen  wird 
für  die  Probleme  der  mathematisch  -  naturwissenschaftlichen 
Deduktion,  da  liegt  seine  logische  Bedeutung  in  der  Grundlegung 
des  Prinzips;  nicht  aber  in  der  Form  des  allgemeinen  Urteils. 
Die  Allgemeinheit  ist  das  methodische  Hilfsmittel,  und  daher  die 
Kategorie  des  induktiven  Syllogismus.  > 

Vor  einem  solchen  Probleme  steht  allerwege  das  Recht; 
und  demgemäss  die  Ethik,  insofern  sie  sich  verwirklicht.  Welches 
Mittel  und  welche  Gewähr  gibt  es,  dass  das  Gesetz  zu  seiner 
logischen  Grundbedeutung,  zur  ausnahmslosen  Allgemeinheit 
durchgeführt  werde?  Das  ist  nicht  nur  das  vornehmlichste, 
intimste  Anliegen  der  Ethik;  das  ist  ebenso  dringlich  die  Frage 
im  Probleme  der  Norm.  Und  auf  diese  Grundfrage  erteilt  der 
modale  Charakter  der  Allgemeinheit  die  bändige  Antwort.  Das 
ist  die  Probe  für  die  Norm;  es  gibt  keine  andere:  dass  ihr  diese 
Befugniss  zusteht,  alle  Einzelheiten  in  sich  zu  enthalten, 
und  jede  Ausnahme  auszuschliessen.  Wie  sie  das  kann?  Das 
ist  die  logische  Kraft  ihres  Begriffs.  Könnte  sie  dies  nicht,  so 
würde  der  Begriff  hinfallig. 

Die  tatsächliche  Geltung  dieser  Allgemeinheit  der  Norm 
zeigt  sich  in  dem  Grundsatze  des  Rechts,  dass  der  Richter 
nicht  sagen  darf,  das  Gesetz  habe  eine  Lücke,  und  er  könne 
das  Recht  nicht  finden.  Dieser  Spruch  ist  dem  Richter  versagt; 
er  widerspricht  dem  Begriffe  der  Rechtsnorm,  die  er  zu  befolgen, 
zu  verwalten  und  auszulegen  hat.  Er  ist  Richter  und  nicht 
Gesetzgeber.  Das  Gesetz  ist  ihm  gegeben;  und  das  Gesetz  ist  all- 
gemein. Alle  Fälle  der  Wirklichkeit  sind  in  ihm  enthalten; 
müssen  aus  ihm  erschlossen  werden;  denn  sie  sind  aus  ihm 
herleitbar.    Das  heisst:  die  Norm  hat  Allgemeinheit. 

Man  könnte  meinen,  der  Begriff  des  rechtsleeren  Raumes, 
den  man  zugesteht,  spräche  gegen  diese  Allgemeinheit.  Indessen 
gilt  dieser  rechtsleere  Raum  doch  auch  in  dem  positiven  Sinne, 
dass  er  durch  das  Recht  ausfüllbar  sei,  wenngleich  er  noch  nicht 


Modaler  Unterschied  von  den  Naturgesetzen.  263 

ausgefüllt  ist.  Und  ohnehin  hat  eben  die  Allgemeinheit  hier 
noch  nicht  Platz  gegrifTen.  Sie  ist  eben  nur  da  vorhanden,  wo 
die  Norm  vorhanden;  wo  sie  schon  gefunden  und  positiv  ge- 
worden ist. 

Die  deduktive,  syllogistische  Bedeutung  der  Allgemeinheit 
zeigt  sich  bei  der  Norm  besonders  deutlich  in  dieser  ihrer  Neben- 
bedeutung, dass  die  Analogieen,  die  ähnlichen  Fälle  zu  prüfen 
seien,  inwiefern  sie  unter  die  Norm  fallen,  unter  ihr  subsumierbar 
werden.  Diese  Bedeutung  wohnt  der  Norm  inne;  sie  enthält  die 
Forderung,  die  Aehnlichkeit  der  Momente  zu  prüfen.  Daraufhin 
ist  der  Richter  von  der  Befugniss,  das  Recht  zu  finden,  nicht  ent- 
bunden. Hier  sieht  man  deutlich,  dass  die  Allgemeinheit  die 
apodiktische  Notwendigkeit  bedeutet;  dass  sie  eine  Anweisung 
für  das  Beweisverfahren  bildet;  dass  sie  die  einzelnen  Fälle  und 
alle  Einzelfalle  herausfordert,  wie  weit  sie  unter  die  Norm 
gehören;  das  heisst  vielmehr,  wie  weit  sie  die  Norm  specialisieren 
und  verwirklichen.  So  erweist  sich  die  Norm  in  Bezug  auf  ihre 
Allgemeinheit  als  eine  Art  von  Zweckprinzip,  welches  ja  der 
induktive  Begriff  überhaupt  ist,  für  die  Behandlung  des  fraglichen 
induktiven  Problems. 

Damit  aber  kommen  wir  auf  die  Frage  zurück,  welche  das 
Verhältniss  der  Normen  zu  den  Naturgesetzen  betrififl. 
Diese  sind  in  der  Struktur  der  Bedingung  zu  formuliren.  Hier 
kann  man  nun  den  Unterschied  deutlich  erkennen.  Dem  Be- 
dingungsgesetze liegt  es  schlechterdings  fern,  Analogieen  in  sich 
zu  enthalten;  oder  gar  zur  Aufsuchung  ähnlicher  Fälle  aufzu- 
fordern. Man  kommt  nur  auf  den  Irrtum,  dass  dem  Causal- 
gesetze  eine  solche  Bedeutung  beiwohne,  weil  man  es  in  Form 
der  Allgemeinheit  zu  formulieren  pflegt.  Diese  Formulierung  ist 
jedoch  ganz  ungehörig;  sie  gehört  durchaus  nicht  in  die  Struktur 
der  mathematischen  Funktion.  Das  Causalgesetz  büsst 
Nichts  ein  an  seinem  Werte,  wenn  es  nur  auf  Einen  Fall  zu 
beziehen  wäre.  Dem  Werte  des  Rechtsgesetzes  dagegen  würde 
im  römischen  Sinne  damit  ein  Makel  angeheftet.  Es  verunziert 
den  rechtlichen  Charakter  eines  Gesetzes;  es  entlarvt  sich  als 
ein  Tendenzgesetz,  wenn  es  nur  auf  einen  einzelnen  Fall  und 
eine  einzelne  Person  zugeschnitten  ist. 


264  Der  Begriff  der  Zukunft 

Dahingegen  könnte  man  nun  in  der  Tat  meinen,  der  An- 
deutung nachgeben  zu  dürfen,  welche  eben  vorhin  gefallen  war, 
dass  die  Allgemeinheit  der  Norm  vergleichbar  wäre  dem  Zweck- 
prinzip des  induktiven  Begriffs.  Es  könnte  scheinen,  als  ob 
unter  dieser  logischen  Beleuchtung  die  Bedeutung  der  Norm 
nicht  verdunkelt  und  nicht  unklar  würde.  So  weit  die  Norm 
auf  einem  Begriffe  beruht,  den  sie  expliciert,  ist  dies  unbe- 
denklich zuzugestehen.  Der  Begriff  ist  auch  hier  die  Anweisung 
und  der  Leitfaden,  die  zugehörigen  Merkmale,  und  demzufolge 
die  Träger  dieser  Merkmale  aufzusuchen  und  zu  erforschen. 
Aber  die  Norm  enthält  ja  eben  mehr  als  nur  den  Begriff;  sie 
leitet  an  und  in  sich  selbst  Wirkungen  aus  diesem  Begriffe  ab. 
Und  ihre  Kraft  und  Bedeutung  besteht  in  dieser  Wirkung,  die 
sie  geltend  macht.  Diese  Wirkungen  liegen  jenseits  derjenigen 
Allgemeinheit,  über  ^welche  das  Zweckprinzip  verfügt;  oder  auf 
welche  es  auch  nur  Anspruch  erhebt.  Und  andererseits  lassen 
sich  diese  Wirkungen  nicht  vergleichen  mit  der  Wirkung, 
welche  der  Ursache  im  Bedingungsgesetze  der  Causalitäf  ent- 
spricht. Denn  diese  letzteren  Wirkungen  werden  ganz  ohne 
Rücksicht  auf  die  Zeit  gedacht.  Hier  aber  bei  den  Wirkungen, 
auf  die  die  Normen  es  absehen,  tritt  die  Rücksicht  auf  die  Zeit 
in  den  Vordergrund.  Damit  aber  kommen  wir  zu  einem  Mo- 
mente, welches  die  Normen  von  aller  Art  der  Naturgesetze  und 
der  auf  sie  bezüglichen  Urteile  prinzipiell  unterscheidet. 

Es  ist  der  Begriff  der  Zukunft,  dem  wir  schon  von 
Anfang  an  auf  der  Spur  waren;  der  im  ganzen  Gebiete  des 
Willens  von  massgebender  Wichtigkeit  ist,  und  der  nun  auch 
bei  der  Norm  die  Entscheidung  mit  sich  führt.  Die  Rechts- 
normen sind  darum  nicht  Indicative;  nicht  Urteile; 
nicht  Aussagen  über  ein  wahrhaftes  Sein,  welches,  als 
solches,  auf  alle  Zeit  sich  beziehen  muss,  weil  sie  vor- 
zugsweise auf  die  Zukunft  sich  beziehen.  Sie  können,  sie 
müssen  auf  die  Zukunft  sich  beziehen,  weil  sie  auf  Hand- 
lungen sich  beziehen,  und  nicht  auf  Bewegungen,  Vorgänge  und 
Geschehnisse.  Eine  solche  Rücksicht  auf  die  Zukunft,  geschweige 
ein  Vorwiegen  derselben  liegt  dem  Naturgesetze  fern.  Schon  die 
Unterscheidung  der  Gegenwart  von  der  Vergangenheit  fallt 
ausserhalb  seines  Bereiches,    Ganzlich  ausserhalb  seiner  Tendenz 


Die  rückwirkende  Kraft  des  Gesetzes.  265 

aber  liegt  die  Rücksichtnahme  auf  die  Zukunft,  wie  sie  der 
Begriff  der  Handlung  fordert.  Uie  Norm  hat  es  überall  mit 
Wirkungen  zu  tun,  die  durch  Handlungen  herbeizuführen  sind; 
die  somit  durchaus  der  Zukunft  angehören. 

Daher  bildet  das  Problem  der  rückwirkenden  Kraft 
des  Gesetzes  ein  so  wichtiges  Kriterium.  Der  Begriff  der  Norm 
wird  dadurch  in  Frage  gestellt,  und  es  erfordert  allen  Aufwand 
der  juristischen  Theorie  und  Technik,  um  diesen  Schein  zu  zer- 
streuen. Durch  diese  Beziehung  auf  die  Zukunft,  welche  für  den 
Begriff  der  Norm  Bedingung  ist,  wird  der  Unterschied  vom 
Naturgesetze  und  vom  naturwissenschaftlichen  Urteile 
klargestellt.  Die  Zukunft  darf  hier  nicht  als  ein  nebensächliches 
Moment  der  Zeit  gedacht  werden.  Die  Zukunft  tritt  in  Gegensatz 
zur  Vergangenheit  und  zur  Gegenwart.  Auf  diesen  Gegensatz 
kommt  es  an  bei  dem  Gesetze. 

Dieser  Gegensatz  zu  den  anderen  Momenten  der  Zeit,  den 
die  Zukunft  erhebt,  macht  einen  solchen  Unterschied  aus  zwischen 
der  Norm  und  dem  Naturgesetze,  dass  der  Gedanke  entstehen 
kann,  deswegen  sogar  den  Begriff  des  Gesetzes  fallen  zu  lassen. 
Wir  werden  später  diesem  Gedanken  Raum  geben,  und  in  einer 
bestimmten  Einschränkung  ihm  sein  Recht  schaffen.  Hier  aber 
steht  jene  andere  Bedeutung  des  Gesetzes  noch  nicht  in  Frage, 
die  uns  später  beschäftigen  muss;  hier  handelt  es  sich  nur  um 
diejenige  Bedeutung  des  Gesetzes,  welche  die  Aufgabe  des  Willens 
von  den  Zufälligkeiten  und  Wechselfällen  des  Selbstischen 
befreit,  und  die  Aufgabe,  das  Gesetz  des  Selbstbewusstseins  zur 
Vollführung  bringt.  Daher  können  wir  uns  hier  in  der  Charak- 
teristik der  Zukunft  Einhalt  gebieten,  und  uns  auf  die  Hervor- 
hebung des  Gegensatzes  beschränken,  welchen  die  Zukunft  gegen 
die  Vergangenheit  und  die  Gegenwart  bildet.  Es  ist  die  Ab- 
kehrung von  der  Vergangenheit  und  der  durch  sie  bestimmten 
Gegenwaii,  welche  an  sich  der  Zukunft  eine  eigene  positive 
Kraft  und  Bedeutung  gibt. 

Aus  diesem  Hinaussehen  auf  die  Zukunft,  unbeirrt  durch 
jede  andere  Richtung,  er^'ächst  der  Zukunft  eine  Eigenmacht 
und  Souveränität,  welche  freilich  dem  Begriffe  der  Handlung  und 
dem  des  Willens  entspricht,  mit  denen  die  Norm  operiert.  Aber  es 
wird  dadurch  auch  über  jeden  Zweifel  klargestellt,  dass  die  Rechts- 


266  Die  Romantik  für  die  Vergangenheit. 

norm  von  dem  Naturgesetze  nach  dem  ganzen  Sinn  der  Probleme 
verschieden  ist.  Der  Sinn  der  Probleme  lenkt  die  Rechtsnorm 
von  dem  Naturgesetze  ab;  aber  auf  die  Ethik  hin.  In  der  Ethik 
liegt  ihr  methodisches  Bett  und  der  Quell  aller  ihrer  Ströme. 
Daran  darf  man  nicht  irre  werden.  Deshalb  sind  die  Analogieen 
mit  den  Urteilen  und  Naturgesetzen  nicht  bloss  unrichtig,  un- 
zweckmässig und  dilettantisch  spielerisch,  sondern  irreführend 
und  verhängnissvoll;  nicht  allein  für  die  Jurisprudenz,  sondern 
auch  für  die  Ethik. 

Auf  die  Bedeutung  der  Zukunft  für  die  Ethik  werden  wir 
zurückkommen,  wenn  wir  auch  die  andere  Bedeutung,  die  dem 
Gesetze  zugesprochen  wird,  zu  erörtern  haben  werden.  Hier  aber 
dürfen  wir  es  schon  aussprechen  und  betonen,  dass  für  die 
ethische  Bedeutung  des  Gesetzes,  wie  es  in  der  Aufgabe  des 
Selbstbewusstseins  sich  praecisiert,  Alles  ankommt  auf  die  Eman- 
cipation  von  Vergangenheit  und  Gegenwart;  zumal  wenn 
anders  das  Selbstbewusstsein  am  StaatsbegrifTe  und  im  Staats- 
willen eminenter  Weise  zu  vollziehen  ist.  Da  heisst  es  sich 
emancipieren  von  aller  sentimentalen  Romantik  für  die  Ver- 
gangenheit und  von  aller  Anhänglichkeit  an  das  Trägheits- 
gesetz, kraft  dessen  die  Gegenwart  verharrt;  allen  diesen  Zeit- 
mächten die  Zukunft  entgegenzustellen,  und  ihr  die  Entscheidung 
einzuräumen.  Das  ist  die  Richtung,  in  welcher  allein  das  Selbst- 
bewusstsein gedeihen  und  zur  Reife  kommen  kann,  als  das 
Gesetz  des  Selbst;  im  Unterschiede  von  den  vorübergehenden 
Vorstellungen  und  Regungen,  aus  denen  das  psychologische 
Selbstbewusstsein,  das  fälschlich  so  genannt  wird,  jeweilig  sich 
zusammensetzt. 

Das  Selbstbewusstsein  befestigt  sich  dadurch  in  der  Aufgabe 
des  Gesetzes,  dass  es  in  der  Zukunft  allein  diese  Festigkeit  gründet. 
Aller  Schein  einer  natürlichen,  psychologischen  Bedeutung  des 
Selbstbewusstseins  wird  dadurch  beseitigt.  Die  Bedeutung  eines 
Gesetzes  scheint  auf  seiner  Wirklichkeit  zu  beruhen;  wenn  nicht 
gar  in  ihr  sich  zu  erschöpfen.  Die  Wirklichkeit  aber  pflegt  man 
auf  die  Gegenwart  einzuschränken;  und  dies  hat  auch  eine  un- 
leugbare Richtigkeit.  So  angesehen,  würde  aber  die  Bedeutung 
des  Gesetzes  für  die  Norm  und  gar  für  das  Selbstbewusstsein 
ganz  hinfallig.    Dem  gegenüber  zeigt  es  sich  nun  hier,   dass  die 


Die  Bedeutung  der  Zukunft  für  das  Selbstbewusstsein.  267 


Norm,  und  dass  mit  aller  Bestimmtheit  das  Selbstbewusstsein 
^ich  auf  die  Zukunft  richten,  und  auf  die  Zukunft  allein  pochen. 
Dadurch  wird  der  Schein  des  Naturalismus  und  des  Psycholo- 
^ismus  von  der  ethischen  Bedeutung  des  Selbstbewusstseins  hin- 
^eggenommen.  Nur  der  Zukunft,  und  immer  nur  der  Zukunft 
gehört  diejenige  Wirklichkeit  an,  welche  für  das  Selbstbewusst- 
sein des  reinen  Willens  zu  erringen  und  zu  erstreben  ist.  Mit 
dem  Stoffwechsel  und  seiner  Einheit  hat  es  Nichts  gemein. 

Aber  auch  eine  andere,  angeblich  geistige  Einheit  darf  nicht 
gedacht  oder  erdichtet  werden,  welche  etwa  das  Zukunftsgesetz 
des  Selbstbewusstseins  verwirklichen  zu  können  sich  anheischig 
machen  wollte.  Wir  müssen  in  jeder  solchen  Verwirklichung, 
in  welcher  die  Zukunft  restlos  aufgehen  würde,  einen  Wider- 
spruch gegen  die  Zukunft  erkennen;  und  wir  müssen  dem  Mo- 
mente der  Zukunft  die  Kraft  und  die  Entscheidung  über  das 
Selbstbewusstsein  anheimgeben.  Das  Selbstbewusstsein  des  reinen 
Willens  zerfallt  und  verschwindet,  wenn  das  Moment  der  Zukunft 
seine  Schwingen  sinken  lässt  und  seine  Herrschaft  über  den 
Willen  verliert.  Das  gilt  vom  reinen  Willen;  nicht  etwa  von 
dem  unaufhaltsamen  Ungestüm  der  Begierde. 

Die  Zukunft  ist  das  Moment  des  Gesetzes.  Und  das  Selbst- 
bewusstsein ist  der  Inhalt  dieses  Gesetzes.  Das  Gesetz  ist  das 
sittliche  Gesetz.  Das  Selbstbewusstsein  bedeutet  das  sittliche 
Selbst,  das  nur  Ich  ist,  sofern  es  Wir  ist.  Indem  das  Selbst- 
bewusstsein auf  die  Zukunft  gestellt  wird,  wird  die  gesamte  Sitt- 
lichkeit auf  die  Zukunft  gestellt.  Wir  werden  sehen,  wie  die 
Ethik  in  der  Ausdeutung  dieses  Begriffes  gipfelt.  So  wird  durch 
den  Begriff  der  Zukunft  nicht  nur  das  Recht,  die  Norm,  sondern 
die  Sittlichkeit  überhaupt  von  dem  Naturgesetze  und  von  der 
Natur  methodisch  und  svstematisch,  nämlich  aus  dem  Gesichts- 
punkte  des  Systems  der  Philosophie  unterschieden. 

Blicken  wir  jetzt  noch  schliesslich  auf  die  Bedenken  zurück, 
welche  sich  gegen  den  Begriff  des  Gesetzes  erhoben  hatten.  Vor 
Allem  dürfte  sich  der  Gesichtspunkt  des  Zwanges  erledigt  haben. 
Zwang  gehört  ebenso  wenig  in  das  Prinzip  des  Rechts,  wie  in 
das  der  Ethik.  Aber  auch  das  Sittengesetz  war  als  Müssen  ver- 
dächtigt worden.  Die  Norm  ist,  wie  das  sittliche  Gesetz,  ein 
einzelnes  Gesetz,   in  welchem   das   allgemeine  Gesetz  des  Selbst- 


2R8  FiktioD  und  Hypothcsis. 

t>ewusst.Heins  sich  zu  vollziehen  hat.  Wie  es  in  der  Handlung 
sich  entralten  muss,  so  auch  ist  es  auf  das  einzelne  Gesetz  an- 
gewiesen in  seiner  Selbstvollziehung.  So  wenig  das  Gesetz  des 
Selbstl>ewus.st5ieins  als  Zwang  gedacht  werden  kann,  so  wenig 
darf  es  auch  das  einzelne  (iesetz. 

Auch  das  Sollen  war  bedenklich  erschienen,  insofern  es 
vom  Sein  unterschieden  wird;  als  ob  es  nicht  selbst  auch  eine 
Art  des  Seins  darzustellen  hätte.  Dieser  Funkt  bedarf  am  meisten 
noch  weiterer  Aufklärung,  die  wir  uns  in  der  angedeuteten 
Richtung  vorbehalten  müssen.  So  viel  aber  ist  aus  dem  Ver* 
ständniss  des  (iesctzes  schon  klar  geworden,  dass  zwischen  dem 
reinen  Wollen  und  dem  Sollen  kein  Unterschied  besteben  bleibt« 
Der  reine  Wille  ist  das  Gesetz  des  Willens^  also  das  Sollen.  Da 
der  Inhalt  dic*sc»s  reinen  Willens  das  Selbstbewusstsein  ist,  des.sen 
Vollzug  unaufhörlich  auf  die  Zukunft  bezogen  ist,  so  schwindet 
der  rnterschie«!  zwischen  Wollen  und  Sollen.  Ks  ist  das  Sollen 
des  Selbstl)ewusslseins,  welches  im  reinen  Willen  sich  vollzieht. 

Ks  ist  die  juristische  Person  des  Staates,  an  der  und 
in  der  das  Selbstbewusstsein  moralische,  ethische  Person  wird. 
Keine  Fiktion  h'ivst  sich  so  praegnant  veridcieren,  wie  diese.  Sie 
wird  zum  (iesetze,  zum  (jrundges(*tze  des  SelbMl>ewus%Ueins  un<l 
der  ganzen  Kthik.  Fehlt  es  etwa  an  der  Wirklichkeit  für 
diene  Fiktion?  Wir  erkennen  jetzt,  dann  solche  Wirklichkeit 
ein  schlechtes  Zeugniss  wäre.  Das  (jesc*tz  des  Sell>stl>ewusstseins 
ist  allezeit  an  die  Zukunft  hinausgewicM*n.  Auf  sie  ist  die 
Handlung,  ist  alle  Norm  gerichtet.  Recht  und  Staat  werden 
HO  aus  der  Sphäre  der  Natur  herausgehoben,  und  als  die 
Natur   der  Sittlichkeit  dargestellt;   als   das   Analogon   der  Natur. 

Kndlich  mögen  wir  auch  ncM'h  den  allgemeinen  metho« 
dis4*hen  (Ibarakter  des  Gcm'I/cs,  als  der  Hypothesis,  kurz  t)e* 
trachten.  Kher  könnte  man  ein  Naturges4*t/.  im  dogmatisc*hen 
Sinne  annehmen,  ohne  duss  man  es  in  kritischer  Hinsicht,  in 
idealistischer  Krkenntniss  als  (iriinillegung  \erstiinde  und  an» 
erkennte,  als  man  eine  solche  aus^% artige  (irundlage  des 
Zwanges,  oder  des  licfehls  bei  dem  Sittenges4*lze  annehmen 
durfte.  I)t*nn  hier  sieht  nichts  Amleres  in  Fru^e  als  der  Ik^grifT 
d<^  Mcnsi'hcn  im  Sinne  der  Kultur  der  Mens<*hheit;  im  Sinne 
der  WcItfiCM-hichte    un«l    ihrer  KinrichlunKen  iin«i  lk*strel>ungen. 


Der  Idealismus  des  Selbstbewusstseins.  269 


Diese  selbst  würden  zu  Gebilden  des  Instinkts  gestempelt,  wenn 
das  Sittliche,  als  das  menschheitliche  Gesetz  nicht  das  eminente 
Beispiel  der  Hypothesis  sein  könnte.  Nicht  Zwang,  nicht 
Befehl,  nicht  Instinkt,  nicht  Naturbestimmtheit  irgend 
welcher  leiblicher  oder  seelischer  Art;  sie  alle  werden 
dem  Begriffe  des  Selbst  nicht  gerecht,  das  den  Inhalt  des  Sitten- 
gesetzes bildet.  Im  Selbst  allein  ist  es  begründet,  dass  das  Gesetz 
Grundlegung  sein  muss;  die  Grundlegung  des  Selbst;  darin 
die  Grundlegung  der  Ethik. 

Es  lässt  sich  von  hieraus  verstehen;  aber  wnr  wollen  den 
Irrgängen  jetzt  nicht  wieder  nachgehen,  welche  sich  durch  die 
Geschichte  dieses  Begriffs  hindurchziehen:  wie  das  Selbstbewussl- 
sein  seit  Descartes  das  Centrum  des  Idealismus  bifdet;  denn 
die  Grundkraft  der  Hypothesis  leuchtet  darin.  Aber  es  ist 
schwerer  verständlich,  wie  das  Selbstbewusstsein  nur  als  das 
Centrum  des  theoretischen  Idealismus  fixiert  und  gedacht  wurde, 
während  der  ethische  Idealismus  an  ihm  die  Methode  der  Hypo- 
thesis zu  voller  Evidenz  zu  bringen  vermögen  dürfte.  Wie  nur 
in  der  Ethik  das  Selbstbewusstsein  praegnant  wird,  so  wird  an 
ihm  auch  das  Gesetz  deutlich  als  die  Grundlegung,  die  gefordert 
wird,  und  die  zulänglich  ist,  um  in  den  Handlungen  denjenigen 
Zusammenhang  herzustellen,  den  das  Gesetz  des  Selbstbewusstseins 
bezeichnet  und  fordert. 


Sechntes  Kapitel. 

Die  Freiheit  des  Willens. 


Die  (BeHchiehte  der  Kthik,  inHlieHondere  auch  in  deren  An- 
wendungen, Verbindungen  und  (lollinionen  mit  Religion  und 
Recht,  hat  das  Problem  der  Freiheit  in  den  Mittelpunkt  der 
Ethik  gebracht.  Daher  ist  eine  Orientierung  ülier  die  mannig- 
fachen historischen  l^gen  dieses  Problems  zweckmiissig,  lievor 
wir  vs  nach  unseren  Dis|M>sitionen  in  Krörterung  ziehen. 

Die  drei  Weltallen  das  Altertum,  das  Mittelalter  un<l  die 
neue  Zeit,  l>ilden  drei  Perioden  in  der  (teschichte  <lieses  Prolilems. 

DaN  Altertum  denkt  die  Freiheit  im  Ciegensat/e  zur 
lietionik:  dass  nicht  die  Lust  i7//ov7^»  auvsclilaggeln^nd  M*i, 
Mindern  i\n\s  das  Sc*lbst  des  MenHi*hen  das  Prinzip  seiner  llami* 
lung  sein  könne,  und  sein  müvM».  Das  Selbst  ist  ein  Wort, 
mit  dem  Plato  CilMTall  o|H>riert,  um  die  Idee,  um  das  wahrliafle 
Sein  gegen  <len  Relatixismus  der  Sophintik  aller  Art  siclier  zu 
Meilen.  So  muvse  man  auch,  lehrt  Plato,  den  Cirund  der  sitt- 
lichen Handlung  im  Selbst  des  MenM*hen  suclien.  Auf  diesen 
Weg  soll  das  Prin/ip  der  Seele  hinful;ren.  AIht  das  S<'ll>st 
und  das  Wir,  das  antike  Ich,  treten  in  den  gleiclien  methiMÜM^hen 
Hang  mit  der  Seele  ein.  Man  müsse  zurückgehen  auf  Tns  <r; 
/;t'i;i,  tiul  das  St'lbst  «a-jTor 

Ks  ist  dieselbe  llypotbesis,  wie  sii*  aueb  in  den  thet»* 
retis(*hen  Krkenntnissfragen,  wie  sie  in  der  (leometrie  zur  (leltung 
kommt,  l'nil  >%as  s»  sebeinbar  subjeklix  zur  Grundlegung  In** 
ntit/t  wiril,   (las    wird    nur  scheinbar  inler  \<irzugs>AeiM*  objektiv 


Die  Freiheit  des  Geistes.  271 


das  Gute  (Td-(afröv)  genannt,  die  Idee  des  Guten.  Man  sieht 
aber,  dass  diese  beiden  Ausdrücke  nur  Seiten  und  Richtungen 
desselben  Prinzips  sind.  Liegt  doch  die  Möglichkeit  der  Idee  in 
dem  Denken,  in  der  Erkenntniss  derselben.  Die  Möglichkeit  der 
Erkenntniss  aber,  des  Denkens  der  Idee  liegt  in  dem  Selbst,  in 
dem  Wir.  Aus  dem  Kinde  wird  die  geometrische  Idee  heraus- 
gefragt; sie  lag  in  ihm. 

Auf  dieser  Möglichkeit  des  reinen  Denkens  beruht  auch 
die  Freiheit  (sxoüoiov).  Es  entspricht  dies  durchaus  dem  So- 
kratischen  Grundgedanken  von  der  Tugend,  als  Wissen. 
Die  Freiheit  bedeutet  die  Kraft  und  Möglichkeit  des  Denkens, 
des  Wissens  der  Tugend.  Und  da  die  Tugend  Wissen  ist,  so 
wird  in  der  Freiheit,  als  der  Kraft  des  Wissens,  zugleich  die 
Kraft  des  Könnens  zu  denken  sein.  Die  Freiheit  bedeutet  hier 
sonach  die  Behauptung  des  Denkens  und  der  Erkenntniss,  als 
des  eigentlichen  wahrhaften  Schatzes  der  Seele;  als  der  eigent- 
lichen Quelle  des  Bewusstseins,  des  Wir  und  des  Selbst. 

Dagegen  müssen  die  sinnlichen  Elemente  der  Seele  zurück- 
gedrängt werden;  sie  werden  in  der  Lust  zusammengefasst,  in- 
sofern diese  die  Resonanz  aller  sinnlichen  Kräfte  bildet. 
Es  wird  als  Frevel  von  Piaton  bezeichnet,  was  von  Schülern  des 
Sokrates  verübt  werden  konnte,  die  Lust  zum  Prinzip  der  Tugend 
zu  machen,  und  mit  dem  Guten  sie  gleichzusetzen.  Freiheit 
ist  Freiheit  von  dem  Zwange  der  Lust. 

So  bedeutet  die  Freiheit  des  Willens  im  classischen  Alter- 
tum die  Freiheit  des  Geistes  gegenüber  der  Sinnlichkeit; 
die  Freiheit  der  wissenschaftlichen  Vernunft  vor  Allem,  und 
ihrer  Auszeichnung  vor  den  Naturinstinkten  aller  Art.  Sie  be- 
deutet daher  ebensosehr  den  Vorzug  der  Entdeckung  der  Tugend, 
wie  die  Kraft  zur  Behauptung  derselben.  Nur  weil  die  Conse- 
quenz  unausweichlich  wurde,  wurde  auch  die  Freiheit  zum 
Bösen  nicht  bestritten,  noch  ausgeschlossen.  Vorherrschend 
aber  und  ursprünglich  ist  die  Bedeutung  der  Freiheit,  als  der 
Unabhängigkeit  vom  Zwange  des  Bösen,  und  der  Kraft  des  Guten. 

In  der  classischen  Philosophie  vereinigen  sich  alle 
Probleme  im  Begriffe  des  Menschen.  Der  Begriff  Gottes 
tritt  in  ihr  zurück.  Er  taucht  ja  in  ihr  nur  erst  geheimnissvoll 
auf;   als  der  Correktivbegriff  gegen  die  Götter  der  Volksreligion. 


272  Gott  Centralbegriff  der  Kultur. 


Wenn  Plato  gegen  die  Dichter  eifert,  so  trifft  sein  Tadel  die 
Quellen  und  Urkunden  der  vaterländischen  Religion.  Und  wenn 
der  Gott  als  gut  bezeichnet  wird,  so  ist  es  eben  die  Idee  des 
Guten,  welche  den  Göttern  entgegen  diesen  guten  Gott  erdacht 
hat.  Die  Idee  des  Guten  aber  ist  im  Zusammenhange  mit  dem 
Begriffe  des  Menschen  entstanden.  Man  darf  daher  vielleicht 
auch  sagen,  dass  der  Begriff  des  Menschen  dem  Begriffe  der 
Götter  entgegengestellt  wurde;  und  dass  in  dieser  Entgegen- 
stellung die  Sittlichkeit,  als  die  menschliche  Sittlichkeit,  als  die 
Sittlichkeit  des  Wir,  als  die  der  Freiheit  entdeckt  wurde. 

Im  Mittelalter  wird  Gott  der  Centralbegriff  der  sitt- 
lichen Kultur.  Er  wird  daher  auch  das  Prinzip  für  die  theore- 
tische Begründung  dieser  Kultur,  so  weit  sie  versucht  wurde. 
Der  Mensch  ist  nicht  mehr  das  Prinzip,  sondern  allenfalls  das 
hauptsächliche  Problem  der  Sittlichkeit.  Daher  wird  auch  die 
Freiheit  zu  einem  Correlat  zu  Gott,  weil  zunächst  zu  einem 
Attribut  Gottes.  In  seiner  Allmacht  und  Allwissenheit  ist  es 
enthalten;  ebenso  aber  auch  in  seiner  Gnade  und  Prädestination. 
Die  Freiheit  der  Menschen  steht  daher  zunächst  im  Gegensatz 
und  Widerspruch  zu  dieser  Freiheit  Gottes. 

Die  christliche  Gotteslehre  ist  in  ihrem  specifischen 
Grunde  Erlösungslehre.  Der  Begriff  des  Menschen  bedeutet 
ihr  den  Begriff  der  Sünde.  Die  Erlösung  fordert  die  Sünde 
und  die  Schuld;  und  zwar  die  Erbsünde,  welche  die  Freiheit 
ausschliesst.  Die  Erlösung  allein  soll  den  Menschen  befreien, 
zum  Menschen  erhöhen  können.  Diejenigen,  welche  dagegen  die 
Freiheit  behaupten,  kommen  in  Gefahr,  nicht  nur  die  Erlösung 
preiszugeben,  sondern  auch  den  Begriff  der  Sünde  zu  verflachen; 
nicht  nur  nach  der  kirchlichen,  sondern  auch  nach  der  weltlich- 
sittlichen Seite.  Denn  es  darf  nicht  verkannt  werden,  dass  in 
dem  Begriffe  der  Sünde  der  sittliche  Begriff  des  Menschen  vertieft 
und  genauer  zur  Erkenntniss  gebracht  werden  sollte,  als  es  dem 
Altertum  durch  den  Begriff  der  Tugend  gelungen  zu  sein  schien. 
Der  Sündenbegriff  sollte  nur  als  Mittelbegriff  gelten ;  das  Ziel  aber 
und  der  Zweck  lag  in  der  Tugend,  welche  durch  die  Erlösung 
gewährleistet  werden  sollte. 

In  der  Leugnung  der  Freiheit  vertieft  sich  daher  das  Be- 
wusstsein    der  Schuld    zu    dem    sittlichen    Grundbegriffe    des 


Die  Freiheit  des  Glaubens.  278 


Menschen.  Sie  wird,  dem  tragischen  Motiv  vergleichbar,  das 
Erbteil,  das  Schicksal  der  Menschheit.  Und  die  Erlösung  wird 
so  zur  Lösung  des  tragischen  Konfliktes  im  Begriffe  des 
Menschen.  Der  Unterschied  aber  bleibt  bei  dieser  Analogie  in 
aller  Schroffheit  bestehen.  Im  Drama  muss  der  Held  im  Guten, 
wie  im  Schlimmen,  zugleich  doch  immer  als  er  selbst  handeln, 
nicht  lediglich  als  der  Spross  seiner  Ahnen;  in  der  Religion  da* 
gegen  bleibt  der  Mensch  stets  nur  der  alte  Adam,  der  seine 
Freiheit  daran  geben  muss,  wenn  er  seine  Erlösung  erwerben 
will.  Der  sittliche  Wert  des  Menschen  wird  nicht  in  der  eigenen 
Krafl  seiner  Vernunft  gegründet;  sondern  er  kann  ihm  nur  von 
Aussen  kommen;  nur  Gott  kann  ihn  ihm  verleihen.  Diese  aus- 
wärtige Quelle  mag  noch  so  sehr  verinnerlicht  werden,  so  dass 
die  Freiheit  des  Glaubens  an  die  Erlösung  zur  Bedingung 
der  Erlösung  wird;  immer  bleibt  es  der  Glaube  an  die  Erlösung, 
in  dem  die  Freiheit  bestehen  soll;  nicht  aber  der  Glaube  an  die 
Vernunft  und  an  das  Selbst,  der  als  Freiheit  gedacht  wird. 

Die  Anerkennung  der  Freiheit  innerhalb  der  Religion  ist 
daher  mit  Vorsicht  zu  prüfen:  ob  der  Mensch  als  frei  gedacht 
wird,  um  ihn  seines  Heils  zu  vergewissern;  oder  aber  um  ihn 
für  seine  Verdammniss  verantworllich  zu  machen.  Beide  bilden 
sein  Ziel,  das  ihm  von  Aussen  gesteckt  ist.  In  seinem  Selbst  liegt 
sein  Ziel,  der  Zweck  seines  Daseins,  die  Tugend  und  das  Gute 
nicht.  Im  günstigsten  Falle  wird  in  der  Freiheit  hier  die  Mit- 
wirkung des  Menschen  zugestanden  bei  seiner  Befreiung  von 
seiner  menschlichen  Sünde.  Die  Freiheit  bedeutet  im  ganzen 
Mittelalter  nicht,  wie  im  Altertum,  die  Geisteswürde  des  Menschen, 
die  Eigenart  des  Menschentums.  Dieser  Gedanke  wird  von  den 
religiösen  Denkern  des  Mittelalters  am  tiefsten  berührt,  wenn  sie 
die  Freiheit  in  Zweifel  ziehen,  oder  gar  leugnen;  ausgenommen, 
insoweit  sie  sich  in  der  Liebe  zu  Gott  zu  bekunden  vermag. 
In  der  neuern  Zeit  überwiegen  die  wirtschaftlich-  und 
staatlich-rechtlichen  Probleme  über  die  kirchlich-religiösen. 
Daher  wird  die  Frage  der  Freiheit  mit  Rücksicht  auf  diese  Frage, 
auf  das  Verhältniss  des  Individuums  zu  seinem  Stande, 
seinem  Volke,  seinem  Staate,  seinem  Kulturzusammenhange,  zu 
seinem  Milieu  überhaupt  discutiert.  Der  Mensch  wird  nicht 
im    letzten   Grunde    betrachtet   im  Verhältniss   des  Geistes    zum 

18 


274  Die  Moralstatistik. 

Körper  —  diese  Problemstellung  bildet  nur  ein  Symptom  derjenigen 
Frage,  welche  selbst  in  den  interessantesten  Perioden  der  physio- 
logisch- materialistischen  Fehde  den  Brennpunkt  bildet;  noch 
auch  in  seinem  Verhältniss  zu  Gott,  als  dem  Erlöser  von  der  Sünde; 
hier  hat  sich  der  Glaubensbegriff  der  Reformation  trotz 
aller  seiner  unvermeidlichen  Widersprüche  und  Gebundenheiten 
in  das  moderne  Bewusstsein  dennoch  hindurchgerungen,  so  dass 
man  einen  ernstlichen  Anstoss  nicht  mehr  nimmt  an  der  Freiheit 
des  Menschen,  selbst  nicht  gegenüber  dem  Gottmenschen.  Aber 
der  Mensch  wird  jetzt  mehr  denn  jemals  zum  Problem 
als  Individuum. 

Die  Renaissance  mochte  getrost  auf  das  Individuum 
pochen.  Damals  galt  es  von  den  Gebundenheiten  der  Corpora- 
tionen  und  von  der  universellen  Autorität  der  Kirche  den 
Menschen  zu  emancipieren.  Das  Individuum  dünkte  und  regte 
sich  damals  selber  als  eine  Art  von  Gottmensch;  als  ein  Heros 
mit  allen  den  Zweideutigkeiten  des  Dämonentums.  Das  war,  so 
mächtig  dieser  Drang  des  Individuums  eingriff,  dennoch  nur 
wie  ein  Hauch,  der  die  Spitzen  der  Gesellschaft  streifte,  nicht  die 
Massen  umwandeln  konnte,  noch  wollte.  Das  Massen-Indi- 
viduum ist  das  eigentliche,  das  ernsthafte  Problem  der 
neuen  Zeit. 

Aus  dem  Gesichtspunkte  der  Masse  zerfliessen  alle  die 
feinen  Gesichtspunkte,  aus  denen  sich  sonst  das  Problem  der 
Freiheit  betrachten  lässt.  Was  bedeutet  die  Vernunft  und  der 
Geist  in  dem  Individuum  der  Massen?  Es  ist,  als  ob  es  Nichts 
als  Leib  wäre.  Es  ist  ein  Naturwesen.  Dieser  Gesichtspunkt 
greift  in  alle  Beziehungen  dieser  Menschenart  über.  Daher  fängt 
die  Statistik  mit  den  leiblichen  Verhältnissen  an,  mit  Geburt, 
Krankheit  und  Tod.  Daher  wird  die  Statistik  die  Moral 
und  die  Theologie  der  neuen  Zeit.  Bezeichnender  Weise 
nennt  sie  sich  auch  Moralstatistik;  in  der  Tat  führen  die 
leiblichen  Verhältnisse  unmittelbar  in  das  Gebiet  der  moralischen 
Ursachen,  oder  wenigstens  der  moralischen  Verhältnisse  hinüber; 
in  die  Ehen  und  die  unehelichen  Geburten;  in  die  Trunksucht 
und  die  Verbrechen.  In  allen  diesen  Beziehungen  wird  der 
Mensch  zur  Nummer  einer  Gruppe,  zur  Ziffer  einer  Reihe.  Was^ 
bleibt  da  noch  für  das  Selbst,   für   das  Selbstbewusstsein  übrig? 


Die  Causalität.  275 

Ueberall  erscheint  das  menschliche  Individuum  lediglich  als  ein 
Naturwesen;  und  in  diesem  spiegelt  sich  das  gesamte  Milieu, 
die  verallgemeinerte  Natur  wider. 

Dieser  Gedanke,  dass  das  Individuum  ein  Naturwesen  sei, 
ist  das  Prinzip  der  Statistik.  Man  darf  nicht  sagen,  sie  er- 
schleiche dieses  Prinzip;  denn  auf  dieser  Forderung  beruht  sie. 
Das  Naturwesen  wird  dabei  nicht  im  zoologisch-anthropologischen 
Sinne  gedacht;  sondern  das  Genus  begreift  eine  weitere  relative 
Gemeinschaft  in  sich;  der  Naturzusammenhang  befasst  den  Zu- 
sammenhang der  jeweilig  herrschenden  Kulturkreise.  Das  Indi- 
viduum der  Natur  ist  daher  unter  diesem  Gesichtspunkte  zugleich 
ein  Individuum  der  Geschichte.  Aber  das  ist  und  bleibt  der 
Grundgedanke:  dass  das  Individuum  in  dieser  seiner  erweiterten 
Relativität  dem  Grundgesetze  der  Causalität  unbedingt  unter- 
worfen sei.  Auch  die  Causalität  denkt  man  sich  über  die  mathe- 
matische Naturwissenschaft  hinaus  auf  das  ganze  Gebiet  der 
Kultur  durchgreifend. 

Die  Causalität  ist  der  Leitgedanke  der  neuen  Zeit 
Ihr  verdankt  sie  alle  ihre  Leistungen  und  Aspirationen;  man 
darf  sie  als  den  Geist  der  neuem  Zeit  bezeichnen.  Daher  muss 
die  neue  Zeit  gegen  die  Freiheit  den  Verdacht  eines  mittelalter- 
lichen Rudimentes  empfinden;  von  dem  es  sogar  fraglich  sein 
kann,  ob  es  durch  eine  andere  Deutung  und  Wendung  des  Ge- 
dankens der  Wiederbelebung  und  Entwickelung  fähig  wird.  Die 
Verteidiger  der  Freiheit  stehen  daher  zumeist  auf  theologischem 
Boden,  nachdem  die  Theologie  sich  nun  einmal  mit  dem 
rationalistischen  Begriffe  der  Freiheit  abgefunden  hat.  Und  was 
das  Recht  betrifft,  so  scheint  das  Strafrecht  auf  die  Freiheit 
nicht  Verzicht  leisten  zu  können.  Das  ist  aber  eine  schlechte 
Empfehlung  für  diese  sittliche  Idee.  Andererseits  hat  allerdings 
auch  die  logische  Technik  des  Privatrechts  ihr  Interesse  an 
der  Freiheit;  um  so  härter  und  verwickelter  wird  aber  auch 
hier  die  Collision  mit  der  National-Oekonomie. 

So  bildet  die  Oekonomie,  als  die  Lehre  vom  rechtlich- 
sozialen Verkehr,  gleichsam  die  Instanz  des  Gewissens  gegen  die 
laute  Predigt  der  Freiheit.  Und  Physiologie  und  Pathologie 
unterstützen  diese  naturalistische  Negation.  Auch  der  Begriff 
ier  Gesellschaft    ist   erst   in   der  neuern  Zeit  in  dieser  ökono- 

18» 


276  Der  Zusammenhang  von  Statistik  und  Politik. 

mischen  Bedeutung  entstanden;  und  er  hat  sich  sehr  verstand- 
licher Weise  mit  dem  neuen  Begriffe  der  Causalität  verbunden 
und  verbündet.  Die  Gesetze  erscheinen  jetzt  nicht  nur  unter 
dem  Nimbus  der  Edicta,  sondern  zugleich  als  starre  Natur- 
gesetze der  Causalität;  als  Gesetze  der  Bewegung  von  Be- 
völkerungsgruppen; und  als  das  Fatum  und  als  das  Orakel 
für  ihr  Wohl  und  Wehe. 

Es  kann  jedoch  kein  ernsthafter  Zweifel  darüber  bestehen, 
dass  die  Bestreitung  hier  besser  für  die  Freiheit  sorgt  als  die 
Beteuerung  des  Glaubens  an  sie.  Denn  der  Zusammenhang 
der  Statistik  mit  der  Politik  macht  es  dieser  oft  unsanft  und 
unliebsam  deutlich,  dass  es  ihr  nicht  lediglich  um  die  Erkenntniss 
von  Tatsachen  zu  tun  ist;  sondern  dass  diese  nur  das  Mittel  und 
die  Grundlage  sein  soll  für  die  Anstrebung  anderer  Tatsachen, 
besserer  •  Verhältnisse  und  gerechterer  Einrichtungen.  Wegen 
dieser  latenten  Bücksicht  auf  die  Zukunft  nennt  sie 
sich  Moralstatistik. 

Kann  der  fromme  Gedanke  der  Freiheit  etwa  die  Verhält- 
nisse der  Wirtschaft  und  demzufolge  die  Normen  des  Rechts 
abändern?  Das  Naturgesetz  der  Causalität  allein  vermag  Einsicht, 
und  aus  ihr  heraus  Hilfe  zu  Schäften;  die  Causalität  ist  das  Gesetz 
des  Milieu;  und  nur  im  Milieu  ist  der  Mensch  erforschbar.  Er  ist 
ein  soziales  Wesen;  und  in  dieser  erweiterten  Bedeutung  zur 
geschichtlichen  Natur  ist  er  ein  Naturwesen.  In  diesem  er- 
weiterten Sinne  fasst  der  neue  Begrift  der  Gesellschaft  den  neuen 
Begriff  der  Causalität.  Deshalb  muss  der  Mensch  wie  ein  Ding 
betrachtet  werden;  denn  er  muss  als  ein  Produkt  der  Verhält- 
nisse, in  denen  er  steht  und  fällt,  bedingt  und  berechnet  werden. 
In  seinem  Milieu  und  aus  ihm  heraus  erscheint  er  als  der 
mittlere  Mensch,  als  der  Durchschnittsmensch.  Zu  Gunsten 
des  Gesetzes,  dem  er  eingerechnet  werden  muss,  muss  seine 
Freiheit  geleugnet  werden.  Denn  das  Causalgesetz  allein  ist  das 
wissenschaftliche  Mittel,  das  Milieu  zu  verbessern. 

Wenn  diese  Verbesserung  aber  das  eigentliche  Interesse 
der  Moral  bildet,  so  muss  es  unverfänglich  scheinen,  die  Freiheit 
zu  bestreiten;  denn  sie  muss  als  ein  das  sachliche  Problem  der 
Sittlichkeit  hemmender  Gedanke  erscheinen.  Es  ergeht  ihr,  wie 
es  dem   alten  Satze   des  Grundes   erging,  als   das  neue  Gesetz 


Die  Eudaemonie.  277 

der  Causalität  aufkam.  Aber  ihr  Ansehen  wird  noch  haltloser 
und  verdächtiger;  nicht  einmal  logischen  Sinn  scheint  sie  zu 
haben.  Denn  jeder  Gedanke,  nicht  nur  jedes  Ding,  hat  seinen 
Grund;  die  Handlung  des  Menschen  aber  soll  grundlos  sein 
dürfen;  soll  nicht  einer  erkennbaren  Ursache  entspringen.  Oder 
kann  es  etwas  Anderes  bedeuten,  dass  sie  als  frei  gedacht  werden 
müsse?  Eine  Ausnahme  von  der  Causalität  ist  eine  Ausnahme 
von  der  Begründung,  also  von  der  Erforschung;  also  von  der 
Möglichkeit  der  Verbesserung  des  Zusammenhanges,  aus  dem  sie 
nicht  herausgedacht  werden  kann.  Diese  sozialen  Zusammen- 
hänge bilden  gleichsam  den  Ahnenkultus  und  den  Familien- 
verband für  alle  menschliche  Individualität.  Sie  sind  Ahnungen 
von  der  sittlichen  Welt,  welche  in  jene  materielle  Welt  der 
wirtschaftlichen  Kämpfe  hineinstrahlt;  im  Contraste  um  so 
dringlicher  an  sie  gemahnt. 

Diesen  Motiven  für  und  gegen  die  Freiheit  müssen  nun 
aber  Gegenmotive  gegenübergestellt  werden,  teils  um  die  Freiheit 
zu  bekräftigen,  teils  aber  auch,  um  die  scheinbaren  Gegenmotive 
zu  entkräften. 

1.  Das  classische  Altertum  behauptet,  so  sagten  wir,  die 
Freiheit  in  der  Souveränität  der  Vernunft  gegenül)er  dem  Hedo- 
nismus.  Indessen  war  bei  Sokrat es  selbst  die  Eudaemonie  an- 
erkannt; und  Aristoteles  durfte  sie  daher  für  beglaubigt  halten. 
Auch  Epikur  hat  sich  so  läutern  und  retten  lassen.  Und  wenn 
nun  gar  nach  der  Stoa  die  Lust  zu  einem  indifferenten  Momente 
CdS'.äcpopov)  wird,  so  könnte  es  scheinen,  als  ob  man  dem  Aristoteles 
Recht  geben  dürfte,  dass  sie  wie  Etwas,  das  von  selbst  hinzu- 
komme, anzusehen  sei  (d)^  £::iYqvo|isvöv  v.  tsXoc;).  Freilich  dass 
dabei  die  Lust  als  Abschluss  und  Ziel  bezeichnet  wird,  das  ist 
und  bleibt  falsch  und  verhängnissvoll;  denn  dasselbe  Wort  be- 
deutet zugleich  den  Zweck.  Zweck  aber  darf  die  Lust  niemals 
sein;  so  wenig  als  Bestimmungsgrund.  Wird  dagegen  aber  die 
Freiheit  und  die  sittliche  Vernunft  in  einen  unvereinbaren  Gegen- 
satz zur  Lust  gebracht,  so  geht  dieser  Gegensatz  auch  auf  die 
Eudaemonie  über.  Das  ist  fernerhin  in  Betracht  zu  ziehen.  Zu- 
nächst erw^ägen  wir  das  Moment  der  Lust,  sofern  sie  weder 
Zweck,  noch  Bestimmungsgrund  zu  sein  hat. 


278  Lust  als  Werdeo  oder  Sein. 

Mit  der  Lust  hängt  die  Unlust  unabtrennlich  zusammen. 
Den  Inhalt  in  diesem  Mischgefühle  haben  wir  bereits  als  Affekt 
kennen  gelernt.  Wird  daher  die  Lust  abgewiesen,  so  wird  zu- 
gleich der  Affekt  entwurzelt;  damit  aber  wird  dem  Willen  sein 
unentbehrlicher  Motor  entzogen.  Die  Differenz  zwischen  Piaton 
und  Aristoteles  an  diesem  interessanten  Punkte,  die  sich  auf 
die  ganze  folgende  Geschichte  dieser  Streitfrage  ausdehnen  iässt, 
betrifft  daher  nur  die  Definition  der  Lust  als  Werden  (^svsoi;), 
oder  als  Sein  (V/ia»a).  Das  Sein  vertritt  einen  Inhalt,  wenn  nicht 
gar  einen  substantiellen.  Ein  solcher  ist  der  Affekt  nicht.  Da- 
her hat  die  Stoa  Recht,  indem  sie  die  Apathie,  die  Affekt- 
losigkeit  zum  Inhalte  des  Willens  macht.  Sie  ist  die  Voraus- 
setzung für  die  Bildung  eines  rechten  Inhalts,  den  der  Affekt 
nicht  ausmacht;  den  er  auch  positiv  nicht  zu  entwickeln  vermag. 
Nichtsdestoweniger  aber  ist  die  Lust  unter  dem  Gesichtspunkte  des 
Mischgefühls  festzuhalten.  Das  Werden  weist  auf  die  Mischung  hin. 

Wie  falsch  die  Alternative  zwischen  Lust  und  Unlust  ist, 
das  zeigt  sich  an  der  weitverbreiteten  Fassung  von  Lust  und 
Unlust,  als  zweier  Affekte;  während  sie  nur  vereinigt  den  Einen 
Affekt  bilden.  Wenn  dagegen  die  Lust  vereinzelt  genommen 
wird,  so  wird  andererseits  auch  die  Unlust  zu  einer  unvermeid- 
lichen Triebkraft  des  Willens;  und  so  entsteht  die  Mönchsmoral 
der  Depression  und  der  Askese,  bei  welcher  dennoch  die  Apathie 
nur  Schein  und  Simulation  ist. 

Daher  ist  der  Zusammenhang  der  Lust,  als  des  positiven 
Momentes  des  Affekts,  mit  der  Eudaemonie  so  intim  und  so 
durchschlagend.  Schon  bei  Sokrates  kann  man  die  Eudaemonie 
als  eine  Reform  gegen  die  Deisidaemonie,  die  Furcht  vor 
den  Göttern  ansehen.  Es  ist  eine  Art  von  natürlicher  Religion, 
welche  gegen  den  Aberglauben  von  dem  Neide  der  Götter  Front 
macht.  So  ist  es  ein  unverkennbarer  Rationalismus,  der  in  der 
Eudaemonie  proclamiert  wird.  Wenn  dagegen  die  Stoa  keinen 
Sinn  hat  für  diese  Aufklärung,  die  sie  sonst  doch  so  bewusst 
und  so  wirksam  fördert,  so  gibt  sich  diese  Lethargie  als  ein 
Symptom  der  politischen  Mattigkeit  zu  erkennen,  welche  den 
Zerfall  der  alten  Welt  kennzeichnet.  Die  Furcht  vor  dem 
Weltende  war  wieder  als  Deisidaemonie  an  die  Stelle  der 
Eudaemonie  getreten. 


Die  Magenfrage.  279 

Nicht  viel  andei'S  steht  es  im  Mittelalter;  nur  ist  hier  die 
Zweideutigkeit,  die  bei  der  Abweisung  der  Lust  unvermeidlich 
ist,  deutlicher  aufgedeckt.  Die  Eudaemonie  wird  nur  anders 
gerichtet;  bleibt  aber  darum  doch  mit  dem  Subjekt  verbunden, 
in  dem  sie  so  erregt,  wie  unterdrückt  wird.  Der  arme  Mönch 
bettelt  für  den  Reichtum  der  Kirche.  Er  deprimiert  sich  im 
Gehorsam,  um  den  Affekt  der  Herrschaft  in  den  Oberen  zu 
expandieren,  und  demgemäss  auch  seinerseits,  in  seinem 
Herrschaftsaffekte  über  die  Laien  an  dieser  Expansion  teilzunehmen. 
Die  Keuschheit  endlich,  wie  sie  im  Cölibat  proclamiert 
wird,  kommt  eigentlich  erst  in  der  neuesten  Philosophie  des 
Obscurantismus  zu  ihrer  logischen  Consequenz,  insofern 
diese  die  Abschaffung  der  Menschheit  als  den  Sinn  erklärt,  der 
dem  grossen  Prinzip  der  Verneinung  des  Willens  zum  Leben 
beiwohne.  Im  unphilosophischen  Mittelalter  galt  die  Keuschheit 
nur  als  der  Maulkorb  gegen  die  Sünde;  die  schlechterdings  nur 
als  die  geschlechtliche  Begehrlichkeit  (Concupiscentia)  gedacht 
wurde.  Die  Lust  wird  daher  nur  anders  dirigiert;  dem  bedrohten 
und  gefallenen  Ich  wird  das  Siegesgefühl  des  Heiligen  gegen- 
übergestellt. Wo  Lust  abgewehrt  wird,  da  wird  sie  zur  anderen 
Tür  nur  um  so  vorlauter  und  berückender  wieder  hereingelassen. 
Auch  in  der  neuen  Zeit  erweist  sich  der  Eudaemonismus, 
als  Affekt  und  als  Motor  gedacht,  als  ein  aufrichtiger  Freund 
des  sittlichen  Fortschritts.  Im  Zeitalter  der  Erweiterung  des  Be- 
sitzes und  der  Rechte  muss  die  Verdächtigung  des  Eudaemonis- 
mus die  Hemmung  und  die  Einschränkung  der  politischen  Frei- 
heit begünstigen;  und  kann  sehr  leicht  als  ein  Vorwand  frommer 
Heuchelei  wirksam  werden.  Eine  solche  herzlose  Tendenz  ent- 
blödet sich  nicht,  in  dem  modernen  Vorwurf  sich  blosszustellen, 
dass  der  Sozialismus  eine  Magenfrage  sei.  Der  Magen  wird 
hier  zum  Symbol  der  Eudaemonie  gemacht.  Man  wolle  nichts 
Besseres  als  nur  das  Wohlbefinden  des  Magens  anstreben.  Des- 
halb müsse  man  ein  solches  falsches  Prinzip  aus  dem  sittlichen 
Prinzip  der  geistigen  Freiheit,  die  über  alle  Magenleiden  obzu- 
siegen vermag,  gesinnungstüchtig  bekämpfen.  Solcher  Gesinnung' 
gegenüber,  die  als  blosse  Unkenntniss  heutzutage  schwerlich  ent- 
schuldigt werden  kann,  wird  der  Trotz  des  Materialismus  in  der 
Leugnung  der  Freiheit  begreiflich. 


280  Der  politische  Optimismus. 

Wo  die  Lebenskraft  unterbunden  wird,  da  kann  der  Wille, 
der  reine  Wille  nicht  gedeihen.  Die  Lebenskraft  aber,  die  in  der 
Gesundheit  der  Gliedmassen,  und  also  auch  des  Magens  besteht, 
sie  betriffl  nicht  nur  ein  einzelnes,  oder  eine  Minderheit  von 
Individuen;  sondern  es  gilt,  sie  auf  die  breiten  Schichten,  dh  in 
ihrer  überwiegenden  Mehrheit  das  Volk  bilden,  zu  verpflanzen. 
Der  Eudaemonismus  der  Magenfrage  bedeutet  nichts  Ge- 
ringeres als  die  Fürsorge  der  reinen  Ethik  für  die  Tatkraft  des 
reinen  Willens  und  für  die  Reinheit  des  Selbstbewusstseins. 
Dieser  Eudaemonismus  ist  das  Gegenteil  von  Egoismus.  Darum 
konnte  und  durfte  er  sich  mit  dem  Sozialismus  verbinden. 

Dass  er  nicht  das  letzte,  nicht  das  entscheidende  Prinzip 
bildet,  das  ergibt  sich  schon  aus  der  Bestimmung  des  Affekts, 
als  eines  Motors,  nicht  aber  als  eines  Faktors;  und  wir  werden 
die  weitere  Consequenz  davon  in  der  Bestimmung  der  F'reiheit 
zu  suchen  haben.  Jetzt  aber  gilt  es,  dem  Begriffe  des  Affektes 
gemäss  den  geschichtlichen  Sinn  des  Eudaemonismus  zu  erkennen 
und  zu  würdigen.  Wenn  anders  es  das  Prinzip  der  neuen  Zeit 
ist,  die  Rechte  und  die  Normen  des  Charakters  von  Sonderrechten 
zu  entkleiden;  die  Gesamtheit  des  Volkes  zur  politischen  Wehr- 
haftigkeit  zu  entwickeln;  dem  Selbstbewusstsein  gemäss  zur  An- 
teilnahme am  Staatswillen  zu  befreien,  so  ist  dieser  Wille,  wie 
aller  Wille,  durch  den  Affekt  bedingt.  Der  Eudaemonismus 
ist  der  politische  Affekt  der  neuen  Zeit. 

Und  die  neue  Zeit  ist  in  diesem  Affekte  im  innerlichsten 
Zusammenhange  mit  dem  18.  Jahrhundert,  in  dem  die  prinzi- 
pielle Vorgeschichte  der  neuen  Zeit,  auch  der  bevorstehenden, 
zu  erkennen  ist.  Der  Eudaemonismus  des  18.  Jahrhunderts 
heisst  Optimismus.  Und  wir  begreifen  die  Vorliebe  unserer 
Classiker,  die  von  Leibniz,  wie  die  von  Kant,  für  diesen  als 
langweilig  und  unfruchtbar  angeschwärzten  Begriff,  wenn  wir  ihn 
gegen  die  indisch  aufgeputzte  Apathie  des  unpolitischen  Pessi- 
mismus halten.  Dass  Schopenhauer  den  Optimismus  verrucht 
nennen  konnte,  dieses  Eine  Wort  deckt  die  Leere  der  ethischen 
Gesinnung  auf,  die  in  der  politischen  Gesinnung  dieses  Mannes 
an  den  Tag  kommt.  Der  Eudaemonismus  des  Optimismus  kann 
nicht  der  wahre  Feind  der  Freiheit  sein. 


Die  Kirche.  261 

2.  Auch  in  dem  Grundmotiv  des  Mittelalters  sind  Licht 
und  Schatten  wohl  zu  unterscheiden.  Zuvörderst  ist  ein  Nachteil 
zu  beachten,  den  es  vom  Altertum  übernommen  und  fortgebildet 
hat;  wenngleich  mit  einem  grossen  Subjektswechsel.  Im  Alter- 
tum concentriert  sich  alle  Sittlichkeit  im  Staate.  Die  Freiheit 
der  Vernunft  hat  ihre  Grenze  an  der  Omnipotenz  des  Staates. 
Plato  schreibt  seine  Ethik  in  seinem  Staate.  Aus  dem  Makro- 
kosmos des  Staates  leitet  er  den  Begriff  des  Menschen  ab;  für 
die  Psychologie  selbst,  nicht  allein  für  die  Ethik.  Auch  bei 
Aristoteles  ist  die  Politik  nicht  etwa  ein  Anhängsel  zur  Ethik; 
sonders  sie  ist  unabhängig  von  ihr.  Der  Staat  ist  ein  absolutes 
Prius  (TipoTcpov  x"^  ^üosi).  Im  Kosmos  des  Staates  ist  der  Organis- 
mus des  Menschen  geborgen  und  versorgt.  Darin  liegt  seine 
Kraft,  wie  der  Schutz  seines  Willens.  Im  Staate  objektiviert  sich 
die  Freiheit  der  Vernunft. 

Das  Mittelalter  hat  aus  diesem  Staate  die  Kirche 
gemacht.  Es  wird  als  eine  buchstäbliche  Wahrheit 
durchgeführt,  dass  der  Papst  der  Stellvertreter  Gottes  wird;  und 
zwar  nicht  bloss  auf  Erden;  denn  er  vermag  auch  im  Jenseits 
über  die  Seligen  zu  verfügen  und  sie  zu  Heiligen  zu  erhöhen. 
Er  ist  die  Kirche.  Daher  die  harten  Kämpfe  um  die  Frage,  ob 
der  Papst  über  dem  Concil,  oder  das  Concil  über  dem  Papste 
steht.  Alle  intimsten  Angelegenheiten  des  sittlichen  Daseins 
werden  der  Kirche  überantwortet.  Das  Individuum  hat  keine 
eigenen  sittlichen  Pflichten  oder  Befugnisse;  der  Spruch  der 
Kirche  regelt  sein  Gewissen.  Wenn  dennoch  hier  von  Freiheit 
geredet  wird,  so  könnte  diese  bei  günstiger  Auffassung  nur  als 
eine  psychologische  Fähigkeit  der  Lenksamkeit  der  Gedanken 
verstanden  werden;  nicht  aber  als  ein  selbständiges  Prinzip  der 
Ethik;  als  ein  Prinzip,  welches  kraft  seiner  Ursprünglichkeit  und 
Selbständigkeit  die  Ethik  selbständig  macht. 

Dennoch  wäre  es  verfehlt,  dem  christlichen  Mittelalter  alle 
Tendenz  der  Freiheit  abzusprechen.  Man  muss  hier  nur  die 
politische  Verfassung  der  Kirche  nicht  völlig  gleichsetzen  mit  der 
dogmatischen  Verfassung  der  Glaubenslehren.  Und  auch  inner- 
halb des  dogmatischen  Lehrgebäudes  sind  Richtungen  zu  unter- 
scheiden, die  vielleicht  um  so  wirksamer  werden,  je  weniger  sie 
zur  offenen  Anerkennung  gelangen.    Hier  aber  haben  wir  den  all- 


282  Die  Sünde. 


gemeinsten  Grundbegriff  der  christlichen  Religion  zu 
verstehen  und  zu  würdigen,  den  der  Sünde. 

Zwar  hat  die  päpstliche  Politik  und  Theologie  in  dem  Be- 
grifFe  des  Heiligen  eine  schwere  Verletzung  am  Sündenbegriffe 
begangen;  dennoch  aber  konnte  sie  ihn  damit  nicht  aus  dem 
Mittelpunkte  des  ganzen  Glaubenssystems  herausrücken.  Wir  sind 
schon  oben  darauf  aufmerksam  geworden,  dass  der  Begriff  der 
Sünde  in  einer  engen  Beziehung  zu  dem  der  Tugend  steht.  Der 
Standpunkt  des  Sokrates  kann  allenfalls  als  genügend  betrachtet 
werden,  um  die  Tugend  zu  sichern,  oder  wenigstens  um  sie  zu 
entdecken.  Dahingegen  gibt  er  keine  Beruhigung  über  den  Ur- 
sprung und  über  die  fortdauernde  Macht  des  Bösen. 

Selbst  bei  dem  tiefsten  aller  tiefsten  Denker,  bei  Piaton, 
findet  sich  die  anstössige  Flüchtigkeit,  dass  das  Böse  als  Contrast 
zum  Guten  da  sein  müsse.  Der  ewige  Wert  der  griechischen 
Ethik  liegt,  abgesehen  von  ihrer  wissenschaftlichen  Begründung, 
in  der  Erweckung  und  Durchleuchtung  aller  geistigen  Kräfte  für 
den  Begriff,  für  die  Idee  des  Guten,  und  für  die  objektiven  be- 
grifflichen Merkmale  der  Tugend.  Aber  es  ist,  als  ob  ihr  scharfes, 
auch  in  der  Moralisierung  so  scharfes  Auge  vornehmlich  auf  die 
politische  Sittlichkeit  gerichtet  wäre;  weniger  genau  und  inter- 
essiert dagegen  auf  die  privaten  Irrgänge  des  menschlichen,  des 
sittlichen  Labyrinthes. 

Das  ist  ja  eben  das  intime  Verdienst,  welches  dem  Mono- 
theismus für  die  innersten  Vehikel  der  Ethik  zuerkannt  werden 
muss:  dass  er  in  dem  Verhältniss  des  Menschen  zu  Gott 
das  Verhältniss  des  Menschen  zu  sich  selbst  zu  einer  le- 
bendigeren Bedeutung  brachte,  als  dies  dem  Polytheismus  ge- 
lingen konnte  durch  das  Verhältniss  des  Menschen  zu  den  vielen 
Göttern.  Er  konnte  dabei  selbst  nicht  zu  einer  sittlichen  Ein- 
förmigkeit, oder  auch  nur  zu  einem  sittlichen  Einvernehmen 
kommen.  Ein  sonderbares  Beispiel  bildet  hierfür  die  Keusch- 
heit, die  als  eine  Sünde  gegen  die  Aphrodite  betrachtet  wurde. 
Eine  Tugend  gegen  den  einen  Gott  kann  zur  Sünde  gegen  den 
andern  Gott  werden.  Ueberhaupt  aber  muss  die  Zerlegung  der 
sittlichen  Kräfte  in  die  Abstraktionen  besonderer  Götter  die  Ge- 
nauigkeit und  Bestimmtheit  der  sittlichen  Fragen  beeinträchtigen, 
da   diese   nun   einmal    nicht   anders   als  in  übersichtlicher  Ver- 


Die  Erlösung.  288 

bindung  und  Durchdringung  zu  durchschauen  sind.  Diese 
Uebersicht  gewährt  allein  der  Eine,  der  einzige  Gott.  Das  A'er- 
hältniss  des  Menschen  wird  in  allen  seinen  sittlichen  Nöten  auf 
den  Einzigen  concentriert. 

Daher  konnte  der  mythische  Gedanke  des  Pohiheismus  von 
der  Ate  der  Geschlechter,  wie  missverständlich  sie  auch  noch  an- 
klingt, hier  nicht  unwidersprochen  bleiben.  Der  Prophet  Ezechiel 
hat  nach  dem  Vorgange  von  Jeremia  dieses  grosse  Aergerniss  für 
den  Begriff  des  Menschen,  wie  nicht  minder  für  den  Begriff 
Gottes,  aus  dem  Wege  geräumt.  Es  ist  nicht  die  Sünde  eines 
Famiiiengeschlechts,  noch  auch  etwa  die  Sünde  des  Menschen- 
geschlechts, welche  sich  forterbt;  sondern  es  ist  „die  Seele,  welche 
sündigt."  Die  Seele,  die  Person,  sie  ist  das  Individuum.  Und 
in  der  Sünde  ist  das  Individuum  zur  Entdeckung  ge- 
kommen: Und  es  ist  keineswegs  die  Freiheit  der  Verdammniss, 
welche  hiermit  festgestellt  würde;  sondern  zugleich  mit  der 
Sünde  des  Individuums  entdeckt  Ezechiel  den  Begriff'  der  Busse, 
wie  das  besser  bezeichnende  hebräische  Wort  der  Umkehr  nach 
dem  juristischen  Kirchenbegriffe  des  Lösegelds  gewöhnlich  über- 
setzt wird.  In  der  Kraft  der  Busse  wird  die  Freiheit  als  die 
Fähigkeit  zur  positiven  Sittlichkeit  anerkannt.  Dennoch  aber  darf 
es  nicht  verschleiert  und  verkleinert  werden,  dass  die  Sünde  der 
vermittelnde  Begriff  wurde  für  die  Erfüllung  der  Tugend.  Zuerst 
musste  in  der  Freiheit  zum  Bösen  die  Freiheit  entdeckt  werden. 

Wir  waren  schon  darauf  aufmerksam,  wie  die  Sünde  im 
Christentum  noch  schärfer  accentuiert  werden  musste,  insofern 
sie  zu  dem  Begriffe  der  Erlösung,  dem  Grundbegriffe  der  Christo- 
logie,  das  Correlat  wurde.  Jetzt  forderte  die  Sorge  für  das  ewige 
Heil  der  Seele  die  peinlichste  Genauigkeit  im  Begriffe  der  Sünde. 
Es  galt  als  die  eigentliche  Aufgabe  der  religiösen  Moral,  alle 
geheimsten  Falten  des  Herzens  zu  durchsuchen  und  zu  ent- 
blössen,  um  das  Dunkel  der  Sünde  grell  zu  lichten.  Man  kennt 
die  Schatten,  welche  dadurch  über  den  Sonnentag  der  Sittlich- 
keit sich  festgelegt  haben.  Man  kennt  die  Schäden,  welche  die 
Beichte  aus  der  Busse  herbeigeführt  hat.  Dennoch  aber  dürfen 
wir  darüber  die  Verdienste  nicht  übersehen,  welche  die  alte,  die 
entstehende  Kirche  durch  diese  anscheinende  Mechanisierung 
des  Sündenregisters   trotz  alledem  sich  erworben  hat.    Man  ver- 


284  Die  politische  Entstehung  des  Christentums. 

gisst  zu  leicht,  dass  der  gebildete  Polytheismus  im  Glänze  der 
Kultur  zugleich  ein  Staatswesen  hinter  sich  hatte,  welches  blühte 
und  reifte.  Das  Christentum  dagegen  hatte  Völker  zu  bezwingen, 
welche  nur  erst  in  den  mythischen  Anfangen  der  Kultur  atmeten, 
und  in  dieser  ursprüngliche  Heldenkraft  darstellten.  Da  galt  es, 
das  Heroentum  zu  demütigen,  wenn  diese  Völker  für  die  sittliche 
Kultur  gewonnen  und  erzogen  werden  sollten.  Nur  das  Gespenst 
der  Sünde  konnte  diese  Urmenschen  und  diese  Helden  schrecken; 
nur  durch  die  Vorhaltung  der  Sünde  konnten  diese  Individuen 
zu  der  Ahnung  gebracht  werden,  dass  der  Sinn  und  Wert  des 
Individuums  in  anderer  Richtung  zu  erleben  sei,  als  in  welcher 
jene  Titanen  einer  neuen  Zeit  dieses  neue  Weltalter  an  den  Tag 
der  Geschichte  brachten.  In  solcher  geschichtlichen  Besinnung 
kann  man  allein  das  christliche  Prinzip  der  Sünde  richtig 
verstehen  und  gerecht  würdigen. 

Während  der  Mensch  in  der  Autorität  der  Kirche  politisiert 
wurde,  empfing  er  in  der  Sünde  ein  scharfes  Mittel  zur  Selbst- 
erkenntniss  und  zur  Begründung  seines  Selbst.  In  solcher 
Selbsterkenntuiss  bewährt  sich  das  Prinzip  der  Freiheit;  sie  kann 
nicht  einen  Widerspruch  zur  Freiheit  bilden.  Das  wäre  eine 
falsche  Freiheit,  welche  dem  Dünkel  Nahrung  gäbe,  als  ob  der 
Mensch,  wenn  er  nur  will,  das  Gesetz  des  Willens  zu  vollziehen 
gerade  gut  und  stark  genug  sei.  Vielmehr  soll  die  Freiheit, 
wie  die  Sünde,  die  Orientierung  im  ganzen  Gebiete  des  Mensch- 
lichen gründlicher  machen  helfen,  um  alle  Schlupfwinkel  der 
menschlichen  Gebrechlichkeit  an  das  Licht  zu  ziehen.  Und 
nicht  nur  darf  diese  menschliche  Mangelhaftigkeit  als  eine  vor- 
übergehende, und  dai'um  ebenso  leicht  zu  vermeidende  und  aus- 
zutilgende Schwäche  gedeutelt  werden,  von  der  die  Freiheit  frei 
machen  könnte,  wenn  sie  nur  allein  zu  herrschen  hätte.  Der 
Wille  bewegt  sich  vielmehr,  unaufhörlich  auf  dem  indifferenten 
Vulkan  der  Affekte,  die  ebensosehr  daher  zum  Schlimmen,  wie 
zum  Guten  den  Ausschlag  geben.  Daher  bedarf  der  Mensch 
stetig  der  unbestechlichen  (2ontrole  durch  das  Prinzip  der  Sünde. 
Und  je  genauer  im  ersten  Gifthauch,  wie  im  ersten  Lustwehen 
des  Antriebs  die  Regung  der  Sünde  ertappt  wird,  desto  schwieriger 
würde  die  Rettung  vor  der  Sünde  sein  zu  müssen  scheinen,  wenn 
nicht  die  Freiheit  doch  noch  ein  klareres  und  genaueres  Prinzip 


Luther.  285 

zu  bilden  vermöchte.  Aber  diese  Genauigkeit  der  Freiheit  hat 
die  Genauigkeit  der  Sünde  zur  Voraussetzung.  Die  Sünde  ist 
das   Erkenne  Dich  Selbst  (jvÄ&t  aauxov)   der  religiösen  Moral. 

Daher  hat  es  einen  wahrhaften  weltgeschichtlichen  Grund, 
dass  Luther  seine  neue  Glaubenslehre  unter  dem  Titel  der  Frei- 
heit des  Christenmenschen  angekündigt  hat.  Die  scholastische 
Freiheit  hat  er  bestritten,  wie  der  Philosoph  des  Christentums, 
Augustinus,  sie  bestritten  hat.  Aber  seinen  Glauben  erkannte 
er  als  Freiheit,  und  hat  er  als  Freiheit  bezeichnet.  Nicht  dass 
er  den  ethischen  BegriflF  der  Freiheit  erfüllt,  oder  auch  nur  an- 
gebaut hätte;  denn  einer  ethischen  Begründung  widerspricht  und 
widerstrebt  der  Begriff  der  Erlösung  durch  den  Gottmenschen. 
Im  geschichtlichen  Sinne  aber  ist  die  Entwickelung  der  ethischen 
Bedeutung  der  Freiheit  an  diese  Freiheit  des  Glaubens  gebunden, 
welche  die  Reformation  herbeigeführt  hat.  Der  Kirche  mit  ihren 
Heilsmitteln  tritt  jetzt  der  Glaube  entgegen. 

Wie  die  Propheten  das  Opfer  bekämpfen,  so  bekämpft 
Luther  mit  seinem  Glauben  die  Werke,  nämlich  die  Werke 
der  Kirche;  nicht  etwa  das  Werk  der  sittlichen  Arbeit,  der 
Ausübung  der  Sittlichkeit.  Die  Werke  der  Kirche  sind  das 
alte  Opfer,  das  sich  nur  in  ein  Mysterium  verwandelt  hat. 
Der  Glaube  darf  diesen  Werken  als  eine  überlegene  sittliche 
Macht  entgegentreten,  wie  sehr  er  auch  seinerseits  noch  an  das 
Wort  Gottes,  an  das  Evangelium,  oder  selbst  nur  an  die  Person, 
oder  gar  nur  an  die  Idee  Christi  gebunden  bleibt.  Trotzdem  ist 
CS  eine  neue  positivere  Richtung  der  Selbsterkenntniss,  welche  in 
diesem  erneuerten  Glauben  die  Welt  erobert.  Es  ist  die  Inner- 
lichkeit des  sittlichen  Selbstbewusstseins,  in  aller  Scheu  und  Ehr- 
furcht, aber  auch  in  aller  Zuversicht  und  allem  Frohmut  sitt- 
licher Gewissheit,  welche  hier  ihre  Schwingen  hebt.  In  diesem 
Glauben,  inhaltlich  nur  erst  negativ  klar  bewusst,  psychologisch 
aber  und  daher  auch  aesthetisch  im  grossen  Zuge  und  sichern 
Fluge  kündigt  sich  die  sittliche  Freiheit  der  neuen  Zeit  an;  die 
Freiheit  für  die  sittliche,  und  daher  auch  die  wahre  Freiheit  für 
die  aesthetische  Kultur. 

Gerade  an  der  Grenze  der  ethischen  und  der  aesthetischen 
Kultur  hat  es  sich  bei  dem  Neubeginn  einer  andern  neuen  Zeit 
erwiesen,    wie    die  Freiheit    ohne    die  Sünde   nicht   die  richtige 


2ÖB  Der  Fehler  Rousscaus. 

Losung,  nicht  die  richtige  Formulierung  des  Problems  bringt. 
Die  Freiheit  ist  nicht  das  Wahnbild  einer  natürlichen  Gutmütig- 
keit des  Menschen,  die  angeboren  und  unzerstörbar  sei.  Kann 
sie  in  Wahrheit  als  unzerstörbar  gedacht  werden?  Dann  ent- 
stünde ja  das  Problem  gar  nicht.  Rousseau  predigt  aber  die 
Abkehr  von  der  Kultur.  Also  in  der  Kultur  erkennt  er  den 
Widerspruch  der  Freiheit  an.  Er  erkennt  also  die  Sünde  an; 
nur  verlegt  er  sie  anderswohin;  anstatt  in  das  Individuum,  wie 
es  die  Religion  tut,  verlegt  er  sie  in  den  Staat  und  in  die  Gesell- 
schaß.  Diese  Abstracta  können  nun  zwar  nicht  selbst  sündigen; 
die  Sünde  ist  nun  einmal  das  Specificum  des  Individuums.  Daher 
liegt  in  der  Gesellschaft,  im  Staate,  in  der  Kultur  der  Anlass  und 
die  Ursache  zur  Sünde.  Es  sei  eben  nicht  allein  der  Anlass,  der 
in  der  Kultur  zur  Simde  läge,  welcher  die  Kultur  verdächtig 
macht;  sondern  sie  ist  die  Ursache  des  Bösen;  deshalb  muss  sie 
abgeschafft  werden,  und  die  Natur  muss  wieder  die  Welt  erfüllen. 
So  wird  hier  die  theoretische  Kultur  geopfert,  um  die  sittliche 
zu  retten.  Damit  aber  wird  das  Prinzip  der  Wahrhaftigkeit  preis- 
gegeben. Und  so  macht  es  der  grandiose  Fehler  Rousseaus  deut- 
lich, was  bei  der  Freiheit  herauskommt,  wenn  sie  ohne  die 
gründliche  Anerkennung  der  Sünde  gedacht  wird. 

Es  ist  ein  Irrtum,  wenn  man  selbst  den  christlichen  Ge- 
danken von  der  Erbsünde  nur  in  dieser  schroffen  Einseitigkeit 
auffasst,  dass  er  die  Freiheit  ausschliesse,  ausser  sofern  sie  durch 
die  Erlösung,  also  von  Aussen  erworben  wird.  Freilich  muss 
der  Schwung,  mit  dem  der  Apostel  Paulus  die  herrliche  Frei- 
heit der  Kinder  Gottes  besingt,  wie  das  schöne  Wort  in  der  sehr 
freien  Uebertragung  bei  Luther  lautet,  besonnen  geprüft  werden. 
Die  Freiheit  vom  Dekalog  darf  sie  eigentlich  doch  wohl  nicht 
bedeuten;  denn  diese  würde  zur  teilweisen  Entbindung  vom 
Sittengesetze.  Und  auch  andererseits  darf  man  nicht  ausser  Acht 
lassen,  dass  der  Mensch  der  ewigen  Verdammniss  verfallen  bleibt, 
wofern  er  nicht  durch  die  Erlösung  das  ewige  Heil  zu  erwerben 
vermag.  Die  ewige  Verdammniss  bildet  eben  das  Correlat 
zum  ewigen  Leben.  Und  die  ewige  Verdammniss  ist  der  sittliche 
Ausdruck  für  den  andern  der  natürlichen  Erbsünde.  Trotz  alledem 
ist  es  eine  einseitige  Beurteilung,  wenn  man  die  christliche  Lehre 
ausschliesslich    oder    vornehmlich    aus    diesem    Gesichtspunkte 


Das  radicale  Böse.  287 

beurteilt,  und  den  innerlichen,  notwendigen  Zusammenhang  nicht 
erkennt,  der  zwischen  der  Sünde  und  der  Freiheit,  weil  zwischen 
der  Sünde  und  der  Erlösung  hier  errichtet  wird.  In  welcher  Art 
des  Daseins  diese  Erlösung  zur  Wirklichkeit  gelangt,  darauf 
kommt  es  in  erster  Linie  nicht  an.  Im  sittlichen  Ernste,  nämlich 
für  das  lebendige  religiöse,  und  auch  das  sittliche  Bewusstsein 
wird  die  Erlösung,  sofern  sie  im  Glauben  gewonnen  wird,  auch 
für  das  Diesseits  wirksam.  Und  so  wird  es  dadurch  anerkannt 
dass  der  Mensch  keineswegs  nur  schlecht  sei.  Die  Sünde 
bezeichnet  den  Begrifif  vom  Menschen,  welchem  gemäss  ein  Abfall 
vom  Guten,  ein  Rückfall  zum  Bösen,  aber  ebenso  auch  ein  Auf- 
schwung zum  Guten  die  möglichen  Stadien  der  sittlichen  Ent- 
Wickelung  bilden.  So  liegt  keineswegs  ein  unausgleichbarer 
Widerstreit  zwischen  den  Begriffen  des  radicalen  Bösen  und 
der  Freiheit.  Kant  hat  vielmehr  einen  tiefen  Punkt  in  dem 
sittlichen  Bewusstsein  aufgeregt,  indem  er  das  Vorurteil  zerstörte, 
unter  dem  die  christliche  Lehre  zu  leiden  hat. 

Den  Anstoss  bildet  hier  vielmehr  der  Begriff  der  Erlösung. 
Denn  wenn  dieselbe  auch  nicht  ohne  Mitwirkung  der  sittlichen 
Arbeit,  welche  der  Glaube  zu  leisten  und  zu  bedeuten  hat,  er- 
worben werden  kann,  so  bleibt  sie  doch  immer,  zwar  nicht  ein 
Geschenk,  aber  eine  Offenbarung,  die  von  Aussen  an  den 
Menschen,  in  den  Menschen  kommt.  Und  hier  kann  innerhalb 
der  Glaubenslehre  selbst  keine  Correktur  getroffen  werden.  Nur 
wenn  man  die  Dogmatik  selbst  in  dem  allgemeinen  Processe  der 
Mythologie  betrachtet,  wie  Schelling  und  auf  seine  Weise  auch 
Hegel^  dies  getan  haben,  kann  man  in  der  geschichtsphilo- 
sophischen  Charakteristik  dazu  übergehen,  die  allgemeine  kultur- 
geschichtliche Wirkung  zu  unterscheiden  von  der  Innern 
religiösen,  dogmatischen,  mythologischen.  Und  aus  diesem  Ge- 
sichtspunkte kann  man  der  christlichen  Erlösungslehre  die  Be- 
deutung abgewinnen,  welche  aus  dem  mythologischen  Begriffe 
des  Gottmenschen  sich  ergibt.  Jetzt  kommt  die  Sittlichkeit 
nicht  lediglich  von  Aussen,  weil  allein  von  Gott;  sondern  der  Gott  ist 
zugleich  Mensch.  So  gewinne  ich  die  Erlösung  und  also  die  Freiheit 
nicht   allein  von  Gott,   sondern   zugleich    auch   vom   Menschen. 

Hier  geht  der  Mythos  mit  dem  Pantheismus  zusammen. 
Und  von  hier  aus  lassen  sich  die  ursittlichen  Bewegungen  über- 


288  Der  Gottmensch. 


schauen,  welche  aus  beiden  Quellen  des  sittlichen  Bewusstseins 
zu  allen  Zeiten  stets  von  Neuem  hervorgegangen  sind.  Beide 
Quellen  aber  sind  Quellen  der  geistigen,  auch  der  sittlichen 
Kultur;  sie  sind  aber  nicht  lautere  Urgründe  der  philosophischen 
Erkenntniss.  Auch  der  Pantheismus  mag  Religion  sein; 
Philosophie  ist  er  nicht;  sofern  Philosophie  als  der 
Idealismus  der  Selbsterkenntniss  der  Vernunft  gedacht 
wird.  Zur  Selbsterkenntniss  gehört  strenge  Rechenschaft.  Be- 
deutsamer Weise  bezeichnet  der  Logos  im  Griechischen  Beides. 
Daher  ist  es  denn  auch  gekommen,  dass,  während  in  die 
allgemeine  geistige  Kultur  der  pantheistische  Gedanke  des  Gott- 
menschen sich  hindurchgewirkt  hat,  in  der  engern  ethischen 
Kultur  die  Erlösung  nicht  nur  religiös  stets  nur  als  die  Macht 
des  Glaubens  an  die  Gottheit  Christi  gedacht  und  gefühlt 
wurde,  sondern  dass  auch  das  populäre  sittliche  Bewusstsein, 
und  zwar  bis  in  die  Spitzen  der  Bildung  hinein,  die  sittliche 
Kraft  in  einer  innern,  frommen  Abhängigkeit  von  der  Person 
dieses  Gottmenschen  und  seiner  persönlichen  irdischen  Wirk- 
samkeit festgehalten  hat.  Dieses  Musterbild  einer  Person 
widerspricht  durchaus  dem  Begriffe  der  Freiheit,  wie 
er  für  das  Selbstbewusstsein  zu  bilden  ist.  Es  darf  nicht  gefragt 
werden,  was  Christus  getan  hat,  oder  gar  was  er  getan  haben 
würde,  wenn  ich  sicher  meinen  Weg  gehen,  wenn  ich  den 
rechten  Anfang  für  meinen  Weg  nehmen  soll.  Es  liegt  in  dem 
Dualismus  des  Gottmenschen,  dass  erdiesesDoppelverhältniss 
zur  Freiheit  bilden  muss. 

Nur  wenn  man  die  Person  ganz  fallen  lässt,  und  dafür,  wie  die 
tieferen  Denker  des  Mittelalters,  auch  Leibniz  und  Malebranche 
es  taten,  die  Idee  des  Menschen  einsetzt,  und  die  Göttlichkeit  nur 
als  die  Idealität  versteht,  nur  dann  lässt  sich  diese  Gefahr  ab- 
wenden. Diesen  Weg  ist  in  gewisser  Weise  auch  Kant  gegangen, 
indem  er  dem  ^Heiligen  des  F>angeliums"  das  Urbild  des  Sitlen- 
gesetzes  in  die  Seele  gab.  Diese  Wege  geht  aber  nur  der  abge- 
standene Rationalismus,  den  Richtungen,  welche  Mythos  für  Ge- 
schichte nehmen,  als  unhistorisch  abtun  zu  dürfen  meinen.  Die 
Romantiker  waren  es  bereits,  welche  den  Weg  der  Idealisierung 
verliessen;  sie  waren  darin  allerdings  zugleich  Historiker,  nämlich 
als  Politiker  ihrer  Gegenwart. 


Das  Leiden.  289 

Das  Verhältniss  des  Christentums  zur  Freiheit  muss  noch 
von  einem  andern  Gesichtspunkte  aus  betrachtet  werden.  Es  ist 
nicht  allein  und  nicht  im  letzten  Grunde  die  Sünde,  welche  hier 
zur  Freiheit  in  Beziehung  steht,  sondern  zugleich  das  Leiden, 
welches  nicht  allein  eine  Folge,  sondern  für  welches  ebensosehr 
die  Sünde  ein  Symbol  ist.  Wir  hatten  es  schon  beachtet,  dass 
das  Christentum  an  der  Schwelle  der  Völkerwanderung  entstand, 
sich  gestaltete.  Das  Altertum  starb  ab;  und  neue  junge  Volks- 
krafle  tauchten  aus  dem  Dunkel  auf,  mit  ihrem  urwüchsigen 
Aberglauben  und  Uebermut.  Ihre  Naturkraft  war  von  geistiger 
Kultur  nicht  gemässigt  und  nicht  gedemütigt.  FAne  Spur  see- 
lischer Schwäche  stört  aber  auch  die  Einfalt  des  Wilden,  ge- 
schweige den  Frieden  des  Barbaren,  der  in  den  Wettkampf  mit 
alten  Kulturvölkern  eintritt.  Die  Angst  vor  dem  Ende  ergreift 
auch  ihn.  Daher  steigt  auch  das  Interesse  an  dem  Anfang  in 
ihm  auf.  Sein  eigenes  Dasein  und  Ende  fühlt  er  in  der  Ver- 
grösserung  des  Weltendes,  des  Weltanfangs. 

Das  ist  die  natürlichste  Frage  des  Menschen,  sein  natür- 
lichstes Leiden,  dass  sein  Dasein  ein  Ende  nimmt.  Es  ist  der 
lauteste  Zeuge  gegen  seine  F'reiheit.  An  dieses  mythische  Grund- 
motiv hat  das  Christentum  angeknüpft,  als  es  den  Heiden  sich 
mitteilte.  Die  Angst  vor  dem  Ende,  der  Schrecken  des  Todes 
ist  das  Mene  tekel  des  Heiden.  Daher  entstand  das  Streben  nach 
Vergottung.  Die  Idee  der  Unsterblichkeit  war  nur  ein  Ge- 
danke der  Philosophie  und  allenfalls  der  Bildung;  die  niederen 
Volkskreise  sahen  die  Möglichkeit  der  Unsterblichkeit  allein  in 
der  Vergottung.  Wenn  Paulus  die  Erlösung  von  der  Aufer- 
stehung Christi  abhängig  macht,  so  will  er  damit  auch  das  Fort- 
leben verbürgen;  die  Erlösung  von  der  schweren  Angst  des 
Irdischen,  vom  Untergange  im  Tode.  Der  Tod  ist  das  Symbol 
des  menschlichen  Leides,  des  menschlichen  Lebens. 

Aber  auch  die  philosophischen  Kirchenväter  spinnen  diesen 
Mythos  fort,  und  fassen  aus  diesem  Gesichtspunkte  die  Mensch- 
werdung Gottes  auf.  Deos  facturus,  qui  homines  erant, 
homo  factus  est,  qui  deus  erat.  Da  darf  man  denn  wohl 
einen  tiefern  Gedanken  als  Grund  vermuten,  der  in  dem  Ge- 
danken des  Todes  verborgen  war.  Es  ist  nicht  allein  die  Be- 
freiung von  der  Sünde,  und  auch   nicht   allein   die  vom  Leiden, 


290  Das  traKt^hc  Problem. 

welche  in  der  Vergottiing  erstrebt  wird:  scindern  e^  int  «ii-r  un- 
gemeine Zug  pant heimischer  Mystik,  der  überall  hervortritt,  wo 
die  Vereinigung  des  Menschen  mit  (iott  gesucht  wird.  Wie 
wäre  sie  möglich?  Möglich  l'ür  Ciott,  wie  für  den  MenM'lien* 
Ist  es  nicht  Blasphemie,  wenn  es  nicht  Mjihos  sein  kann*.'  Die 
Grenze  des  M\ihos  ist  die  Poesie,  l'nd  es  ist  in  der  Tat  das 
aesthetische  Bewusstsein,  welches  in  diesem  (irundzuge  der  Mystik 
sich  geltend  macht.  Die  Religion  hatte  sich  von  Anfang  an  mit 
diesem  mythischen  Ursprünge  der  Kunst  versi'hwistert. 

Das  Ergreifende,  das  Welterschütternde  an  dem  christlichen 
Bewusstsein  der  Sünde  und  des  I^idens  ist  die  rel^ernahnu*  des 
tragischen  Interesses.  Diese  ganze  Heligion  konnte  als  eine 
ofTentliche,  der  Kunstdarstellung  vergleichbare  Verhandlung  des 
menschlichen  Schicksals  ersc^heinen.  B€*i  aller  irdischen  Macht 
und  aller  Tatenfülle  und  llehlenkrafl  svmlM>lisiert  die  Sundr  da% 
ewige  Verlorensein,  Daher  die  Verzw-eiflung  ties  Mensc'hen.  «iie 
Verzweiflung  am  Mens(*hen. 

l'nd  wie  ergreifend  wird  nun  erst  das  mens<*hliche  heidi'n. 
wenn  man  \on  den  (irossen  diesi*r  Krde  auf  die  Muhseligen  und 
Belndenen  herabsieht.  Das  K\angelium  wurde  den  Armen  ;:e- 
predigt.  Die  Armen  vorzugsweise  sind  die  leidenden  MenM*hcn. 
Das  Mitleid,  der  grosse  tragis<*he  AlTekt,  er  wurde  zum  vornehni- 
liebsten  christlichen  Afl'ekte.  Ks  war  wahrlich  nicht  allein  die  li.irt- 
herzige  Verweisung  auf  das  Jenseits,  der  \ielmehr  das  wuhrballu«- 
)elH*ndige  Mitleid  krallig  widersprach,  welch(*s  in  den  macht-  und 
drang>  ollen  s<i/.iulen  Veranstaltungen  d(*s  geistlichen  Mittelalln^ 
Tat  wurde;  (*s  war  das  tragivMie  Problem,  welcbi*s  hier  einf^iill 

Hs  handelt  sich  in  der  Tat  um  das  tragisi-be  Problem:  nicbt 
altein  um  ein  tragisi-bes  lnteri*sM*  un  dem  traurigen  DaM*in  i\v\ 
Menschen;  und  zwar  in  dop|H*lter  Ikviehung  bei  MMnem  Knd«\ 
und  in  seinem  Dasein.  Das  tru;i;iscbe  Problem  aber  steht  immei  in 
(konnex  mit  der  Freiheit.  In  lirm  MrelM*n  nach  Ver^ottung.  nach 
Krlosiin^  \on  Schuld  und  Leiden  ist  rs  im  Cirunde  nichts  Anilrii*s 
als  die  Krlosunu  \(im  Mens4*ht*n  M^lbst,  erlebe  das  Ziel  bildri. 
Die  Vergottun;;  ist  nur  ein  Ausdruck  Itir  diesrs  Zirl,  di*r  |h»mIi\ 
scheint.  Das  |^1  das  tra;:iM*b(*  Problrm  tlass  die  Freibnt  in 
Fra;^:«*  p-stellt,  in  Zwciffl  ^^t-nukt  ^ird.  dass  Me  abrr  «b'nn«H  li 
zur  sa';;it*icben  lliselimiuiu  kommt. 


Die  Reformation.  291 


Es  lässt  sich  verstehen,  wie  die  christliche  Kultur  von 
Anfang  an  das  antike  Drama  in  sich  erneuern  musste;  war  es 
doch  mit  ihm  und  seinem  Prometheischen  Ursprung  durch  den 
Grundzug  des  Leidens  verwandt.  Die  Freiheit  aber  hat  erst 
wieder  aller  Sünde  und  allem  Leiden  gegenüber  Luther  ans  Licht 
gezogen.  Und  es  möchte  in  der  Tat  nicht  allein  die  Mystik 
hierbei  den  Ausschlag  gegeben  haben,  sondern  der  politische 
Geist  Luthers,  der  die  geistige  Kultur  selbständig  machte,  von 
der  Leitung  der  geistlichen  befreite;  der  weltlichen  Obrigkeit  sie 
anvertraute,  und  zu  ihrer  eigensten  Pflicht  machte.  Auch 
Christus  hatte  in  seiner  Sprache  ein  Amt.  Und  er  ist  ein  Mensch 
geworden,  auf  dass  der  Mensch  seinem  Nächsten  werde,  was 
Christus  Allen  geworden  ist 

Das  ist  der  grosse  innerliche  Fortschritt  der  Humani- 
sierung des  christlichen  Gedankens,  den  die  Reformation 
vollzieht.  Jetzt  tritt  die  Vergottung  der  Freiheit  nahe.  Jetzt  be- 
deutet sie  nicht  lediglich  die  Befreiung  von  Sünde  und  Leiden. 
Jetzt  ist  es  der  Begriff  des  Menschen,  der  in  diesem  Geiste 
Christi  zur  Freiheit  erweckt  wird,  weil  zur  sittlichen  Arbeit  am 
Menschen.  Vor  dieser  sittlichen  Bedeutung  der  Religion  konnte 
der  Unterschied  zwischen  dem  Geistlichen  und  dem  Weltlichen 
nicht  bestehen  bleiben.  Luther  machte  sich  das  grosse  Wort 
Moses  zum  Leitstern :  Ihr  sollt  mir  ein  Reich  von  Priestern  sein 
und  ein  heilig  Volk.  Es  gibt  keinen  kränkendem  Widerspruch 
gegen  die  Freiheit,  als  wenn  der  religiöse  Charakter  des  Menschen 
in  Laien  und  Geistliche  gespalten  wird. 

Diesem  Grundfehler  der  katholischen  Kirche  entspricht  die 
Scheidung  der  Seligen  in  Heilige  und  Nichtheilige.  Die  Re- 
formation hat  diesen  beiden  Einrichtungen  Widerstand  geleistet ; 
sie  widersprechen  dem  Amte  der  Sittlichkeit  und  der  Religion. 
Und  aus  diesem  Widerstände  ist  der  positivste  Charakterzug  der 
neuen  Zeit  erwachsen:  der  protestantische  Staatsbegrift. 
Er  hat  sich  mit  dem  Gedanken  des  Naturrechts  verbunden, 
welches  in  jenen  Tagen  erneuert  ward.  Indem  das  Recht  und 
der  Staat  verweltlicht  wurden,  wurde  die  echte,  wahre  Sittlichkeit 
auf  Erden  gepflanzt,  im  Staate  begründet.  So  hat  der  Gesichts- 
punkt des  Leidens  unmittelbarer  als  der  der  Sünde  das  Problem 
der  Freiheit  auf  die  rechte  Bahn  gebracht. 


292  Territorium  und  Staat. 


3.  Wir  wenden  uns  wieder  dem  Grundmotive  der  neuen 
Zeit  zu.  Es  besteht  in  einer  Verbindung  der  antiken  Staatsidee 
mit  der  christliehen  Idee  des  Individuums;  also  in  der  Ver- 
bindung der  Politisierung  mit  der  Individualisierung. 
Im  Grunde  ist  dies  auch  das  Problem  des  Protestantismus. 
Denn  weder  die  Staatsidee,  noch  die  des  Individuums,  bleibt  in 
ihm  dieselbe  wie  im  Katholicismus.  Der  Staat  musste  ein 
anderer  werden,  da  er  die  Kirche  nicht  über  sich,  geschweige 
den  Staat  in  der  Kirche  eigentlich  enthalten  denken  durfte.  Und 
das  Individuum  durfte  nicht  ferner  in  der  Kirche  sein  Centrum 
haben;  und  wenn  es  darüber  zersplittert  und  isoliert  werden 
sollte.  Wäre  dem  Einzelnen  gegenüber  die  Kirche  allein  eine 
Monade,  so  mag  immerhin  das  Individuum  zum  Atom  werden; 
wenn  nur  aus  diesem  Atom  diejenige  Einheit  lebendig  werden 
kann,  deren  der  Mensch  für  das  Rechts-  und  Staatsleben  bedarf. 

Man  sieht,  dass  der  Protestantismus  dem  Kirchenstaate 
gegenüber  auf  den  antiken  StaatsbegrifT  zurückgreift.  Die  Atomi- 
sierung  wird  nicht  gescheut;  das  Individuum  wird,  als  ein  poli- 
tisches Lebewesen,  wie  Aristoteles  den  Menschen  definiert 
hatte,  der  Staatshoheit  untergeordnet;  aber  die  Atomisierung 
konnte  den  Organismus  nicht  schädigen.  Ein  anderes,  wiederum 
scheinbar  isolierendes,  naturalistisches  Element  trat  hinzu,  näm- 
lich das  des  Territoriums;  so  wurde  unter  der  Devise  der 
territorialen  Landeshoheit  und  der  Landeskirche  der  nationale 
Staat  gefördert;  der  selbst  wieder  nur  ein  Mittel  war  für  den 
modernen  sittlichen  Begriff  des  Staates. 

Indessen  musste  die  Atomisierung  und  die  scheinbare 
Materialisierung  noch  weiter  entwickelt  werden,  um  den  mo- 
dernen StaatsbegrifT  ins  Leben  zu  rufen.  Und  es  war  der  Begriff 
der  Gesellschaft,  dem  diese  Verwandlung  zufiel.  Er  selbst 
musste  sich  dazu  erst  verwandeln;  denn  wir  hatten  ihn  früher 
als  den  Stoischen  Begriff  der  Societas  kennengelernt,  der  sich 
alsbald  in  den  der  Socialitas  ausweitete;  während  er  andererseits 
in  seinem  ursprünglichen  Rechtsgebiete  seiner  technischen  Ent- 
wickelung  nachging.  Das  besondere  Interesse,  welches  der  Be- 
griff der  Gesellschaft  seit  dem  18.  Jahrhundert  auf  sich  gezogen 
und  festgehalten  hat,  rührt  nun  aber  von  dem  zweideutigen  Um- 
stände her,  dass  die  beiden  Bedeutungen  der  Gesellschaft, 


Der  Doppelbegriff  der  Gesellschaft.  293 

die  moralische  und  die  rechtliche,  sich  in  ihm  verbunden, 
in  ihn  verschlungen  haben. 

Wir  betrachten  jetzt  die  reclitliche  Seite,  wie  sie  unter  dem 
modernen  Gesichtspunkte  der  Wirtschaft  erscheint.  In  der 
Wirtschaft  bestehen  die  concreten  Verhältnisse,  deren  abstrakte 
Normen  das  Recht  bilden.  Bezeichnet  der  Staat  das  Herr- 
schaftsgebiet, so  die  Gesellschaft  das  Verkehrsgebiet,  das 
Gebiet  der  Wirtschaft.  Und  die  concrete  Wirklichkeit,  die  der 
Gesellschaft  eigen  ist,  droht  jetzt  sogar  dem  Abstraktum  des 
Staates  in  sein  Herrschaftsgebiet  überzugreifen,  da  manche 
Zweige  der  Herrschaft  zugleich  Verkehrsgebiete  sind.  Wie  steht 
es  aber  um  das  Verhältniss  zwischen  der  Gesellschaft 
und  dem  Individuum?  Darauf  kommt  es  uns  hier  beim 
Probleme  der  Freiheit  mehr  an,  als  auf  das  Verhältniss  zwischen 
der  Gesellschaft  und  dem  Staate.  Was  bedeutet  das  Individuum 
unter  dem  Zeichen  der  Gesellschaft? 

Im  Altertum  erschien  diese  moderne  Bedeutung  der  Gesell- 
schaft vorzugsweise  als  Wirtschaft.  Daher  war  das  Individuum 
in  ihr  der  Sklave.  Die  neuere  Zeit  hat  die  Wirtschaft  zum  Ver- 
kehr entwickelt.  Daher  ist  aus  dem  Sklaven  der  Arbeiter  ge- 
worden. Denn  das  ist  der  Unterschied  zwischen  der  Arbeit 
und  dem  Sklavendienst:  dass  der  letztere  vorwiegend  für  die 
Wirtschaft  arbeitet;  während  die  Arbeit  im  Dienste  des  Verkehrs 
steht.  Wenngleich  nun  dieser  Unterschied  nicht  allein  für  den 
Begritr  der  Kultur,  sondern  schliesslich  auch  für  das  Menschen- 
wesen des  Arbeiters  von  einem  nicht  zu  unterschätzenden  Unter- 
schiede ist,  so  bleibt  der  naturalistische  Gesichtspunkt  dennoch 
freilich  berechtigt  und  theoretisch  begründet.  Das  Individuum  wird 
j^tzt  nicht  nur  allgemein,  wie  wir  es  früher  betrachtet  hatten, 
durch  sein  Milieu  bedingt;  sondern  es  wird  in  seiner  ganzen 
Lebenstätigkeit,  die  in  einer  unerbittlichen  Ausdehnung  sein 
ganzes  Dasein  ausfüllt,  von  Aussen  beherrscht  und  bestimmt 
Ks  drückt  sich  diese  innerste  Abhängigkeit  seines  Daseins  in  der 
Correlation  aus,  die  sich  an  seiner  Lebenstätigkeit  vollzieht:  es 
hat  nicht  sein  Bewenden  dabei,  dass  er  Arbeiter  ist;  denn  er 
kann  die  Arbeit  nicht  aus  sich  heraus  beginnen;  er  wird  zum 
Arbeitnehmer  vom  Arbeitgeber. 


294  Qu^telct. 

Diese  Correlation  trägt  den  Stempel  der  Bedingung  an  sich ; 
daher  begreift  es  sich,  dass  die  Causalität  zur  Signatur  des 
Menschen  unter  diesem  Zeichen  der  Arbeitsgesellschaft  wurde. 
Wir  haben  es  schon  betrachtet,  wie  die  Causalität  in  der  Moral- 
statistik ebensosehr  ein  wichtiges  praktisches  Hilfsmittel  wurde 
für  die  Hebung  und  Verbesserung  der  wirtschaftlichen  Verhält- 
nisse, wie  ein  theoretisches  für  die  Erforschung  der  moralischen 
Lage  in  ihnen.  Die  Causalität  hat  sich  als  eine  Macht  bewiesen 
gegen  die  gewissenlose  Willkür,  wie  gegen  die  Unwissenheit,  die 
einen  Schutz  der  Willkür  bildet.  Schlözer  hat  diesem  Begriffe 
der  Gesellschaft  den  metaphysischen  Namen  der  Metapolitik 
gegeben.  Und  er  gehört  zu  den  ersten  Statistikern.  Süssmilch, 
der  Hofprediger  unter  Friedrich  dem  Grossen,  hat  seine  Statistik 
mit  dem  Titel  der  Göttlichen  Ordnung  bezeichnet.  Das  ist 
ein  Ausdruck  ganz  im  Stile  von  Leibniz.  Süssmilch  nennt  die 
Gesetzmässigkeit,  die  er  nach  den  Kirchenlisten  an  den  Hand- 
lungen der  Menschen  zu  bestimmen  sucht,  eine  göttliche  Ordnung; 
die  Freiheit  ist  ihm  nur  gleichsam  als  die  Freiheit  Gottes  ein 
Problem,  welches  die  göttliche  Ordnung  zur  Auflösung  bringt. 
In  dieser  aber  muss  er  auch  die  Freiheit  des  Menschen  geborgen 
und  gesichert  glauben. 

Quetelet  bezeichnet  sein  Problem  als  Physique  sociale. 
Aber  die  Freiheit  wird  doch  als  eine  der  causes  accidentelles 
dabei  anerkannt.  Also  ist  der  Mensch  doch  nicht  lediglich 
Produkt,  sondern  auch  Ursache.  Der  Geist  des  Menschen  c hange 
la  culture;  und  er  gelangt  dazu,  die  statistischen  Mittelwerte  zu 
alterieren.  So  erweist  sich  die  Causalität  in  dem  statistischen 
Mittel  zwar  als  ein  wichtiger  Faktor,  zunächst  für  die  Er- 
forschung und  Erkenntniss  des  menschlichen  Schicksals,  dadurch 
zugleich  aber  auch  für  die  Verbesserung  des  Loses  der  Arbeiter 
und  der  Hebung  ihrer  Kulturlage.  Es  ist  nicht  minder  jedoch 
auch  im  Individuum  selbst  eine  Art,  ein  Rest  von  Freiheit 
anerkannt  geblieben. 

Die  Statistik  selbst,  die  sich  als  soziale  Physik  aufbaut, 
kann  des  Gedankens  der  Freiheit  nicht  entraten.  Sie  braucht 
sich  nur  auf  die  praktischen  Ziele,  von  denen  sie  ernsthaft 
geleitet  wird,  zu  besinnen,  um  darüber  ins  Klare  zu  kommen. 
Sie  will   dem  Elend   steuern,   das   unaufhaltsam  wird,   wenn  sie 


Die  Voraussetzung  für  das  Ziel  der  Moralstatistik.  295 

nicht  die  Augen  darüber  öffnet.  Sie  will  es  verhindern,  dass  nur 
das  Strafgesetz  über  die  Menschen  walte,  die  durch  das  Elend  in 
das  Verbrechen  gestürzt  werden.  Gehört  nicht  aber  auch  zu  dem 
richtigen  Ansatz  und  zur  richtigen  Leitung  dieser  Verbesserungen 
der  richtige  theoretische  Gesichtspunkt? 

Wäre  es  aber  richtig  zu  denken,  dass  es  gleichgültig  sei, 
unter  welcher  Maske  dem  Menschen  geholfen  würde,  wenn  ihm 
nur  geholfep  wird?  Ist  das  Zuckerbrot  auf  die  Dauer  ein  besserer 
Trost  und  ein  besserer  Schutz,  wenngleich  ein  angenehmerer  als 
die  Peitsche?  Und  ist  es  auch  nur  ein  Zuckerbrot,  wenn  der 
Mensch  zum  Tier,  zum  Arbeitsvieh  gerechnet  wird;  sofern  zur 
Verbesserung  der  menschlichen  Lage,  welche  die  Statistik  anzu- 
streben hat,  nicht  minder  auch  die  theoretische  Kultur  gehört; 
und  zwar  nicht  an  letzter,  sondern  an  centraler  Stelle.  Mit  der 
Magenfrage  soll  man  anfangen  dürfen;  aber  das  Centrum  muss 
von  allem  Anfang  an  die  Frage  des  Geistes  bilden;  die  Frage  der 
geistigen,  also  der  sittlichen  Freiheit. 

So  geht  selbst  aus  dem  Zweck  und  Ziel,  dem  die  Moral- 
statistik zusteuert,  die  Bedeutung  hervor,  welche  von  der  Idee 
der  Freiheit  behauptet  und  vertreten  wird.  Wäre  der  Mensch 
schlechterdings  nur  das  Produkt  der  ökonomischen  Verhältnisse, 
so  verlohnte  es  sich  streng  genommen  nicht,  für  die  Verbesserung 
seiner  Lage  anders  als  aus  einem  Gesichtspunkte  der  Philanthropie 
zu  arbeiten;  als  das  Problem  und  als  der  Weltkampf  der  Ethik 
könnte  dann  diese  Aufgabe  nicht  gelten.  Denn  wenn  die 
besseren  Verhältnisse  den  Menschen  glücklicher  machen  sollten, 
so  wäre  damit  noch  nicht  einmal  bewiesen,  dass  sie  allein  auch 
nur  sein  Wissen  und  seine  Einsicht  stärken  und  erhöhen 
könnten.  Es  möchte  zu  bezweifeln  sein,  ob  die  theoretische 
Kultur  lediglich  dadurch  gehoben  werden  könnte,  dass  die  ver- 
besserten materiellen  Verhältnisse  den  gesamten,  nicht  abge- 
brochenen Schulbesuch  allgemein  machen  und  zur  staatlichen 
Pflicht  machen  würden,  wenn  die  Voraussetzung  nicht  zur  Mit- 
wirkung käme,  die  hier  in  Frage  steht.  Und  wenn  man  selbst 
für  die  theoretische  Kultur  sich  dieses  Zweifels  entschlagen 
möchte,  so  wird  man  ihn  nicht  fallen  lassen  können  für  die 
ethische  Kultur. 


296  Marx. 

Liesse  sich  die  These  durchführen,  dass  die  besseren  öko- 
nomischen Verhältnisse  an  sich  und  ausschliesslich  die  Sittlichkeit 
des  Menschen  verbessern  könnten,  so  würde  diese  These  zugleich 
besagen,  dass  es  kein  Problem  der  Sittlichkeit  gebe.  Der  Schein 
des  Wohlverhaltens  wäre  alsdann  nur  der  Reflex  des 
Wohlbefindens.  Damit  aber  würde  nicht  bloss  die  Sittlichkeit 
zu  einer  Chimäre;  sondern  es  würde  damit  auch  dem  Rechte 
nicht  allein  seine  ethische,  sondern  auch  seine  logische  Grund- 
jage entzogen.  Die  Begriffe  der  Handlung  und  des  Rechtssubjekts 
würden  ebenso  hinfällig,  wie  der  Begriff  des  Selbstbewusstseins. 

In  dieser  Consequenz  liegt  der  Fehler  der  soge- 
nannten materialistischen  Geschichtsauffassung,  der 
soviel  Staub  aufwirbelt;  mit  dem  man  sich  gegenseitig  in  pole- 
mische Distanz  versetzt.  Besser  ist  es  hier,  über  die  Unklarheit 
der  Stichworte  hinweg  die  innere  Verständigung  zu  suchen  und 
anzustreben.  Wenn  der  Sozialismus  eines  Marx  von  seiner 
hohen  geschichtlichen  Warte  aus  die  zwingende  Macht  der 
materiellen  Verhältnisse  eindringlich  machen  will,  so  wird  er 
unversehens  zum  Satyriker.  Der  sittliche  Feuergeist  spornt  seine 
ganze  grosse  Arbeit;  die  theoretische,  wie  die  praktische.  Pe- 
dantisch ist  es,  einem  solchen  Gesandten  des  Gottes  der  Geschichte 
die  Sprüchlein  der  spirituellen  Moral  vorzuhalten;  und  ihm  zu 
bedeuten,  dass  er  die  Urkratt  des  Ich  verkannt  und  verleumdet 
habe.  Freilich  ist  es  ein  Fehler,  den  schon  Mephisto  gezeichnet 
hat:  an  Körpern  klebt  es,  die  Körper  macht  es  schön.  Aber 
wenngleich  das  Licht  doch  immer  nur  eine  besondere  Art  der 
Materie  ist,  so  muss  der  Geist  hingegen,  zumal  der  sittliche,  zwar 
in  seinem  unentrinnbaren  Zusammenhange  mit  der  Materie,  zu- 
gleich aber  auch  in  seinem  Eigenlicht  erkannt  werden.  Die 
materialistische  Geschichtsansicht  ist  ein  logischer 
Fehler;  aber  es  gibt  nichts  Verkehrteres,  als  daraus 
einen  ethischen  F'ehler  zu  machen.  Denn  damit  muss  jede 
Verständigung  unmöglich  zu  werden  drohen.  Der  Geist  des 
Rechtes  und  der  Sittlichkeit  wird  aufgerufen;  und  durch  grosse 
theoretische  Arbeit  wird  seine  Beschwörung  herbeigeführt.  Wie 
vermessen  und  wie  kleinlich  und  äusserlich  ist  es,  bei  einem 
solchen  Schauspiel  in  die  Scene  hineinzurufen:  die  Schauspieler 
seien  nicht  besoldet,  sondern  sie  spielten  aus  reinem  Vergnügen 


Produkt  und  Faktor.  297 

und  freiem  Willen.    Sie  sind  aber  chargiert.    Die  Frage  ist  nur, 
ob  sie  trotzdem  zugleich  freien  Willen  haben,  und  haben  können. 

Ein  logischer  Widerspruch  steckt  in  der  materialistischen 
Geschichtsansicht,  den  aber  der  sittliche  Geist,  der  in  dieser 
ganzen  Theorie  pulsiert,  zur  Selbstcorrektur  bringt.  Es  ist  der- 
selbe Widerspruch,  den  man  auch  in  dem  Grundworte  der  Ge- 
sellschaft, welches  diese  ganze  Bewegung  leitet,  zu  erkennen 
hat.  Es  ist,  genau  genommen,  auch  nicht  richtig,  zu  sagen,  der 
Begriff  der  Gesellschaft  trete  in  zwei  Bedeutungen  auf,  einmal 
als  Wirtschaft,  und  sodann  als  sittliche  Correktur  des  positiven 
Staatsbegriffs.  Diese  beiden  Bedeutungen  bilden  in  demselben 
Begriife  den  Widerspruch  der  materialistischen  und  der  ideali- 
stischen Geschichtsansicht.  Nach  der  einen  Bedeutung  der  Ge- 
sellschaft wird  das  Individuum  nicht  sowohl  als  ein  soziales,  als 
vielmehr  als  ein  ökonomisches  Wesen  beurteilt  und  gewertet. 
Nach  der  andern  Bedeutung  hingegen  wird  der  Mensch  im  sitt- 
lichen Sinne  als  soziales  Wesen  zum  Problem  gemacht.  Aus 
der  einen  Bedeutung  entsteht  soziale  Physik;  aus  der 
andern  soziale  Ethik. 

Wie  können  Beide  sich  vereinbaren,  so  dass  der  Widerspruch 
gehoben  wird?  Wie  kann  derselbe  Begriff  den  Menschen  einer- 
seits zu  einem  Produkt  und  Facit  machen,  und  als  solches  be- 
weisen; andererseits  aber  ihn  als  einen  Faktor  proclamieren, 
dessen  Wirksamkeit  und  Wirklichkeit  nur  unterbunden  wäre; 
dessen  Reich  aber  die  Zukunft  bilde?  Denn,  um  es  nochmals 
kurz  hervorzuheben,  dass  der  sittliche  Begriff  der  Gesellschaft 
aufgestellt  werden  dürfte,  ohne  den  eigenen  Wert  des  Indivi- 
duums und  ohne  seine  innerste  Unabhängigkeit  von  allen  mate- 
riellen Verhältnissen  als  das  eigentliche  Problem  zu  behaupten, 
das  ist  gänzlich  grundlos  und  gedankenlos.  Wer  sich  auf  die 
These  versteigt,  dass  der  Mensch  schlechterdings  das  Produkt  der 
Wirtschaft  und  des  Verkehrs  «ei,  gerade  weil  er  als  Producent 
derselben  bedingt  und  verdingt  sei,  der  hat  sich  Mephisto  ver- 
schrieben; der  hat  den  Unterschied  zwischen  der  Materie  und 
dem  Geiste  und  der  Sittlichkeit  des  Menschen  preisgegeben. 
Der  Geist  des  Menschen  ist  seine  sittliche  Freiheit.  Das 
ist  das  eigentliche  Problem  der  Ethik.  Und  darin  ist 
sie  die  Lehre  vom  Menschen. 


296  Die  Freiheit  als  Kraft. 


Das  Problem  der  Freiheit  unterscheidet  sich  daher  von 
allen  den  anderen  Problemen,  welche  in  den  bisherigen  Begriffen 
enthalten  waren.  Man  kann  sagen,  der  Begriff  des  reinen  Willens 
bilde  eine  Grundlegung,  welche  eine  Bedingung  der  Ethik  sei. 
Liesse  sich  diese  Grundlegung  nicht  durchführen,  so  würde  der 
Begriff  der  Ethik  hinfällig;  aber  man  könnte  meinen,  noch  ander- 
weit den  Begriff  des  Menschen  feststellen  zu  können.  Und  was 
das  Recht  betrifft,  dem  alsdann  auch  die  Handlung  und  das 
Subjekt  entfielen,  so  könnte  man  meinen,  auch  ohne  ethische 
Begründung  das  Recht  ausbauen  zu  können.  Hier  aber  bei  der 
Freiheit  handelt  es  sich,  so  muss  es  scheinen,  weniger  um  die 
Ethik  als  um  den  Menschen.  Welcher  Begriff  des  Menschen 
bleibt  übrig;  welches  Bild  des  Menschen  kann  man  sich 
machen,  wenn  er  durchaus  nur  geschoben  wird,  und  zu  schieben 
glaubt;  wenn  seine  Freiheit  Nichts  ist  als  ein  eitler  Wahn  und 
eine  schädliche  Illusion? 

Das  ist  die  Schwierigkeit  in  dem  Begriffe  der  Freiheit.  Es 
hat  den  Anschein,  als  ob  diesem  Problem  gar  nicht  durch  die 
allgemeine  idealistische  Methodik  genug  getan  werden  könne; 
als  ob  damit  nicht  geholfen  wäre,  wenn  die  Freiheit  als  Idee, 
also  als  Grundlegung,  als  Hypothesis  der  Ethik  nachweisbar 
würde.  Man  verlangt  mehr  von  ihr,  sie  soll  sich  als  eine  reale 
Kraft  für  den  lebendigen  Menschen  bewähren;  denn  dieser  und 
nichts  Anderes  sieht  in  Frage.  Man  sieht,  die  Freiheit  scheint 
an  der  Grenze  der  reinen  und  iler  angewandten  Ethik  zu  stehen. 
Es  genügt  nicht,  sie  als  Prinzip  zu  fassen;  sie  soll  zugleich  für 
die  Verwirklichung  des  Prinzips  die  Befugniss  und  das  Vermögen 
bedeuten.  In  dieser  gesteigerten  Bedeutung  ist  die  schwierige 
Complication  begründet,  welche  zu  allen  2^iten  das  Problem 
der  Freiheit  umgeben;  welche  ihre  Klärung  erschwert  hat. 

Die  Freiheit  wurde  nicht  als  eine  Idee  gedacht; 
sondern,  wie  alle  Ideen,  als  eine  Tatsache;  als  eine 
Kraft  und  Macht.  Den  geschichtlichen  Gegensatz  gegen  den 
Materialismus  bildet  keineswegs  der  Idealismus,  sondern  der 
Spiritualismus.  Das  macht  eben  den  Streit  um  die  materialistische 
Geschichtsauffassung  so  peinlich,  dass  der  Materie  nicht  die  Idee, 
es  sei  denn  im  Worte,  entgegengehalten  wird;  sondern  in  der 
Idee  ein  materiell,  wenn  auch,  wie  Kant  sagte,  überfein  gedachter 


Die  Antinomie.  299 

Geist.  Als  ein  solcher  Spiritus  wird  auch  die  Freiheit  gedacht; 
wie  denn  Spirits  auch  bei  erleuchteten  Geistern  sogar  in  den 
causalen  Mechanismus  sich  einschleichen.  Dieser  Seelengeist 
der  Freiheit  hat  das  Problem  der  Freiheit  offen  oder  versteckt 
beherrscht;  und  er  hat  es  verschuldet,  dass  es  nicht  zur  Ruhe 
und  nicht  zur  Lösung  kommen  konnte.  Diesem  freien  Seelen- 
geiste tritt  entgegen  die  Idee  der  Freiheit,  wie  Kant  sie  auf- 
gestellt und  aufgerichtet  hat. 

Kant  hatte  die  Freiheit  als  Idee,  als  transscendentale  Idee 
schon  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ausgezeichnet;  ihre  Be- 
gründung und  Darstellung  aber  haben  erst  die  Grundlegung  zur 
Metaphysik  der  Sitten  und  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
gebracht.  Man  kann  hier  an  diesem  centralen  Punkte  in  die 
innerste  Werkstatt  der  kritischen  Arbeit  hineinschauen.  Die 
Entwickelung,  welche  die  Formulierung  des  Problems  in  den 
späteren  Schriften  der  Ethik  genommen  hat,  ist  nicht  in  der 
geraden  Linie  erfolgt,  welche  die  theoretische  Kritik  vorgezeichnet 
hatte.  In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  steht  Kant  im  Banne 
der  alten  Metaphysik.  Nach  ihr  ist  der  Antinomie  nicht  aus- 
zuweichen: entweder  Freiheit,  oder  causale  Notwendigkeil.  Wird 
die  causale  Notwendigkeit  als  das  allgemeine  Naturgesetz  aner- 
kannt, so  kann  es  keinen  Spielraum  für  die  Freiheit  geben. 
Wird  die  Freiheit  anerkannt,  so  ist  das  Causalgesetz  als  Natur- 
gesetz verdächtig.  Und  der  Wunderglaube  zeigt  genugsam, 
dass  die  Freiheit  nicht  die  einzige  Bresche  bleibt,  die  in  das 
Naturgesetz  geschossen  wird. 

Kant  hat  diese  Antinomie  der  alten  Metaphysik  aufgelöst. 
Er  macht  hier  seine  Unterscheidung  wirksam  zwischen  der  Er- 
scheinung und  dem  Ding  an  sich.  Wir  haben  schon  in  der 
Logik  der  reinen  Erkenntniss  es  erwogen,  welche  grosse  Schwierig- 
keit durch  den  Begriff  des  Ding  an  sich  in  dem  Systeme  Kants 
stecken  geblieben  ist.  Er  hat  es  nicht  ins  Klare  gebracht,  worauf- 
hin doch  seine  ganze  Terminologie  abzielt:  dass  das  Ding  an 
sich  gleich  sei  der  Idee,  welche  gleich  ist  dem  Prinzip 
des  Zwecks.  Wenn  daher  nach  Kants  Auflösung  der  Antinomie 
die  Notwendigkeit  auf  die  Erscheinungen  sich  beziehe,  so  bezieht 
sie  sich  in  diesen  auf  die  verbürgten  Gegenstande  der  Erfahrung 
und  der  Wissenschaft.     Und  wenn  dagegen   die  Freiheit  auf  das 


300  Der  Charakter. 


Ding  an  sich  zu  beziehen  sei,  so  bezieht  sie  sich  nicht  auf  Dinge, 
noch  an  sich  auf  Personen,  sondern  lediglich  als  eine  Idee,  also 
als  ein  Zweckprinzip  auf  ein  Problem,  zu  dessen  Behandlung  sie 
als  die  zweckmässige  methodische  Idee  zu  erkennen  und  zu 
behaupten  sei.  Einen  andern  Sinn  kann  und  darf  diese  Unter- 
scheidung zwischen  der  Erscheinung  und  dem  Ding  an  sich, 
diese  Auflösung  der  Antinomie  nicht  haben. 

Nun  ist  aber  eine  neue  Schwierigkeit  dadurch  in  die  Ter- 
minologie Kants  bei  dieser  Frage  gekommen,  dass  es  sich  doch 
eben  hier  nicht  allein  um  eine  Grundfrage  der  Ethik  handelt, 
sondern  zugleich  um  eine  Frage  der  rationalen  Psychologie, 
welche  man  wie  eine  Vorfrage  der  Ethik  ansehen  kann.  In  der 
rationalen  Psychologie  hat  Kant  das  absolute  Ich  als  die  Fehl- 
geburt eines  Paralogismus  entlarvt  Um  so  sicherer  fühlte  er 
sich  gegen  den  Verdacht,  als  ob  er  bei  der  Freiheit  ein  solches 
Absolutum  einlassen  könnte.  Aber  die  Terminologie  nährte 
dieses  Misstrauen.  Es  handelt  sich  um  die  Frage  des  Gesetzes. 
Die  Freiheit  soll  keinen  Widerspruch  zum  Gesetze  bilden  dürfen. 
Das  Gesetz  soll  in  zwei  Richtungen  formuliert  werden:  als  das 
Gesetz  der  Vorgänge,  und  als  das  Gesetz  der  Handlungen;  als  das 
Gesetz  der  Naturnotwendigkeit,  und  als  das  Gesetz  der  Freiheit. 
Kant  braucht  nun  aber  für  den  Ausdruck  des  Gesetzes  den  Aus- 
druck des  Charakters;  offenbar  nicht  ohne  daran  zu  denken, 
dass  damit  der  herrschenden  Auffassung  von  dem  freien  Ich  Vor- 
schub geleistet  wird.  Er  gebraucht  zwar  auch  den  Ausdruck  des 
Charakters  für  das  Gesetz  überhaupt;  aber  für  das  Naturgesetz 
scheint  dieser  Ausdruck  absonderlich;  gemünzt  muss  er  auf  das 
ethische  Gesetz  sein.  Damit  aber  ist  eine  grosse  Schwierigkeit 
über  das  ganze  Problem  gekommen. 

Denn  der  Charakter,  als  ein  angeborener,  ererbter  Grund 
des  menschlichen  Wesens,  bildet  wahrlich  kein  geringeres 
Hemmniss  für  die  idealistische  Ethik,  wie  das  absolute  Ich  der 
rationalen  Psychologie.  Der  Charakter  bildet  das  unseligste  Vor- 
urteil, welches  die  Paedagogik  hemmt,  und  die  Strafrechts- 
pflege scheinheilig  macht;  und  auch  die  Poesie  in  das  schlüpf- 
rigste Fahrwasser  bringt.  Der  Charakter  ist  das  Widerspiel  der- 
jenigen Freiheit,  welche  die  Ethik  meint.  Wie  man  im  Mittel- 
alter  den  Wahnsinnigen   für  besessen  hielt,   oder  den  Kropf  für 


Die  Idee  als  Zweck.  901 

den  Sitz  eines  bösen  Dämons  ansah,  einen  solchen  Aberglauben 
bildet  auch  der  Charakter.  Die  Freiheit  darf  nicht  mit  dem 
Charakter  in  Verbindung  gebracht  werden.  Hier  zeigt 
sich  die  ungünstige  Nachwirkung  der  mangelhaften  Klärung  des 
Ding  an  sich.  Im  Charakter  war  der  homo  noumenon  doch 
in  einer  gewissen  Dinglichkeit  festgehalten.  Und  jetzt  hilft  es 
Nichts,  wenn  noch  so  scharf  und  eindringlich  der  Unterschied 
festgestellt  wird  zwischen  dem  empirischen  Charakter  und  dem 
intelligibeln  Charakter. 

Kant  hat  mit  der  denkbarsten  Deutlichkeit  und  schärfsten 
Nachdrücklichkeit  es  ausgesprochen,  dass  der  empirische 
Charakter  unfrei  sei;  also  eigentlich  des  Namens  des  Charakters 
verlustig  gehe;  dass  er  dem  Causalgesetz  unterworfen  sei.  Er 
hat  es  rundweg  ausgesprochen,  dass  der  empirische  Charakter, 
wenn  er  erkennbar  würde  im  Regress  der  Ursachen  und 
Wirkungen,  sich  alsdann  ebenso  berechnen  lassen  müsste,  wie 
eine  Mond-  oder  Sonnenfinsterniss.  Es  hat  doch  Alles  dies  nicht 
ausgereicht,  um  seine  Freiheitslehre  klarzustellen  und  fruchtbar 
zu  machen.  Denn  der  intelligible  Charakter  stand  wie 
ein  Widerruf  im  Hintergrunde. 

Man  beachtete  nicht;  man  erkannte  es  nicht,  dass  dieser 
nicht  ein  Ding  an  sich  bedeuten  dürfe;  dass  er  nur,  wie  dieses 
selbst,  wie  das  Noumenon  überhaupt,  eine  Idee  zu  bedeuten 
habe,  die  kein  Dasein,  sondern  nur  ein  Sein  hat,  insofern  sie 
einen  Zweck  verwaltet.  Diese  Unterscheidung,  diese  alleinige 
Bedeutung  der  Idee  trat  zurück  gegen  das  Gespenst,  als  welches 
der  intelligible  Charakter  wieder  heraufzutauchen  schien.  Man 
hat  es  ja  bei  Schopenhauer  genugsam  erlebt,  wie  die  alte 
Metaphysik  an  diesen  Missverstand  sich  anklammerte.  Dieser 
falsche,  dieser  gefälschte  Charakter  wurde  als  der  Grund  des 
menschlichen  Wesens  ausgegeben;  wie  der  Wille  überhaupt  zum 
Weltengrunde  gemacht  wurde.  Dass  der  intelligible  Charakter 
zum  mindesten  selbst  auch  intelligent  sein  müsse,  das  übersah 
man,  indem  man  den  Willen,  als  den  Charakter  und  als  das 
Ding  an  sich,  dem  Intellekt  entgegenstellte.  Doch  diese  Weisheit 
sollte  ja  eben  die  originale  sein. 

Ganz  andere  Wege  geht  Kant  in  der  Behandlung  der  Frei- 
heit  in  seinen   ethischen  Schriften.    Auch   hier   spricht   er  sich 


'3ü'2  IHe  Autonomie. 

nicht  Kfin^lich  frei  und  unabhängig  von  den  früheren  Erörterungen 
aus,  die  doch  in  der  Rücksicht  auf  die  alte  Metaphysik  sich 
)}ewegt  hatten;  obwohl  er  eigentlich  von  diesem  Zusammen- 
hange sich  al)gelust  hat.  Der  Beweis  für  diese  Aldosung  liegt 
in  dem  entscheidenden  Umstände,  dass  er  für  die  Freiheit 
nunmehr  einen  andern  Namen  einsetzt,  nämlich  den  der 
Autonomie.  Aber  auch  «lamit  kann  die  Schwierigkeit  nicht 
ganz  gehol>en  sein;  so  müssen  wir  la*fürchten:  denn  er  spricht 
es  nicht  aus:  dass  die  Autonomie,  als  ein  neuer  He* 
griff,  an  die  Stelle  der  Freiheit  trete,  als  des  BegrilK 
der  alten  Metaphysik. 

Diese  Fordenmg  ist  nicht  etwa  eine  äusserliche;  denn  es 
handelt  sich  lH*i  der  Autonomie  in  der  Tat  um  ein  anderes 
Problem,  um  eine  andere  Stellung  der  Frage.  Hei  der  Freiheit 
handelt  es  sich  um  den  Ursprung  der  Handlung;  dieser  miII 
einen  absoluten  Anfang  der  Handlung  luHieuten,  der  jc*<le  andere 
Art  von  Ursache  ausschüessl.  Hin  solcher  absoluter  Anfang  drr 
Handlung  kann  nur  gedacht  werden  im  Zusammenhange  mit  dem 
absoluten  Ich  der  handelnden  Person.  Das  ist  das  Problem  diT 
alten  Metaphysik;  das  Problem  ist  daher  nicht  in  erster  Linie  tias 
<ier  Absolulheit  der  Handhing,  sonden  der  Person. 

Hei  der  Aiitfmomie  dagegen  handelt  es  sich  um  den  Ur- 
sprung des  (ir  setz  es.  Das  (irsct/  erst  macht  die  Handluti;; 
/ur  Handlung:  nicht  tlie  Pervm,  nicht  das  Ich.  Damit  ist  auch 
das  Interesse*  am  Problem  geändert  Ks  han^t  nicht  mehr  an  dein 
undurchdringlichen  Dunkel  eines  freien  Anfangs  der  Handlun,;. 
sondern  es  wird  gerichtet  auf  «iie  (trund traue  aller  ectilen  \VisM*n- 
schafi,  auf  die  Fra^e  des  (ies4*t7es  Und  ^^enn  die  Möglichkeit 
der  Klhik,  wie  Kant  ilies  \ornehinlich  leststrllt,  aiil  der  .Möglich- 
keit des  SiltengCM'l/es  iHTuht.  so  >%ird  dies  \on  jet/t  ab  /ur 
Fra^e  ^^elche  lk*deutunK  die  Freiheit  annimmt  aus  dem  nun* 
mehr  gewonnenen  Ueniruin  des  Iies4*t/es  So  entsteht  aus  dem 
Itt'^riMe  der  allgemeinen  (ieset/^ebung  ilie  .Sei  bstgesel/- 
^e billig,  die  Auton<Miiie. 

Dievn  Ziisjimineiihaii;;  /%%isclien  dem  ersten  rirundlN-i^itlle 
des  (icNet/es  und  dem  /weiten  der  Autonomie  miiss  man  sich 
klarniaclieti.  um  /ti  ei  kennen,  dass  Kant  jenes  millelallei  luhe 
Intet es>e  an  «ler   l**ieilieit  eile«h;^t  und  \on  sieh  abKesehiiltell  hat 


Der  Endzweck  als  Selbstzweck.  903 

Gewöhnlich  aber  nimmt  man  den  kategorischen  Imperativ 
nur  in  der  ersten  Bedeutung,  des  Gesetzes  im  Unterschiede  von 
der  Maxime;  die  anderen  Fassungen  aber,  welche  die  Grund- 
legung zur  Metaphysik  der  Sitten  in  herrlicher  Klarheit  entwickelt, 
hat  man  dem  Bewusstsein  der  allgemeinen  Bildung  entzogen. 
Sie  declarieren  die  Idee  der  Menschheit  und  die  poli- 
tische Idee  des  Sozialismus.  Das  sind  zwei  Ideen,  für  welche 
nur  noch  Fichte  Sinn  und  Herz  hatte. 

Und  doch  hatte  Kant  diese  beiden  Ideen  in  einen  engen 
begrifflichen  Zusammenhang  gebracht,  durch  welchen  eine 
jede  von  ihnen  in  strenger  systematischer  Terminologie  begründet 
ist.  Die  Idee  der  Menschheit  bedeutet  den  Zweckvorzug  der 
Menschheit.  Der  Zweckbegriff,  den  jede  Idee  für  ein  bestimmtes 
Problem  zu  vertreten  hat,  kommt  hier  zu  inhaltlicher  Anwendung. 
Die  Menschheit  wird  durch  den  Zweck  bestimmt;  nicht  etwa 
nur,  um  irgend  eine  Frage  für  die  Behandlung  zu  klären,  und 
zu  einer  begrifflichen  Lösung  zu  bringen;  sondern  um  ihr  in  dem 
Zwecke  ihren  inhaltlichen  Begriff  zu  geben.  Es  gibt  keinen  ge- 
naueren Inhalt  für  den  Begriff  der  Menschheit  als  den  des 
Zwecks.  Der  Zweck  ist  daher  der  Zweckvorzug  der  Menschheit. 
Alle  Dinge  sind  ebenso  auch  Mittel,  wie  sie  Zweck  sein  können. 
Der  Mensch  dagegen  darf  nur  so  weit  Mittel  sein,  als  er  zugleich 
Zweck  bleibt.  Daher  ist  er  Zweck  an  sich  selbst.  Kant  hat 
dafür  auch  den  Ausdruck  Endzweck  gebraucht,  der  wiederum 
wegen  seines  theologischen  Anklangs  in  seiner  politischen  Pointe 
nicht  aufgefasst  worden  sein  mag.  Indessen  hat  es  Kant 
doch  sicherlich  hier  nicht  an  aggressiver  Deutlichkeit  fehlen 
lassen,  wie  dies  in  der  dritten  Fassung  des  kategorischen  Impe- 
rativs für  die  Idee  des  Sozialismus  unverkennbar  hätte  werden 
müssen. 

Der  Idee  der  Menschheit  gegenüber  bezieht  sich  die  Idee 
der  Gesellschaft,  die  Idee  des  Sozialismus  auf  das  Einzelwesen 
des  Menschen;  und  an  ihm  erst  wird  der  Begriff  des  Menschen 
vollendet.  Der  Begriff  des  Endzwecks  wird  jetzt  klar- 
gestellt als  der  Begriff  des  Selbstzwecks.  „Handle  so,  dass 
Du  Deine  Person,  wie  die  Person  eines  jeden  Andern  jederzeit 
zugleich  als  Zweck,  niemals  bloss  als  Mittel  brauchst.''  In  diesen 
Worten   ist  der  tiefste  und   mächtigste  Sinn  des  kategorischen 


801  £>cr  neae  Sinn  der  Freiheit. 

Imperativs  ausgesprochen;  sie  enthalten  das  sittliche  Pro- 
gramm der  neuen  Zeit  und  aller  Zukunft  der  Welt- 
geschichte. 

Sie  decken  die  Hohlheit  auf,  welche  die  seitherige  Kultur 
mit  dem  Begriffe  des  Menschen  verbindet,  der  immer  nur,  wie 
es  die  antike  Naivetat  des  Aristoteles  bezeichnet  hat,  als  Werk- 
zeug behandelt  wurde,  für  das  Abstraktum  der  Kultur,  welches 
man  jenem  Mittel  zum  Zweck  setzte.  Dass  der  Zweck  concreter 
und  lebendiger  und  persönlicher  in  jeglichem  Menschenantlitze 
bewährt  und  verwirklicht  werden  müsse,  das  wird  durch  das  Abs- 
traktum der  Kultur  verschleiert.  Jene  ewigen  Worte  aber  zerreissen 
diesen  Schleier,  indem  sie  die  Person  von  Jedermann  zum  Zwecke 
an  sich  selbst,  zum  Endzweck,  zum  Selbstzweck  machen.  So 
geht  das  allgemeine  Gesetz  über  in  den  Endzweck  jedes  einzelnen 
Menschen,  als  Selbstzweck. 

Das  ist  der  neue  Sinn  der  Freiheit.  Nicht  darum 
allein  dreht  sich  das  Interesse  an  dem  Begriffe  der  Handlung, 
ob  sie  in  dem  Handelnden  einen  absolut  anfangenden  Urheber 
hat;  das  ist  die  metaphysische  Frage,  die  Buridans  Esel  beant- 
worten mag.  Aber  dafür  schlägt  dem  modernen  Menschen  das 
Herz,  ob  die  Handlung  einen  absoluten  Zweck  hat;  einen 
Zweck,  für  welchen  der  Mensch  nicht  nur  als  Mittel  und  Werk- 
zeug sich  aufreibt;  sondern  in  welchem  er,  als  Mensch,  Selbst- 
zweck bleibt;  denn  der  Begriff  des  Menschen  besteht  letztlich  in 
dem  Zweckvorzug  des  Menschen.  Kein  Zweck  darf  als  sittlich 
gelten,  für  den  der  Mensch,  der  eine  wie  jeder  andere,  nur  als 
Werkzeug  zu  arbeiten  hätte;  in  dem  er  nicht  vielmehr  den 
Zweck  seines  eigenen  Daseins,  seines  eigenen  Begriffs  vollzöge: 
in  dem  er  nicht  als  Endzweck  fungierte.  Die  Idee  des  Zweck- 
vorzugs der  Menschheit  wird  dadurch  zur  Idee  des 
Sozialismus,  dass  jeder  Mensch  als  Endweck,  als  Selbst- 
zweck definiert  wird. 

Wir  erkennen  so  die  neue  grosse  Bedeutung,  welche  nicht 
eigentlich  durch  den  neuen  Begriff  der  Autonomie,  sondern  durch 
die  Fassungen  des  kategorischen  Imperativs  das  Problem  der 
Freiheit  erhalten  hat.  Aber  es  ist  noch  die  methodische  Wendung 
dabei  zu  beachten,  welche  hierdurch  entstanden  ist.  Indem 
das  Problem   von   den   Gesetzen   abgelenkt   worden   ist  auf  den 


Der  Marktpreis  und  die  Person.  805 

Zweck,  so  ist  es  dadurch  abgelenkt  worden  von  dem  ganzen 
Interesse  an  der  Causalitat,  welche  den  Widerpart  zur  Freiheit 
bildete.  Jetzt  zeigt  es  sich,  dass  es  sich  gar  nicht  mehr 
um  Ursache  und  Wirkung  handelt,  sondern  vielmehr 
um  Mittel  und  Zweck. 

Es  kommt  also  eigentlich  so  heraus,  dass  alle  bisherige 
Behandlung  des  Problems  der  Freiheit  in  einer  falschen  Frage- 
stellung befangen  war.  Man  fragte  nach  einer  ersteh  Ursache; 
und  musste  Anstoss  daran  nehmen,  dass  diese  doch  immer  nur 
eine  letzte  Wirkung  sein  könne.  Man  soll  aber  gar  nicht  nach 
einer  Ursache  fragen,  also  auch  nicht  nach  einer  ersten;  man 
soll  auf  die  Correlation  von  Mittel  und  Zweck  das  Interesse 
richten.  Dann  wird  man  erkennen,  dass  es  sich  nicht  um  eine 
erste  Ursache,  sondern  um  den  letzten  Zweck  handelt.  Nicht  die 
Wirkung,  welche  Ursache  sei,  ist  auszuschliessen,  sondern  das 
Mittel,  welches  als  blosses,  also  als  absolutes  Mittel  entlarvt 
wird.  So  wird  die  Freiheit  umgedeutet  und  umgebildet 
in  den  Endzweck  und  Selbstzweck. 

Durch  diese  Methodik,  in  welcher  der  neue  Inhalt  ent- 
wickelt wurde,  lässt  es  sich  eigentlich  noch  deutlicher  als  durch 
den  grossen  Inhalt  selbst  erkennen,  dass  das  Problem  bei  Kant 
ein  neues  geworden  ist.  Durch  den  Selbstzweck  ist  der 
Begriff  der  Person  begründet  worden.  Das  absolute  Mittel 
erzeugt  die  Sache.  Die  Sache  hat  Wert,  das  ist  Marktpreis;  denn 
der  Wert  ist  der  Wert  des  Verkehrs.  Die  Person  hat  keinen 
Wert;  sie  hat  Würde.  Verträgt  sich  mit  der  Würde  der 
Marktpreis  des  Arbeitswertes?  Das  wird  die  grosse  Frage 
der  modernen  Politik  und  demgemäss  der  modernen  Ethik.  Erst 
später  werden  wir  in  die  eigene  Behandlung  dieser  Frage  ein-^ 
treten.  Hier  war  dies  nur  als  der  letzte  Sinn  auszusprechen,  den 
Kant  seiner  Wendung  des  Problems  gegeben  hat. 

Wenn  nun  aber  gesagt  worden  war,  dass  Kant  nicht  aus- 
drücklich an  die  Stelle  der  Freiheit  die  Autonomie  gesetzt  habe, 
so  kann  wohl  die  Frage  entstehen,  ob  er  nicht  dies  nur  deshalb 
unterlassen  hat,  weil  ihm  die  klare  Ueberschau  über  die  durch- 
greifende Veränderung  gefehlt  habe,  die  er  vollführt  hat.  Indessen 
ist  doch  noch  eine  andere  Ansicht  dabei  möglich;  und  ihre  Er- 
wägung   ist   notwendig.      In    der  Tat   ist   selbst    durch    diesen 

20 


806  Die  Freiheit  darcli  die  Autonomie  nicht  erledigt 

höchsten  Wert  der  Autonomie,  welcher  dieselbe  in  Autoteile  ver- 
wandelt, das  Interesse  an  der  Freiheit  nicht  ganzlich  erledigt. 
Auch  in  der  Autonomie  hat  Kant  selbst  andere  Fragen  mit  be- 
rücksichtigt, welche  in  dem  Problem  der  Freiheit  enthalten  sind. 
Wir  werden  daher  nicht  allein,  wie  bisher,  den  l  nterschied  von 
Autonomie  und  Freiheit,  sondern  auch  den  Zusammenhang  Beider 
festzuhalten  und  zu  verfolgen  haben. 


Siebentes  Kapitel. 

Die  Autonomie  des  Selbstbewusstseins. 


Der  Begriff  der  Autonomie,  den  Kant  zum  Mittelpunkte  seiner 
Ethik  gemacht  hat,  ist  ein  alter  Terminus,  der  in  seiner  langen 
Geschichte  nicht  ohne  Bedeutungswechsel  geblieben  ist.  Bei 
Herodot  bedeutete  er  die  Unabhängigkeit;  im  Römischen  Staats- 
rechte die  Freiheit  der  Republik  im  Gegensatze  zur  Monarchie. 
In  der  neuern  Zeit  wird  er  seit  Herbert  von  Cherbury  auch 
für  die  religiöse  Freiheit  verwendet,  und  zwar  für  die  des  reli- 
giösen Bewusstseins.  Endlich  wird  er  wieder  ein  Begriff  des 
Staatsrechts,  indem  er  gleichbedeutend  wird  mit  dem  Begriffe  der 
Souveränität.  So  enthält  dieser  Begriff  eine  grosse  Vieldeutigkeit; 
und  es  könnte  scheinen,  als  ob  er  sonach  als  ein  Grundbegriff 
der  Ethik  sich  schlecht  empfehle;  wenngleich  in  allen  diesen 
Bedeutungen  Beziehungen  zur  Sittlichkeit  nicht  zu  verkennen 
sind.  Die  Nuancen  des  Begriffs  bilden  jedoch  Abschattungen, 
welche  das  Licht  zerstreuen,  das  von  einem  centralen  Begriffe 
ausgehen  muss. 

Indessen  enthält  dieses  griechische  Wort  in  seinen  beiden 
Bestandteilen  eine  methodische  Urkraft,  wie  sie  bei  den  Worten 
dieser  Sprache  nicht  selten  ist.  Der  zweite  Teil  des  Wortes  ent- 
hält den  Begriff  des  Gesetzes,  an  dem,  wie  wir  sahen,  der  ganze 
reine  Wille  hängt.  Der  erste  Teil  aber  enthält  das  Grundwort 
des  Selbst.  Und  schon  dieser  Bestandteil  macht  das  Wort  unent- 
behrlich und  unersetzlich.  Dieses  Wortes  bediente  sich  Plato 
überall,    um    das  Wesen   der  Idee   herauszukehren.    Es   ist   das 

2Ü* 


a08  Gesetz  und  Selbst 


unfehlbare  Mittel,  den  Weg  zu  bezeichnen,  den  die  Hypothesis. 
zu  beschreiten  hat.  Mit  diesem  Grundworte  der  classischen 
Antike  hat  sich  das  Grundwort  der  neuern  Zeit  und  der  neuem 
Philosophie  verbunden  und  vermählt,  so  dass  das  Bewusstsein 
zum  Selbstbewusstsein  wurde.  Das  Selbst  ist  im  neuern 
Sprachgebrauche  das  Selbstbewusstsein. 

Das  Selbstbewusstsein  bedeutet  nun  aber  in  diesem  Ge- 
brauche mehr  das  Bewusstsein,  welches  von  dem  Selbst  ausgeht; 
oder  im  besten  Falle,  welches  aus  dem  Bewusstsein  resultiert. 
Aber  das  ist  ein  psychologisches  Problem,  für  welches  die  Ein- 
heit des  Bewusstseins  einzutreten  und  einzustehen  hat.  Hier  aber 
handelt  es  sich  um  die  ethische  Bedeutung,  für  welche  wir  den 
Terminus  des  Selbstbewusstseins  auszeichnen;  um  das  Selbst- 
bewusstsein des  reinen  Willens.  In  diesem  aber  ist  das  Selbst 
weder  Ursache,  noch  resultierende  Wirkung;  sondern  Aufgabe. 
Und  nun  treten  die  beiden  Aufgaben  zusammen:  die  Aufgabe  des 
Selbst  und  die  Aufgabe  des  Gesetzes.  Es  wird  daraus  die 
Eine  Aufgabe  des  Selbst  aus  dem  Gesichtspunkte  des 
Gesetzes. 

Es  kann  vor  Allem  darüber  kein  Zweifel  auftauchen,  dass 
diese  Verbindung  des  Gesetzes  und  des  Selbst  unmittelbar  dem 
Willen  zu  Statten  kommen  muss;  denn  das  Selbst  ist  nichts 
Anderes  als  das  Selbst  des  Willens;  und  das  Gesetz  nichts  Anderes 
als  das  Gesetz  des  Willens;  das  Gesetz,  kraft  dessen  der  Wille 
seinem  Begriffe  gerecht  wird.  Diese  Wendung  auf  den  Willen 
ist  auch  schon  in  dem  griechischen  Worte  enthalten;  denn 
ai>Tovo(i{a  würde  als  Selbstgesetzheit  wörtlich  zu  übersetzen  sein. 
Diese  Wendung  ins  Abstrakte  und  Allgemeine  wird  durch  unsern 
Ausdruck  der  Gesetzgebung  bezeichnet,  den  auch  Kant  nach 
der  Nuance  seines  Unterschiedes  von  dem  allgemeinen  Gesetze 
gefühlt  und  hervorgehoben  hat.  Wenn  daher  Gesetz  und  Selbst 
sich  verbinden,  so  müssen  sie  in  der  Richtung  auf  die 
Gesetzgebung  sich  verbinden.  Das  Selbst  kann  sich  nur  da- 
durch am  Gesetze  als  Aufgabe  bewähren,  dass  es  sich  nicht 
etwa  in  ein  Gesetz  versteinert;  sondern  vielmehr  in  der 
Tätigkeit,  in  der  Handlung  der  Gesetzgebung  sich  lebendig 
macht  und  verwirklicht.  Die  Autonomie  des  Selbstbewusstseins 
bedeutet  daher: 


Heteronomie  als  Pathologie.  309 

1.  Die  Selbstgesetzgebung. 

Die  Autonomie  tritt  so  zunächst  in  Gegensatz  zur  Hetero- 
nomie. Und  fremd  wird  ihr  Alles,  was  nicht  der  Aufgabe  des 
Selbst  dient,  und  unzweifelhaft  dieser  förderlich  ist  Als  Hetero- 
nomie gibt  sich  daher  vor  Allem  die  Sinnlichkeit  zu  erkennen, 
sofern  sie  als  eine  ursprüngliche  und  schöpferische  Competenz 
des  wissenschaftlichen  Bewusstseins  angenommen  wird.  Das 
kann  sie  nicht  sein;  denn  sie  steht  in  Abhängigkeit  von  den 
äusseren  Dingen,  auf  deren  Dasein  und  deren  Reize  sie  sich 
beruft.    Sie  kann  es  aber  auch  für  den  Willen  nicht  sein;   denn 

• 

ihre  Kraft  bleibt  im  Triebe  und  in  der  Begierde  stecken;  die, 
wie  sehr  sie  urwüchsig  entspringen  mögen,  dennoch  aber  auf  ein 
äusseres  Objekt  übergehen  und  dadurch  dem  Selbst  entweichen. 
Daher  hat  Plato  in  der  Vernunft  das  Selbst  begründet.  Und 
Kant  ist  hier  wiederum  der  Erneuerer  Piatons,  indem  er  alle 
Beweggründe  der  Begehrung  als  pathologische  Motive  von 
den  moralischen  Bestimmungsgründen  des  reinen  Willens  unter- 
schied.   Die  Heteronomie  ist  Pathologie. 

Nicht  dass  die  heteronomen  sinnlichen  Motive  als  krank- 
hafte dadurch  bezeichnet  werden  sollten;  es  liegt  in  dem  Worte 
vielmehr  hier  die  Hervorhebung  des  Pathos,  als  des  bloss 
psychologischen  Vorgangs,  im  Unterschiede  von  seinem  ethischen 
Werte.  So  wollen  wir  wenigstens  den  Unterschied  uns  zu  eigen 
machen.  Alle  nur  psychologischen  Beweggründe,  und  wenn  sie, 
als  solche,  noch  so  normal  sind,  sind  im  ethischen  Sinne  als 
Afiekte  zu  erkennen.  Der  Affekt  bildet  ein  Element  des  Willens; 
aber  er  ist  nicht  der  Wille.  Die  Gesetzlichkeit,  welche  psycho- 
logisch dem  Affekte  zusteht,  darf  in  keiner  Weise  verwechselt 
werden  mit  dem  Gesetze  des  Selbst. 

So  vertritt  die  Vernunft,  als  das  reine  Denken,  dieser 
Heteronomie  der  Sinnlichkeit  gegenüber  das  Prinzip  des  Selbst. 
Und  so  tritt  der  Rationalismus  dem  Sensualismus  gegenüber,  als 
dem  Standpunkte  des  Egoismus.  Die  Selbstgesetzgebung 
wird  der  Widerspruch  zur  Selbstsucht.  Die  Selbstsucht 
ist  der  Affekt,  den  wir  hier  nicht  von  der  Leidenschaft  zu  unter- 
scheiden brauchen;  sie  ist  der  scheinbar  unaufhaltsame  sinnliche 
Trieb.    Aber  es  leben  zwei  Seelen   in  dem  Ich.    Es  ist  nur  die 


310  Das  Grundgesetz  der  Wahrheit. 

eine,  welche  das  Ich  in  der  Oede  der  Isolierung  sucht;  die  andere 
sucht  das  Wir.  Und  indem  sie  diese  Richtung  nimmt,  steuert 
sie  auf  das  Gesetz;  auf  das  Gesetz  des  Selbst.  Das  Gesetz  liegt 
jenseit  dieser  einsamen  Oede  des  isolierten  Ich.  Indem  aber  das 
Gesetz  vom  Egoismus  befreit,  gibt  sich  die  Vernunft  als  die  Be- 
freierin zu  erkennen;  und  der  besiegte  Faktor  ist  der  psycho- 
logische BegrilT  der  selbständigen  Sinnlichkeit.  So  liegt  die 
Heteronomie  in  der  psychologischen  Ansicht  von  der 
selbständigen  Kraft  der  Sinnlichkeit,  den  Willen  im 
Sinne  der  Sittlichkeit  zu  bilden  und  auszurüsten.  Dieser 
falsche  BegrilT,  dieser  Uebergriff  eines  angeblichen  psychologischen 
Gesetzes  ist  es,  in  dem  die  Heteronomie  liegt. 

Wir  wissen,  die  Sinnlichkeit  hat  doppelte  Bedeutung,  und 
erhebt  doppelten  Anspruch:  in  theoretischer  und  praktischer 
Hinsicht.  Und  in  Beiden  ist  es  der  falsche,  der  unreife  und  der 
verkehrte  Begriff  der  Natur,  den  sie  vorhält.  Zunächst  denkt 
man,  wie  wir  soeben  es  betrachteten,  an  die  Sinnlichkeit  der 
Begierde.  Mit  ihr  aber  hängt  die  Stimmung  zusammen,  das 
Gefühl,  wie  es  irrtümlich  als  ein  selbständiger  Akt  genommen 
wird.  Alle  diese  Momente  der  Sinnlichkeit  sind  solche  der  Will- 
kür und  der  wechselnden  Pläne;  sie  können  es  nicht  zu  der  Ein- 
förmigkeit und  Sicherheit  einer  Richtschnur  und  eines  Gesetzes 
bringen.  Autonomie,  Selbstgesetzgebung  kann  nur  der  Begriff 
der  Vernunft  vertreten  und  verbürgen;  der  daher  so  der  Logik, 
wie  der  Ethik,  entnommen  werden  muss;  und  erst  von  beiden 
Instanzen  aus  der  Psychologie  zugeführt  werden  kann. 

So  ist  es  also  das  Vertrauen  auf  die  Vernunft,  auf  das  reine 
Denken,  worauf  die  Selbstgesetzgebung  beruht.  Und  es  ist  vor 
Allem  die  Annahme  des  Grundgesetzes  der  Wahrheit,  in 
dem  sie  ihre  Wurzel  hat.  Wahrheit  bedeutet,  wie  \sir 
wissen,  die  Uebereinstimmung  von  Logik  und  Ethik  in 
den  methodischen  Grundlagen.  So  ist  vor  Allem  als 
Heteronomie  zu  erkennen  das  Misstrauen  gegen  die  theoretische 
Vernunft,  als  wäre  sie  Uebermut  und  Aberwitz;  als  könnte  sie 
mit  ihren  Grundlegungen,  die  als  willkürliche  Vermutungen  ver- 
dächtigt werden,  wahres  Sein  nicht  feststellen;  und  deshalb  um 
soviel  weniger  sittliche  Wahrheit  verbürgen.  Darum  lassen  wir 
das  Grundgesetz  der  Wahrheit  voraufgehen.   Wir  können  es  jetzt 


Religion  und  Politik.  811 


in  dem  Prinzip  der  Selbstgesetzgebung  wiedererkennen.  Das 
Gesetz  des  Willens  muss  in  Gemässheit  des  Gesetzes  des  reinen 
Denkens  gefordert  werden.  Die  Idee,  die  Hypothesis  muss  als 
das  einzig  wahrhafte,  als  das  zulängliche  und  sichere  Mittel,  Er- 
kenntniss  zu  begründen,  also  auch  Erkenntniss  der  Sittlichkeit 
eingesehen  und  beherzigt  werden. 

So  ist  die  Selbstgesetzgebung  das  Prinzip  des  Rationalimus 
nicht  nur,  sondern  genauer  des  Idealismus.  Es  ist  nun  aber 
auffällig,  wie  armselig  die  Geschichte  des  Idealismus  in  der  Ethik 
ist  gegenüber  ihren  breiten  und  mächtigen  Zügen  in  der  Logik. 
Dieses  Rätsel  wird  durch  ein  anderes  Rätsel  wenn  nicht  gelöst, 
so  doch  der  Lösung  genähert.  Es  ist  nämlich  auch  auftallend, 
wie  arm  die  Geschichte  der  Ethik  an  Prinzipien  und  Begriffen 
ist  gegenüber  der  der  Logik. 

Der  Idealismus  der  Ethik  ist  gehemmt  worden 
durch  die  Religion  und  die  Politik,  welche  das  Grund- 
gesetz der  Wahrheit  verdunkelt  und  geschwächt  haben. 
Die  Religion  hat  sich  allenfalls  der  Wissenschaft  gegenüber  gefügt; 
aber  über  die  Sittlichkeit  hat  sie  sich  zum  mindesten  die  Mit- 
verfügung vorbehalten.  Und  die  Politik  hat  allezeit  den  ethischen 
Idealismus  als  ihre  grösste  Gefahr  betrachtet;  und  die  Selbst- 
gesetzgebung als  einen  EingrifT  in  ihre  Competenz.  Im  letzten 
Grunde  beruht  darauf  aller  Widerwille  der  Positiven 
gegen  das  Naturrecht  Dagegen  ist  allerdings,  wenngleich 
ohne  prinzipielle  Bewusstheit,  alle  Reform  und  alle  bahn- 
brechende Revolution  in  der  Religion,  wie  in  der  Politik,  ethischer 
Idealismus.  Die  Hypothesis  der  Idee  wird  zur  Hypothese 
des  geschichtlichen  Versuchs.  Reformen  und  Revolutionen 
sind  die  Perioden  der  experimentellen  Ethik.  Daher 
treten  die  theoretischen  Prinzipien  in  ihnen  zurück. 

Dieser  mangelhafte  Idealismus  hat  jedoch  seinen  objektiven 
Grund  hauptsächlich  in  dem  falschen  Begriffe  der  Natur.  Wir 
beachteten  dies  schon  für  die  psychologische  Natur  des  Menschen. 
Es  gilt  aber  für  die  Natur  überhaupt.  Die  Heteronomie  kann 
daher  auch  geradezu  als  der  Götzendienst  vor  der  Natur 
bezeichnet  werden.  Und  der  Monotheismus  bewährt  sich  auch 
darin  als  eine  Vorbereitung  der  idealistischen  Sittenlehre; 
wenigstens  insofern  ein  Urgrund  in  ihm  die  Natur,  wie  die  sitt- 


810  Das  Grundgesetz  der  Wahrheit. 

eine,  welche  das  Ich  in  der  Oede  der  Isolierung  sucht;  die  andere 
sucht  das  Wir.  Und  indem  sie  diese  Richtung  nimmt,  steuert 
sie  auf  das  Gesetz;  auf  das  Gesetz  des  Selbst.  Das  Gesetz  liegt 
jenseit  dieser  einsamen  Oede  des  isolierten  Ich.  Indem  aber  das 
Gesetz  vom  Egoismus  befreit,  gibt  sich  die  Vernunft  als  die  Be- 
freierin zu  erkennen;  und  der  besiegte  Faktor  ist  der  psycho- 
logische Begriff  der  selbständigen  Sinnlichkeit.  So  liegt  die 
Heteronomie  in  der  psychologischen  Ansicht  von  der 
selbständigen  Kraft  der  Sinnlichkeit,  den  Willen  im 
Sinne  der  Sittlichkeit  zu  bilden  und  auszurüsten.  Dieser 
falsche  Begriff,  dieser  Uebergriff  eines  angeblichen  psychologischen 
Gesetzes  ist  es,  in  dem  die  Heteronomie  liegt. 

Wir  wissen,  die  Sinnlichkeit  hat  doppelte  Bedeutung,  und 
erhebt  doppelten  Anspruch:  in  theoretischer  und  praktischer 
Hinsicht.  Und  in  Beiden  ist  es  der  falsche,  der  unreife  und  der 
verkehrte  Begriff  der  Natur,  den  sie  vorhält.  Zunächst  denkt 
man,  wie  wir  soeben  es  betrachteten,  an  die  Sinnlichkeit  der 
Begierde.  Mit  ihr  aber  hängt  die  Stimmung  zusammen,  das 
Gefühl,  wie  es  irrtümlich  als  ein  selbständiger  Akt  genommen 
wird.  Alle  diese  Momente  der  Sinnlichkeit  sind  solche  der  Will- 
kür und  der  wechselnden  Pläne;  sie  können  es  nicht  zu  der  Ein- 
förmigkeit und  Sicherheit  einer  Richtschnur  und  eines  Gesetzes 
bringen.  Autonomie,  Selbstgesetzgebung  kann  nur  der  Begriff 
der  Vernunft  vertreten  und  verbürgen;  der  daher  so  der  Logik, 
wie  der  Ethik,  entnommen  werden  muss;  und  erst  von  beiden 
Instanzen  aus  der  Psychologie  zugeführt  werden  kann. 

So  ist  es  also  das  Vertrauen  auf  die  Vernunft,  auf  das  reine 
Denken,  worauf  die  Selbstgesetzgebung  beruht.  Und  es  ist  vor 
Allem  die  Annahme  des  Grundgesetzes  der  Wahrheit,  in 
dem  sie  ihre  Wurzel  hat.  Wahrheit  bedeutet,  wie  wir 
wissen,  die  Uebereinstimmung  von  Logik  und  Ethik  in 
den  methodischen  Grundlagen.  So  ist  vor  Allem  als 
Heteronomie  zu  erkennen  das  Misstrauen  gegen  die  theoretische 
Vernunft,  als  wäre  sie  Uebermut  und  Aberwitz;  als  könnte  sie 
mit  ihren  Grundlegungen,  die  als  willkürliche  Vermutungen  ver- 
dächtigt werden,  wahres  Sein  nicht  feststellen;  und  deshalb  um 
soviel  weniger  sittliche  Wahrheit  verbürgen.  Darum  lassen  wir 
das  Grundgesetz  der  Wahrheit  voraufgehen.   Wir  können  es  jetzt 


Religion  und  Politik.  811 


in  dem  Prinzip  der  Selbstgesetzgebung  wiedererkennen.  Das 
Gesetz  des  Willens  muss  in  Gemässheit  des  Gesetzes  des  reinen 
Denkens  gefordert  werden.  Die  Idee,  die  Hypothesis  muss  als 
das  einzig  wahrhafte,  als  das  zulängliche  und  sichere  Mittel,  Er- 
kenntniss  zu  begründen,  also  auch  Erkenntniss  der  Sittlichkeit 
eingesehen  und  beherzigt  werden. 

So  ist  die  Selbstgesetzgebung  das  Prinzip  des  Rationalimus 
nicht  nur,  sondern  genauer  des  Idealismus.  Es  ist  nun  aber 
auffällig,  wie  armselig  die  Geschichte  des  Idealismus  in  der  Ethik 
ist  gegenüber  ihren  breiten  und  mächtigen  Zügen  in  der  Logik. 
Dieses  Rätsel  wird  durch  ein  anderes  Rätsel  wenn  nicht  gelöst, 
so  doch  der  Lösung  genähert.  Es  ist  nämlich  auch  auftallend, 
wie  arm  die  Geschichte  der  Ethik  an  Prinzipien  und  Begriffen 
ist  gegenüber  der  der  Logik. 

Der  Idealismus  der  Ethik  ist  gehemmt  worden 
durch  die  Religion  und  die  Politik,  welche  das  Grund- 
gesetz der  Wahrheit  verdunkelt  und  geschwächt  haben. 
Die  Religion  hat  sich  allenfalls  der  Wissenschaft  gegenüber  gefügt; 
aber  über  die  Sittlichkeit  hat  sie  sich  zum  mindesten  die  Mit- 
verfügung vorbehalten.  Und  die  Politik  hat  allezeit  den  ethischen 
Idealismus  als  ihre  grösste  Gefahr  betrachtet;  und  die  Selbst- 
gesetzgebung als  einen  Eingriff  in  ihre  Competenz.  Im  letzten 
Grunde  beruht  darauf  aller  Widerwille  der  Positiven 
gegen  das  Naturrecht.  Dagegen  ist  allerdings,  wenngleich 
ohne  prinzipielle  Bewusstheit,  alle  Reform  und  alle  bahn- 
brechende Revolution  in  der  Religion,  wie  in  der  Politik,  ethischer 
Idealismus.  Die  Hypothesis  der  Idee  wird  zur  Hypothese 
des  geschichtlichen  Versuchs.  Reformen  und  Revolutionen 
sind  die  Perioden  der  experimentellen  Ethik.  Daher 
treten  die  theoretischen  Prinzipien  in  ihnen  zurück. 

Dieser  mangelhafte  Idealismus  hat  jedoch  seinen  objektiven 
Grund  hauptsächlich  in  dem  falschen  Begriffe  der  Natur.  Wir 
beachteten  dies  schon  für  die  psychologische  Natur  des  Menschen. 
Es  gilt  aber  für  die  Natur  überhaupt.  Die  Heteronomie  kann 
daher  auch  geradezu  als  der  Götzendienst  vor  der  Natur 
bezeichnet  werden.  Und  der  Monotheismus  bewährt  sich  auch 
darin  als  eine  Vorbereitung  der  idealistischen  Sittenlehre; 
wenigstens  insofern  ein  Urgrund  in  ihm  die  Natur,  wie  die  sitt- 


312  Rousseau. 


liehe  Welt,  regiert.  Es  sind  hier  doch  wenigstens  nicht  mehr 
ausschliesslich  die  Empfindung  und  die  Wahrnehmung,  welche 
den  Horizont  begrenzen.  Von  dem  Glauben  an  die  Alleinherr- 
schaft der  Sinnlichkeit  wird  hier  doch  wenigstens  der  Geist  be- 
freit; und  so  kann  allmählich  das  reine  Denken  vordringen,  und 
die  Schöpfungen  der  sittlichen  Vernunft  ins  Leben  rufen.  Die 
Uebermacht  der  Natur  muss  vor  Allem  erschüttert  werden. 

So  geht  im  inneren  Zusammenhange  der  Begriffe  der  Na- 
turalismus über  in  den  Historismus,  der  der  Naturalismus  der 
Geschichte  ist.  Der  psychologische  Begriff  der  Erfahrung  wird 
der  Tyrann.  Die  Geschichte  wird  als  Natur  gedacht.  Daher 
herrscht  die  Vergangenheit.  Sie  nimmt  das  Ansehen  der  Ewig- 
keit an.  So  bildet  Rousseau  eine  innerliche  Vorbereitung  zu 
Kant.  Er  ändert  den  Begriff  der  Natur;  er  zerstört  den  Einklang 
von  Natur  und  Geschichte,  von  Natur  und  Kultur.  Das  Inventar 
der  geschichtlichen  Erfahrung  kann  sich  nicht  messen  mit  dem 
ewigen  der  Natur.  Auch  hier  bleibt  die  Unreife  des  Naturalismus. 
Aber  es  ist  doch  nicht  mehr  die  platte  Sinnlichkeit,  welche  das 
Bild  der  Natur  hervorbringt;  es  ist  eine  Macht  des  Denkens, 
wenngleir*h  nicht  des  reinen,  welche  hier  ähnlich,  wie  im  Mono- 
theismus, wirksam  wird.  Und  diese  Wirksamkeit  der  Phantasie 
ist  von  einer  grossen  Fruchtbarkeit  geworden.  Das  ist  ja  eben 
die  tiefe  Kraft  des  Idealismus,  dass  er  auch  die  aesthetische  Ver- 
nunft zur  aesthetischen  Selbstgesetzgebung  zu  erwecken  vermag. 
Die  Kräfte  wirken,  wenngleich  sie  nicht  immer  als  Prinzipien 
erkannt  werden,  in  der  echten  Kunst.  Und  Rousseau  war  zwar 
keineswegs  ein  Philosoph,  aber  ein  echter  Poet. 

Die  Verbindung,  die  innerliche  Verwandtschaft  der  schöpferi- 
schen, der  selbstgesetzgebenden  sittlichen  Vernunft  mit  der  echten 
Kunst  hat  nun  aber  auf  einen  verhängnisvollen  Abweg  geführt. 
Wir  haben  es  bereits  beachtet,  dass  die  Aesthetik  erst  durch 
Kant  ein  voUbürtiges  Glied  des  Systems  der  Philosophie  ge- 
worden ist.  Reflexionen  über  die  Kunst,  insbesondere  über  ihre 
Wirkungen  auf  das  empfangliche  Gemüt  haben  aber  freilich 
nicht  gefehlt.  Wertvoll  sind  besonders  die  der  Engländer,  die 
der  Welt  ja  den  Homer  des  Dramas  gebracht  haben.  Bei 
Shaftesbury  ist  der  innigere  Zusammenhang  zwischen  aesthe- 
tischer  und  ethischer  Reflexion  erkennbar,  wie  er  in  dem  Anklang 


Aesthetik  und  Metaphysik.  SIS 

an  Piaton  entsteht.  Es  ist,  als  ob  die  Engländer  für  den  Mangel 
des  Idealismus  sich  durch  die  Verbindung  von  Ethik  und  Aesthetik 
-entschädigten;  als  ob  sie  durch  die  Anklammerung  an  die  Aesthetik 
ihre  Ethik  sichern  wollten.  Das  Alles  ist  wohl  verständlich;  aber 
ein  Fehler  ist  es  und'bleibt  es,  die  Ethik  auf  Aesthetik  zu  gründen. 
Das  ist  Nichts  als  Heteronomie. 

Dieser  Fehler  ist  der  Grundfehler  in  Herbarts  Ethik,  die 
bei  ihm  ein  Glied  der  allgemeinen  Aesthetik  wird.  Es  rächt  sich 
da  die  Vorliebe,  welche  Herbart  für  den  englischen  Sensualismus 
«igen  ist.  Aber  besonders  deutlich  wird  dieser  Fehler  als  ein 
solcher  der  Heteronomie  bei  Adam  Smith,  obzwar  er  nicht 
schlechthin  das  indifferente  Gefallen  und  Missfallen,  sondern  die 
Sympathie  zum  Massstab  nimmt.  Immer  ist  es  der  Zuschauer, 
von  dem  das  Gefallen  abgeleitet,  und  in  dessen  Beifall  auch  die 
Sympathie  begründet  wird.  Die  Selbstgesetzgebung  erledigt  alle 
diese  im  Sensualismus  wurzelnden  Irrungen. 

Indessen  muss  der  Idealismus  der  Selbstgesetzgebung  sich 
klar  und  reinlich  von  der  Metaphysik  aller  Art  abscheiden. 
In  ihr  wird  zwar  viel  Rühmens  gemacht  von  der  Eigenmacht 
des  Be^oisstseins  gegenüber  der  Materie;  aber  zum  Prinzip  der 
Selbstgesetzgebung  wird  in  ihr  dennoch  das  Selbst  nicht  erhoben. 
Es  wird  gar  nicht  als  ein  eigenes  Prinzip  gedacht;  sondern  viel- 
mehr durchgängig  stets  im  Zusammenhange  mit  der  Welt  ge- 
nommen. Und  die  Metaphysik  ist  stolz  darauf,  dass  sie  auf  den 
Zusammenhang  mit  der  Welt  ausgeht.  Demgegenüber  ist  zu 
rügen,  dass  sie  auf  diesen  Zusammenhang  mit  der  Welt  ausgeht. 
Dass  sie  das  tut,  dass  sie  gar  nicht  anders  verfahren  kann,  als 
beide  Gesichtspunkte  zu  vermischen,  das  ist  ihr  Fehler  und  ihr 
Verhängniss.  So  muss  sie  für  die  Ethik  Heteronomie  bedeuten. 
Spinoza  macht  den  Menschen  und  den  menschlichen  Geist 
zu  einem  Modus  der  Substanz.  In  der  Einheit  der  Substanz 
allein  liegt  Sein  und  Wahrheit;  und  nur  in  der  Beziehung  auf 
die'  Substanz,  die  doch  nicht  nur  sein  Selbst  und  überhaupt  das 
Selbst  des  Menschen  bedeutet,  nur  also  durch  Heteronomie  kann 
er  das  Gesetz  seines  Willens  finden  und  suchen.  Es  ist  immer 
die  Welt,  welche  für  die  Beschränkung  des  Selbst  trösten  soll. 

In  dieser  religiösen  Richtung  des  Pantheismus  liegt  immer 
noch  ebensosehr  Weltflucht,  wie  Weltsinn.    Bedenklicher  wird 


314  Hegels  Fehler. 


die  pantheistische  Metaphysik  in  der  Romantik  des  Historismus. 
Hier  tritt  die  Geschichte  an  die  Stelle  der  Natur;  die  Zeit  über- 
strahlt den  Raum;  die  geschichtliche  Erfahrung  wird  zum  Symbol 
der  Wirklichkeit  Und  nicht  allein  zum  Symbol;  sondern  zum 
Prinzip  der  Wirklichkeit.  Der  Fehler  in  dem  Worte,  mit  dem 
Hegel  seine  Rechtsphilosophie  einführt,  liegt  nicht  in  erster 
Linie  in  dem  Nachsatze:  .Was  wirklich  ist,  das  ist  vernünftig**. 
Dieser  Teil  des  Gedankens  lässt  sich  geschichts-philosophisch 
verstehen  und  begründen.  Lassalle  hat  nur  gefunden,  dass  es 
Hegel  nicht  gelungen  sei,  aus  der  Wirklichkeit  des  Rechts  die 
Vemünftigkeit  herauszuarbeiten.  Der  Vordersatz  aber  lautet: 
^Was  vernünftig  ist,  das  ist  wirklich."  Hier  springt  der  Fehler 
der  Heteronomie  in  die  Augen. 

Keineswegs  ist  die  Wirklichkeit  der  Massstab  und  das 
Prinzip  der  sittlichen  Vernunft.  Keineswegs  deckt  sich  die  sitt- 
liche Vernunft  mit  der  Wirklichkeit;  das  Sittengesetz  mit  den 
positiven  Gesetzen  der  geschichtlichen  Wirklichkeit  in  Recht 
und  Staat.  Hier  zeigt  sich  der  himmelweite  Unterschied 
zwischen  Hegel  und  Kant;  denn  Kant  würde  sagen:  was  ver- 
nünftig ist,  das  ist  nicht  wirklich;  sondern  es  soll  wirklich  werden. 
Der  Unterschied  von  Sein  und  Sollen  unterscheidet 
nicht  nur  aligemein  zwei  Welten,  sondern  hiernach 
auch  die  Weltanschauung  der  pantheistischen  Meta- 
physik von  der  des  ethischen,  weil  des  theoretischen 
Idealismus;   von  der  Ethik  der  Selbstgesetzgebung. 

Die  Metaphysik  führt  uns  zur  Heteronomie  der  Religion. 
Man  möchte  aber  denken,  dass  nicht  eigentlich  und  nicht  ur- 
sprünglich in  der  Religion  der  Gegensatz  oder  wenigstens  der 
Widerspruch  gegen  die  Autonomie  liegen  müsse,  als  vielmehr 
in  der  Theologie.  Worin  besteht  zwischen  Beiden  der 
Unterschied?  Wir  sehen  von  der  geschichtlichen  Gestalt  der 
Theologie  hier  füglich  ab;  wie  sie  in  der  Gestalt  einer  Wissen- 
schaft auftritt,  während  die  Religion  an  sich  immer  Mythos 
bleibt.  Doch  dieser  Unterschied  geht  uns  hier  nichts  an,  ausser 
sofern  er  unwillkürlich  der  gesuchten  Antwort  dient.  Die  Religion 
sucht  immer  nur  Gott,  wie  verschieden  immer  sie  ihn  denken, 
und  deshalb  suchen  mag.  Die  Theologie  dagegen  will  dieses 
Denken   und  Suchen  Gottes  bestimmen   und   gestalten;   sie   will 


Die  Offenbarung.  315 


Erkenntniss  Gottes  sein;  wenngleich  sie  bisweilen  diese  Er- 
kenntniss  nur  als  Glauben  geltend  macht.  Immer  ist  es  das 
Denken  über  Gott,  das  ihren  Inhalt  bildet. 

Da  nun  aber  die  Theologie  das  Denken  über  Gott  bestimmen 
und  regein  will,  so  ist  sie  genötigt,  Gründe  und  Grundlagen  für 
diese  Bestimmung  und  diese  Regelung  aufzusuchen  und  festzu- 
stellen. Woher  aber  soll  sie  solche  Grundlagen  nehmen?  Die 
Vernunft  ist  ihr  entrückt;  diese  geht  nur  auf  die  Welt.  Zwar 
wird  sie  nicht  gänzlich  verschmäht;  der  ontologische  Gedanke 
widerspricht  diesem  Verdachte.  Aber  die  Scholastik  war  keines- 
w^egs  gewillt,  es  bei  dem  Wissen  von  Gott  bewenden  zu  lassen, 
welches  das  ontologische  Denken  gewährt.  Es  handelt  sich  ja 
auch  in  der  Theologie  nicht  allein  um  die  Existenz  Gottes;  diese 
bildet  das  Anliegen  der  Religion.  So  kommt  es,  dass  das 
Denken  über  Gott  zur  Grundlage  empfängt  das  Denken 
Gottes.  Die  Vernunft  mit  ihren  Gesetzen  kann  nicht  die  Gesetze 
für  das  Denken  über  Gott  enthalten.  Gott  würde  so  in  den  In- 
halt und  in  den  Machtbereich  des  menschlichen  Denkens  ein- 
gehen. Das  ontologische  Problem  war  auch  für  die  Scholastik 
verhängnissvoll.  Und  Descartes  musste  sehr  gewagte  Kunst- 
griffe anwenden,  um  der  eminenten  Ursache  eine  besondere  Be- 
deutung beizulegen. 

Das  Denken  über  Gott  musste  also  geregelt  werden  durch 
das  Denken  Gottes  selbst.  Woher  aber  nimmt  die  Theologie  die 
Befugniss,  das  Denken  Gottes  zu  erkennen?  Es  wäre  niemals  der 
religiösen  Freigeisterei  überlassen  geblieben,  in  dieser  Anmassung 
die  Selbstironisierung  zu  erkennen;  man  würde  an  der  Blas- 
phemie, die  darin  liegt,  Anstoss  genommen  haben,  wenn  hier 
nicht  die  Theologie  mit  der  Religion  zusammenginge.  Diese  aber 
geht  hier  besonders  auf  den  Mythos  zurück.  Offenbarung,  Ema- 
nation und  alle  die  Ausdrücke  der  Selbstentfaltung  des  Absoluten 
bleiben  innerlich  unbefremdlich  und  unanstössig;  denn  man 
fordert  die  Selbstentfaltung,  die  Selbstdarstellung  des 
Absoluten.  Anstössig  kann  nur  die  einzelne  sinnliche  Er- 
scheinungsform sein;  das  Problem  der  Offenbarung  dagegen 
ist  ein  natürliches,  ein  notwendiges.  Das  ist  der  Sinn  Gottes, 
dass  er  erscheint;  dass  er  sich  offenbare.  Darin  liegt  in  der 
Tat   an   sich   noch   nicht    der  Zwang   der  Heteronomie.    Dieser 


816  Das  Wort  Gottes. 


entsteht  erst  durch  die  Praecisierung  des  Denkens  zum 
Worte. 

Das  Wort  Gottes  wird  zur  Urkunde  vom  Denken 
Gottes.  So  wird  das  Wort  Gottes  ein  Analogon  zu  den  Gesetzen 
und  Prinzipien  der  wissenschaftlichen  Vernunft.  Dadurch  ent- 
steht der  unausgleichbare  Gegensatz  zwischen  Ethik  und  Theo- 
logie, der  als  ein  solcher  zwischen  Ethik  und  Religion  gedacht 
wird.  Hier  entsteht  auch  der  Gegensatz  zwischen  der  Bildung 
des  geschichtlichen  Bewusstseins  und  der  theologischen  Religion. 
Dass  Erleuchtungen  menschlicher  Geister  von  Gott  ausgehen 
können,  daran  nimmt  die  geschichtliche  Bildung  keinen  Anstoss; 
Offenbarungen  werden  den  begrifflich  geforderten  Emanationen 
des  Absoluten  gleichgesetzt;  aber  dass  der  Wortlaut,  dass  der 
Buchstabe  in  solchen  Offenbarungen  festgelegt  würde,  dagegen 
sträubt  sich  das  gebildete  Bewusstsein;  und  es  wird  hierin  durch 
das  religiöse,  nicht  theologisch  verkrümmte  und  verhärtete  nur 
bestärkt.  Ohnehin  widerspricht  der  Fortgang  solcher  Offen- 
barungen der  Geschlossenheit  dieses  Wortes.  Die  neue  Offen- 
barung muss  wie  ein  Nachwort  erscheinen.  Und  welches  Wort 
Gottes,  das  man  als  Einheit  betrachtet,  kann  sich  als  ein  ein- 
heitlich entstandenes  darstellen  und  behaupten?  Wird  nicht 
vielmehr  Gottes  Wort  in  jeder  Einheit  als  ein  allmählich  ent- 
standenes Werk  einer  nationalen  Literatur  nachweisbar?  Aber 
auch  abgesehen  von  dem  Literarischen  muss  jede  Religion  so 
viel  Ignorierungen,  Deutungen  und  Idealisierungen  an  ihrem 
Worte  Gottes  vornehmen,  dass  es  überall  einer  offenkundigen 
Correktur  unterzogen  wird.  Wenn  dennoch  die  Theologie  auf 
die  geschichtlichen  Tatsachen  und  auf  die  literarischen  Urkunden, 
in  welchen  die  Tatsachen  enthalten  sind,  als  auf  Gottes  Wort 
sich  beruft,  so  muss  diese  Art  von  Theonomie  als  Heteronomie 
bezeichnet  werden. 

Auch  in  der  praktischen  Moral  nährt  dieser  Aberglaube 
vom  Worte  Gottes  alle  Scheelsucht  und  alle  Missgunst,  mit  der 
schon  die  Nationen  in  ihren  Literaturen  sich  gegenseitig  zu  be- 
spiegeln pflegen;  geschweige  alle  die  Intoleranz,  Ungerechtigkeit 
und  Gehässigkeit,  welche  die  Selbstsucht  in  den  verschiedenen 
Religionen,  ja  in  den  Sekten  und  Parteien  derselben  Religion  er- 
regt und  aufstachelt.    Aber  der  Begriff  der  Literatur,  menschlich 


Die  Religiositftt  der  liierarischen  Humanitlt.  817 

und  wissenschaftlich,  wie  er  ist,  hat  auch  hier  Hilfe  gebracht. 
Und  unser  Herder  darf  hier  als  sittlicher  Befreier  genannt 
werden.  Der  Sinn  für  die  Weltliteratur  hat  die  Sympathie 
für  die  Völkerstimmen  erweckt,  und  damit  dem  Eigensinn  und 
dem  Eigendünkel  entgegengewirkt.  Die  vergleichende  Literatur 
hat  die  Idee  der  Humanität  neu  belebt,  und  ihr  in  der  Poesie 
der  Völker  einen  reichen  Inhalt  erschlossen.  Die  vergleichende 
Literatur  hat  den  Sinn  für  vergleichende  Religionswissenschaft 
erweckt;  und  ohne  diesen  lebendigen  Sinn  der  Toleranz,  ja  der 
Sympathie  für  Alles,  was  in  der  Tendenz  der  Religion  sich  be- 
wegt, für  alle  Religionen,  ohne  diesen  Horizont  der  literarischen 
Humanität  gibt  es  für  den  gelehrten  und  gebildeten  Menschen 
keine  wahrhafte  Religiosität.  Die  Meinung  von  der  Ab- 
solutheit der  eigenen  Religion  ist  aus  dem  Standpunkt  der 
wissenschaftlichen  Bildung  Aberglaube,  da  es  Mythos  nicht  sein 
kann;  und  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Religion  Eifersucht,  Neid 
und  Menschenhass,  die  alle  Symptome  des  schlechten  Ge- 
wissens sind. 

Die  Heteronomie,  welche  das  Wort  Gottes  bildet,  geht  da- 
her nur  gegen  die  Theologie;  nicht  aber  eigentlich  auf  die  Reli- 
gion. Daraus  ergibt  sich  eine  sehr  wichtige  Folgerung:  die 
Heteronomie  richtet  sich  nicht  gegen  die  Idee  Gottes. 
Der  Grundgedanke  jeder  echten  Religion,  Gott  zum  Urheber  der 
Sittlichkeit  zu  machen,  bildet  keineswegs  einen  Widerspruch 
gegen  die  freie  sittliche  Vernunft.  Wenn  man,  sofern  man  Gott 
denkt,  seine  Offenbarungen  für  unausbleiblich  hält,  wie  könnte 
man  diese  Offenbarungen  als  etwas  Anderes  denken,  denn  als 
Sittlichkeit?  Und  was  könnte  Gott  überhaupt,  als  der  Gott  der 
monotheistischen  Religion,  Anderes  zu  leisten  und  überhaupt  zu 
bedeuten  haben  als  die  Gewährung  und  die  Gewährleistung  der 
Sittlichkeit? 

Gerade  die  Verbindung  der  Religion  mit  der  Philosophie, 
welche  ihre  eigenen,  von  der  Theologie  sich  unterscheidenden 
Wege  ging,  strebte  in  der  Tendenz  des  Pantheismus  eine  Ver- 
einigung von  Gott  und  Mensch  für  die  Sittlichkeit  an.  Schon 
die  Seele  enthält  in  der  Ursprache  der  Religion  diese  Vereinigung. 
., Wahrlich  Geist  ist  im  Menschen,  und  die  Seele  des  Allmächtigen 
macht  sie  vernünftig. "^    So  vereinigt  Hiob   den  Menschen  mit 


818  Schiller. 

Gott  in  der  Seele  und  in  der  VemunfL  Philo  konnte  sich  daher 
an  diesem  centralen  Punkte  der  griechischen  Anschauung  un- 
gezwungen  anschliessend  indem  er  den  Logos  als  die  Vermittlung 
zwischen  Gott  und  Mensch  anerkannte  und  auszeichnete.  Der 
Logos  hat  wahrlich  nicht  die  Theonomie  befestigt. 

So  sehen  wir,  dass  nicht  in  Gott  der  Grund  der  Heteronomie 
gelegen  ist,  sondern  lediglich  in  dem  fixierten  Worte  Gottes. 
Dass  Gott  die  Sittlichkeit  fordert;  ja  selbst  als  der  Urheber  der 
Sittlichkeit  gilt,  daran  ist,  genauer  bedacht,  kein  Anstoss  zu 
nehmen;  wenn  nur  darum  die  Kthik  ihren  eigenen  Weg  und  ihre 
eigene  Methode  nicht  aufgibt.  Eh  ist  in  dieser  Methodik  aber 
keineswegs  die  Weisung  enthalten,  dass  das  so  erzeugte  Sitten- 
gesetz einen  Gegensatz  oder  gar  einen  Widerspruch  bilden  müsse 
gegen  den  Gedanken,  der  alle  Sittlichkeit  in  Gott  gründet.  Wenn 
nur  die  Sittlichkeit,  und  sie  allein  gefordert  wird;  ihre  Zurück- 
führung  auf  Gott  ist  an  sich  nicht  Heteronomie.  Wird  doch 
eigentlich  dadurch  der  Unterschied  zwischen  (iott  und  Mensch 
aufgehoben,  so  dass  Ein  Gesetz  Beide  bindet.  .Heilig  sollt  Ihr 
sein;  denn  heilig  bin  ich.  Euer  Gott.**  .Seid  vollkommen,  wie 
Euer  Vater  im  Himmel  vollkommen  ist.**  Eh  ist,  als  ob  der 
Monotheismus  sich  seilet  in  Pantheismus  aufhöbe;  als  ob  in  der 
Sittlichkeit  der  Unterschied  zwischen  Gott  und  Mensch  ver- 
schwinden sollte. 

Diese  Cx>nsequenz  zieht  die  Religion  nicht;  und  es  steht 
hier  nicht  in  Frage,  ob  sie  sie  ziehen  müsse.  Vielmehr  haben 
wir  es  schon  mehrfach  erwogen,  dass  der  Pantheismus  eine  zwei- 
deutige Wahrheit  bildet.  Hier  aber  hat  Schiller  seinen  frühem 
Enthusiasmus  für  Spinoza  in  sein  Studium  Kants  hineingetragen. 
^Nehmt  die  Gottheit  auf  in  Euren  Willen**  so  hat  Schiller  die 
Autonomie  als  Widerspruch  gegen  die  Theonomie  |K>pulär  ge* 
macht.  Indessen  ist  dieses  pantheistische  Wort  eine  Ueber- 
spannung  des  Dichters«  welche  mit  seiner  Ueberspannung  der 
aesthetischen  Erziehung  und  der  Aesthetik  überhaupt  zusammen- 
hangt. Aus  dieser  UelM*rheliung  des  aesthetischen  Sinnes  ist  ja 
al>er  auch  l)ei  ihm  der  verräterische  Satz  entstanden-  .lernet 
etiler  bekehren,  damit  ihr  nicht  nötig  habt,  erhalten  zu  wollen.' 
Danach  aber  wünle  vs  nicht  dabei  zu  verbleiben  hal>en,  die 
Gottheit    in   den  Willen  aufzunehmen;   denn  dieser  vill  unnötig 


Die  religiöse  Literatur.  319 

werden.  Die  Gottheit  müsste  danach  vielmehr  in  das  Begehren 
auJEzugehen  haben.  Damit  aber  würde  allerdings  wieder  ein  be- 
denklicher Unterschied  zwischen  Gott  und  Mensch  zum  Problem 
werden.  Denn  das  Begehren  ist  auch  den  Tieren  eigen;  und 
selbst  das  edle  Begehren  soll  ihnen  nicht  ganz  fremd  sein.  Sollte 
es  etwa  auch  auf  die  Gottheit  sich  erstrecken?  Der  reine  Wille 
ist  dagegen  gar  nicht  der  erhabene  Wille;  und  er  bedarf  dessen 
nicht,  dass  er  durch  die  Aufnahme  der  Gottheit  erfüllt  werde. 

Man  sieht  immer  deutlicher,  dass  die  Heteronomie  ihre 
Spitze  nicht  gegen  die  Idee  Gottes  richtet;  nur  das  Wort  Gottes 
in  seiner  dogmatischen  Fixierung  erhebt  einen  Anspruch,  bei  dem 
die  Sittlichkeit  unvermeidlich  Heteronomie  werden  muss.  Daher 
ist  der  Buchstabenglaube  der  alte  unversöhnliche  Feind  des 
religiösen  Rationalismus  aller  Zeiten.  Indessen  darf  auch  hier 
der  Gegensatz  der  Ethik  nicht  über  den  Widerstreit  der  Methodik 
hinaus  gespannt  werden;  sonst  stellt  sich  ein  anderer,  nicht 
minder  schwerer  Fehler  der  allgemeinen  wissenschaftlichen 
Methodik  für  die  Ethik  ein;  ein  Fehler,  der  den  Begriff  der 
Autonomie  selbst  äusserlich  und  hinfallig  macht. 

Das  dogmatisch  fixierte  Wort  Gottes  ist  freilich  ein  Wider- 
spruch gegen  die  Autonomie.  Sollte  aber  etwa  darum  die  sitt- 
liche Erwägung  und  Selbstbelehrung  den  Lehren  der  Sittlichkeit 
schnurstracks  aus  dem  Wege  gehen,  welche  in  den  religiösen 
Urkunden  enthalten  sind?  Das  kann  doch  unmöglich  die  Selbst- 
gesetzgebung bedeuten  sollen,  dass  das  Selbst  durch  die  religiöse 
Literatur  schlechterdings  gehemmt,  oder  gar  vernichtet  würde. 
Wäre  dies  der  Fall,  so  würde  dann  allerdings  nicht  allein  das 
Wort  Gottes,  sondern  auch  der  Begriff  Gottes  der  autonomen 
Ethik  widersprechen.  Wenn  dies  aber  nicht  der  Fall  ist,  so 
kann  es  auch  keinen  Widerspruch  gegen  die  Selbstgesetzgebung 
bilden,  dass  ich  den  sittlichen  Inhalt  der  gesamten  religiösen 
Literatur  erforsche,  erlerne  und  auf  seinen  sittlichen  Reingehalt 
zu  prüfen  habe. 

Das  Wort  Gottes  kann  nicht  schlechter  zu  stellen  sein  als 
jedes  andere  Produkt  der  moralischen  Literatur;  wie  es  sich  in 
der  Geschichte,  in  der  Poesie  und  Kunst  überhaupt,  endlich  auch 
in  der  politischen  und  rechtlichen  Literatur  darlegt.  Ja  nicht 
allein  von  der  populären  und  beiläufigen  Moral  gilt  diese  natür- 


820  Der  Pietismns. 


liehe  Voraussetzung,  welche  übrigens  Sokratesin  seinem  Grund- 
satz aufnahm,  indem  er  die  Tugend  als  ein  Lehrbares  («ttSaxtdv) 
erklärte,  weil  sie  ein  Wissen  sei;  sondern  auch  auf  die  Wissen- 
schaft der  Ethik  ist  diese  Forderung  pünktlich  anzuwenden. 
Auch  sie  muss  in  ihrer  gesamten  Geschichte,  wie  sie  in  ihren 
literarischen  Produktionen  sich  vollzieht,  gründlich  und  gewissen- 
haft studiert  werden.  Wenn  die  Tugend  ein  Lehrbares  ist,  so 
ist  sie  eben  auch  ein  Lernbares;  etwas  was  erlernt,  studiert, 
geprüft  und  also  auch  stellenweise  an-  und  aufgenommen  werden 
muss.  Sollte  diese  natürliche  Forderung  der  literarischen  Sitt- 
lichkeit etwa  der  Autonomie  widerstreiten?  Dann  würde  sie 
einer  eiteln,  unsittlichen  Originalitatssucht  Vorschub  leisten, 
welche  in  der  Originalität  quand-meme  die  Gewähr  des  Selbst 
sieht.  Dann  würde  man  auf  die  Bahn  des  Eigensinns  und  des 
Dünkels  durch  sie  geleitet  werden,  ein  eigenes  Sittengesetz  sich 
auszutüfteln;  oder  aber,  wofern  dies  doch  eben  schwerlich  aus- 
zuführen ist,  eines  der  vielen  alten  mit  einem  neuen  Aufputz 
zu  versehen,  um  es,  da  es  doch  einmal  nötig  sei,  zu  einem  neuen, 
soweit  es  angeht,  auszustatten.  An  Beispielen  fehlt  es  gerade 
unserer  Zeit  am  wenigsten  für  diese  falsche  Originalität,  welche 
inhaltlich  zu  einer  falschen,  hohlen,  innerlich  unwahren,  weil 
allen  natürlichen  und  geschichtlichen  Leitungslinien  der  Moral 
widersprechenden,  angeblichen  Ethik  führt. 

Von  hier  aus  lässt  sich  auch  die  zweideutige  Stellung  beur- 
teilen, welche  der  Pietismus  einnimmt.  Sicherlich  ist  er  von 
heilsamer  Einwirkung  gegenüber  der  Starrheit  der  kirchlichen 
Dogmen  und  Gebräuche.  Sicherlich  ist  auch  die  sittliche  Selb- 
ständigkeit und  Energie  durch  ihn  gefördert  worden.  Ist  doch 
auch  Kant  aus  der  Erziehung  des  Pietismus  erwachsen.  Den- 
noch aber  darf  die  Gefahr  nicht  übersehen  werden,  die  in  seiner 
Tendenz  zum  Parteiwesen  und  zur  Sektenbildung  liegt.  Die  Re- 
ligion, als  Gesamtheit  und  als  Gemeinde,  kann  niemals  gänzlich 
des  Staates  entraten,  in  dem  doch  nun  einmal  die  Probe  auf  die 
Gesundheit  und  Wahrhaftigkeit  der  religiösen  Sittlichkeit  gemacht 
werden  muss.  Der  Pietismus  dagegen  operiert  mit  der  Zwei- 
deutigkeit der  Gesinnung  und  der  eigenen  Erleuchtung;  er  bringt 
dadurch  einen  Ueberschwang  in  das  Gemüt  und  eine  Ueber- 
spanntheit  in  das  Individuum,  welche  nur  den  allzu  gefahrlichen 


Der  Fehler  in  Kants  Autonomie.  821 


Schein  des  Selbst  annimmt;  welche  jedoch  der  Selbstgesetzgebung 
durchaus  widerspricht.  Denn  die  Gesetzgebung  wird  hier  eben 
nicht  mit  dem  Begriffe  des  Selbst  untrennbar  verknüpft. 

Aus  allen  diesen  Erwägungen  ist  ein  Schluss  zu  ziehen, 
dessen  Inhalt  sehr  auffällig  erscheinen  dürfte.  Es  ergibt  sich 
nämlich  daraus,  dass  der  Begriff  der  Autonomie  von  grossen 
und  schweren  Unklarheiten  behaftet  ist;  oder  um  es  deutlicher 
noch  auszusprechen,  dass  er  noch  gar  nicht  zur  genauen  Klarheit 
gebracht  und  ausgeführt  ist. 

Der  Fehler,  welcher  in  dem  Begriffe  der  Autonomie  bei 
Kant  stecken  geblieben  ist,  besteht  darin,  dass  das  Selbst  dabei 
als  gegeben,  als  schon  vorhanden,  als  seiend  angenommen  und 
vorausgesetzt  wird;  dass  es  sich  in  den  sittlichen  Handlungen, 
als  seinen  Manifestationen,  nur  darzulegen  und  darzutun  habe.  Das 
ist  der  methodische  Fehler.  Das  Selbst  ist  keineswegs  und  in 
keiner  noch  so  idealen  Gestalt  vorher  vorhanden,  bevor 
es  sich  darlegt,  und  es  hat  sich  keineswegs  nur  darzulegen; 
sondern  es  hat  sich  erst  zu  erzeugen.  Und  es  kann  sich  nur  erzeugen 
in  der  Gesetzgebung.  In  dieser  und  kraft  dieser  entspringt  die 
Handlung.    Sie  bildet  den  Fortschritt,  den  wir  jetzt  entwickeln. 

Die  Handlung  ist  nicht  mehr  lediglich  die  Entfaltung  des 
Selbst;  sondern  sie  ist  bedingt  durch  die  Gesetzgebung,  welche 
die  Gesetzgebung  des  Selbst  ist,  so  dass  auch  das  Selbst  bedingt 
ist  durch  die  Gesetzgebung.  Also  die  Selbstgesetzgebung  ist 
nicht  etwa  die  Gesetzgebung  aus  dem  Selbst,  sondern 
zum  Selbst.  Auf  die  Gesetzgebung  kommt  es  an;  in  ihr  erst 
bezeugt  sich  das  Selbst;  in  ihr  erzeugt  es  sich.  Der  Gedanke 
der  Autonomie  geht  also  nicht  dahin,  dass  das  Gesetz  vom  Selbst 
ausgehen  müsse.  Aber  auch  darin  ist  sein  Zielpunkt  nicht  aus- 
gesprochen, dass  das  Gesetz  zum  Selbst  hinführe  und  hinaus- 
führe. So  wichtig  dieser  Unterschied  ist,  und  so  sehr  er  allein 
schon  die  bisherige  Ansicht  von  der  Autonomie  ändert,  so  muss 
der  eigentliche  methodische  Sinn  des  Gedankens  doch  noch 
anders  gefasst,  und  zwar  auf  die  Gesetzgebung  gerichtet  werden. 

Das  Selbst  muss  in  Gesetzgebung  sich  vollziehen;  nur  so 
vollzieht  es  sich.  Das  ist  der  schärfere  Sinn  des  Begriffs  der 
Selbstgesetzgebung.  Gesetzgebung  fordert  das  Recht  und 
den  Staat  in   die  Schranken.    In  ihnen,   in   der  juristischen 

•21 


822  Die  Gesetzgebung  und  das  Selbst. 

Person,  die  durch  sie  vollzogen  wird,  erkennt  das  Selbst  sein 
Urbild  einer  moralischen  Person.  So  wird  die  Gesetzgebung  zum 
Monopol  der  Sittlichkeit.  Kein  Gott  kann  sie  ersetzen;  keine 
Natur;  keine  Macht  der  Geschichte.  Das  Alles  ist  Mystik,  welche 
nimmermehr  zu  einem  wahrhaften  sittlichen  Selbst  verhilft.  Die 
Gesetzgebung  allein  erzeugt  das  Selbst  der  sittlichen  Handlung, 
des  geschichtlichen  Daseins. 

Innerhalb  der  geschichtlichen  Fruchtbarkeit  der  Gesetz- 
gebung kommt  dagegen  das  Selbst  zu  seinem  lebendigen,  nicht 
schattenhaften  Eigenwerte.  Kein  Individuum,  keine  Per- 
sönlichkeit darf  absoluten  Wert  für  und  über  das  sitt- 
liche Selbst  behaupten.  Die  Gesetzgebung  ist  die  Obliegenheit 
jedes  sittlichen  Menschen;  und  nur  in  dieser  ununterbrochenen 
Beziehung  auf  die  Gesetzgebung,  welche  für  das  Selbst  besteht, 
kann  das  Selbst  zur  Erzeugung  kommen.  Selbst  und  Gesetz- 
gebung bilden  eine  notwendige  Correlation.  Heteronomie 
ist  es,  einen  andern  Menschen,  und  wäre  er  der  grösste  Weise 
und  der  unzweifelhafteste  Wohltäter  des  Vaterlands  und  des 
Menschengeschlechts,  als  den  Träger  und  Urheber  der  Gesetz- 
gebung zu  machen,  die  unabtrennbar  ist  von  dem  Problem,  von 
dem  Begriffe  des  Selbst,  auf  welches  ich  mein  Selbstgefühl  zu 
beziehen  habe,  wenn  es  zum  ethischen  Selbstbewusstsein  aus- 
reifen soll.  Jetzt  habe  ich  nicht  mehr  zu  befürchten,  dass  dieses 
Selbst  unter  die  Zweideutigkeit  des  Egoismus  fallen  könnte;  die 
Gesetzgebung  befreit  es  von  diesem  Verdacht  der  Isolierung,  und 
von  dieser  Gefahr  der  Verödung. 

Der  Fehler  des  Egoismus  enthüllt  sich  auch  hier 
als  der  der  Verwechselung  von  Psychologie  und  Ethik. 
Die  Psychologie  kann  in  den  Schein  verlocken,  dass  das  Ich  als 
eine  wirksame  Potenz  fix  und  fertig  vorhanden  wäre;  oder  allen- 
falls sich  von  seinem  festen  Kerne  aus  nur  auszubauen  hätte. 
Gegen  dieses  Vorurteil  glaubt  man,  sei  kein  anderes  Kraut  ge- 
wachsen, als  welches  Hume  entdeckt  habe,  dass  das  Ich  nur 
eine  Versammlung  von  Vorstellungen  bedeuten  könne.  Höchstens 
gesteht  man  es  zu,  dass  Kant  die  Fehlschlüsse  der  dogmatischen, 
metaphysischen  Psychologie  aufgedeckt  habe.  Indessen  ist  durch 
alle  diese  Vorstösse  gegen  die  unkritische  Psychologie  die  Frage 
nicht  zur  Entscheidung  gebracht.    Die  Entscheidung  liegt  in  der 


Der  intelligible  Charakter.  323 


Ethik,  als  einer  selbständigen  Disciplin  des  Systems;  als  einer 
Philosophie  mit  eigenem,  reinem  Inhalt.  Die  Ethik  des  reinen 
Willens,  des  reinen  Selbstbewusstseins;  desjenigen  Selbstbewusst- 
seins,  welches  durch  die  Selbstgesetzgebung  sich  vollzieht;  diese 
Ethik  des  Selbst  macht  die  Ethik  souverän  der  Psychologie 
gegenüber.  Das  gilt  von  der  bisherigen  Psychologie;  von  der 
Psychologie  in  unserem  Sinne  ist  vorauszusetzen,  dass  in  ihr  die 
Einheit  des  Bewusstseins  einen  andern  Sinn  empföngt,  als 
welcher  dem  Selbstbewusstsein  der  Ethik  zusteht. 

Diese  Bedeutung  der  Einheit  des  Bewusstseins,  welche 
wir  in  Aussicht  nehmen,  fehlt  nun  aber,  wie  wir  mehrfach 
gesehen  haben,  gänzlich  bei  Kant,  der  sie  sogar  nur  auf  einen 
Teil  des  theoretischen  Bewusstseins  einschränkt.  Indessen  ist  es 
nicht  dadurch  verhindert  worden,  dass  die  Autonomie  bei  Kant 
nicht  klar  und  ausdrücklich  als  die  Gesetzgebung  zum  Selbst 
ausgeführt  wurde;  sondern  es  hat  hier  der  intelligible 
Charakter  sich  als  Hemmniss  erwiesen.  Zwar  ist  er  nur  eine 
Idee;  aber  er  wird  nicht  als  solche  in  strenger  Nachdrücklichkeit 
und  Einschränkung  bezeichnet.  Vielmehr  steht  er  immer  unter 
dem  Nimbus  des  Ding  an  sich,  und  scheint  so,  als  homo 
noumenon,  die  Person  zu  umstrahlen.  Immer  wird  er,  wenn 
nicht  selbst  als  Person,  so  doch  wenigstens  als  ein  Gesetz  gedach  t 
welches,  als  solches,  seiend  ist.  Durch  dieses  intelligible  Sein 
entgleitet  jedoch  dem  Selbst  der  Autonomie  der  Charakter  der 
Aufgabe,  der  doch  allein  der  Idee  beiwohnen  kann.  Und  so  ent- 
steht und  befestigt  sich  die  Illusion,  als  ob  der  Autonomie  g  nug 
getan  würde,  wenn  ich  nur  aus  mir  selbst  das  Sitten  esetz 
schöpfe;  wenn  ich  es  nur  nicht  von  fremden  Mustern  entlehne, 
und  ihnen  nachahme;  wenn  ich  mich  nur  als  den  freien,  unab- 
hängigen, schöpferischen  Urheber  des  Sittengesetzes  betätige  und 
bezeuge. 

Im  Grunde  aber  ist  dieser  Bedeutung  der  Autonomie  schon 
durch  die  Methode  der  Reinheit  Genüge  geleistet.  Durch 
diese  Selbständigkeit  ist  der  reine  Wille  bedingt;  und  ebenso  das 
reine  Gesetz;  ebenso  die  reine  Handlung;  und  endlich  auch  das 
reine  Selbstbewusstsein.  Die  Selbstgesetzgebung  entwickelt  nun 
aber  die  Reinheit  zu  der  Höhe  und  Praegnanz,  dass  das  Selbst 
als  kraft   der  Gesetzgebung   sich   vollziehend   nunmehr   erkannt 

21* 


Die  Gesetzgebung  und  das  Selbst, 


Person,  die  durch  sie  vollzogen  wird,  erkenni  das  Selbst  sein 
Urbild  einer  moralischen  Person.  So  wird  die  Gesetzgebung  zum 
Monopol  der  Sittlichkeit.  Kein  Gott  kann  sie  ersetzen;  keine 
Natur;  keine  Macht  der  Geschichte.  Das  Alles  ist  Mystik,  welche 
nimmermehr  zu  einem  wahrhatlen  silllichen  Selbst  verhiltt.  Die 
Gesetzgebung  allein  erzeugt  das  Selbst  der  sittlichen  Handlun(>, 
des  geschichtlichen  Daseins. 

Innerhalb  der  geschichtlichen  Fruchtbarkeit  der  Gesetz- 
gebung kommt  dagegen  das  Selbst  zu  seinem  lebendigen,  nicht 
schattenhaften  Eigenwerte.  Kein  Individuum,  keine  Per- 
sönlichkeit darf  absoluten  Wert  für  und  über  das  sitt- 
liche Selbst  behaupten.  Die  Gesetzgebung  ist  die  Obliegenheit 
jedes  sittlichen  Menschen;  und  nur  in  dieser  ununterbrochenen 
Beziehung  auf  die  Gesetzgebung,  welche  ffir  das  Selbst  besieht, 
kann  das  Selbst  zur  Erzeugung  kommen.  Selbst  und  Gesetz- 
gebung bilden  eine  notwendige  Correlation.  Heteronomie 
ist  es,  einen  andern  Menschen,  und  wäre  er  der  grösste  Weise 
und  der  unzweifelhafteste  Wohltäter  des  Vaterlands  und  des 
Menschengeschlechts,  als  den  Träger  und  Urheber  der  Gesetz- 
gebung zu  machen,  die  unabtrennbar  ist  von  dem  Problem,  von 
dem  Begriffe  des  Selbst,  auf  welches  ich  mein  Selbstgefühl  zu 
beziehen  habe,  wenn  es  zum  ethischen  Selbstbewusstsein  aus- 
reifen soll.  Jetzt  habe  ich  nicht  mehr  zu  befürchten,  dass  dieses 
Selbst  unter  die  Zweideutigkeit  des  Egoismus  fallen  könnte;  die 
(iesetzgcbung  befreit  es  von  diesem  Verdacht  der  Isolierung,  und 
von  dieser  Gefahr  der  Verödung. 

Der  Echlcr   des  Egoismus   euthi'illt    sich    auch  hier 
als  der  der  Verwechselung    von  Psychologie    und  Ethik. 
Die  Psychologie  kann  in  den  Schein  verlocken,  dass  das  leb  als 
eine  wirksame  Potenz  fix  und  fertig  vorhanden  wäre;  oder  allen- 
falls sich  von  seinem   festen  Kerne   aus    nur   auszubauen   hätte. 
Gegen  dieses  Vorurteil   glaubt  man,   sei    kein    anderes  Kraut  ge- 
wachsen,  als   welches  Hume   entdc''  '•»>'"•     '•'•"    '*"•'  '"*■    •"•■■ 
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gesteht  man  es  zu,  dass  Kant  die  Fe 
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822  Die  Gesetzgebung  und  das  Selbst. 

Person,  die  durch  sie  vollzogen  wird,  erkennt  das  Selbst  sein 
Urbild  einer  moralischen  Person.  So  wird  die  Gesetzgebung  zum 
Monopol  der  Sittlichkeit.  Kein  Gott  kann  sie  ersetzen;  keine 
Natur;  keine  Macht  der  Geschichte.  Das  Alles  ist  Mystik,  welche 
nimmermehr  zu  einem  wahrhaften  sittlichen  Selbst  verhilft.  Die 
Gesetzgebung  allein  erzeugt  das  Selbst  der  sittlichen  Handlung, 
des  geschichtlichen  Daseins. 

Innerhalb  der  geschichtlichen  Fruchtbarkeit  der  Gesetz- 
gebung kommt  dagegen  das  Selbst  zu  seinem  lebendigen,  nicht 
schattenhaften  Eigenwerte.  Kein  Individuum,  keine  Per- 
sönlichkeit darf  absoluten  Wert  für  und  über  das  sitt- 
liche Selbst  behaupten.  Die  Gesetzgebung  ist  die  Obliegenheit 
jedes  sittlichen  Menschen;  und  nur  in  dieser  ununterbrochenen 
Beziehung  auf  die  Gesetzgebung,  welche  für  das  Selbst  besteht, 
kann  das  Selbst  zur  Erzeugung  kommen.  Selbst  und  Gesetz- 
gebung bilden  eine  notwendige  Correlation.  Heteronomie 
ist  es,  einen  andern  Menschen,  und  wäre  er  der  grösste  Weise 
und  der  unzweifelhafteste  Wohltäter  des  Vaterlands  und  des 
Menschengeschlechts,  als  den  Träger  und  Urheber  der  Gesetz- 
gebung zu  machen,  die  unabtrennbar  ist  von  dem  Problem,  von 
dem  Begriffe  des  Selbst,  auf  welches  ich  mein  Selbstgefühl  zu 
beziehen  habe,  wenn  es  zum  ethischen  Selbstbewusstsein  aus- 
reifen soll.  Jetzt  habe  ich  nicht  mehr  zu  befürchten,  dass  dieses 
Selbst  unter  die  Zweideutigkeit  des  Egoismus  fallen  könnte;  die 
Gesetzgebung  befreit  es  von  diesem  Verdacht  der  Isolierung,  und 
von  dieser  Gefahr  der  Verödung. 

Der  Fehler  des  Egoismus  enthüllt  sich  auch  hier 
als  der  der  Verwechselung  von  Psychologie  und  Ethik. 
Die  Psychologie  kann  in  den  Schein  verlocken,  dass  das  Ich  als 
eine  wirksame  Potenz  fix  und  fertig  vorhanden  wäre;  oder  allen- 
falls sich  von  seinem  festen  Kerne  aus  nur  auszubauen  hätte. 
Gegen  dieses  Vorurteil  glaubt  man,  sei  kein  anderes  Kraut  ge- 
wachsen, als  welches  Hume  entdeckt  habe,  dass  das  Ich  nur 
eine  Versammlung  von  Vorstellungen  bedeuten  könne.  Höchstens 
gesteht  man  es  zu,  dass  Kant  die  Fehlschlüsse  der  dogmatischen, 
metaphysischen  Psychologie  aufgedeckt  habe.  Indessen  ist  durch 
alle  diese  Vorstösse  gegen  die  unkritische  Psychologie  die  Frage 
nicht  zur  Entscheidung  gebracht.    Die  Entscheidung  liegt  in  der 


Der  intelligible  Charakter.  323 

Ethik,  als  einer  selbständigen  Disciplin  des  Systems;  als  einer 
Philosophie  mit  eigenem,  reinem  Inhalt.  Die  Ethik  des  reinen 
Willens,  des  reinen  Selbstbewusstseins;  desjenigen  Selbstbewusst- 
seins,  welches  durch  die  Selbstgesetzgebung  sich  vollzieht;  diese 
Ethik  des  Selbst  macht  die  Ethik  souverän  der  Psychologie 
gegenüber.  Das  gilt  von  der  bisherigen  Psychologie;  von  der 
Psychologie  in  unserem  Sinne  ist  vorauszusetzen,  dass  in  ihr  die 
Einheit  des  Bewusstseins  einen  andern  Sinn  empfangt,  als 
welcher  dem  Selbstbewusstsein  der  Ethik  zusteht. 

Diese  Bedeutung  der  Einheit  des  Bewusstseins,  welche 
wir  in  Aussicht  nehmen,  fehlt  nun  aber,  wie  wir  mehrfach 
gesehen  haben,  gänzlich  bei  Kant,  der  sie  sogar  nur  auf  einen 
Teil  des  theoretischen  Bewusstseins  einschränkt.  Indessen  ist  es 
nicht  dadurch  verhindert  worden,  dass  die  Autonomie  bei  Kant 
nicht  klar  und  ausdrücklich  als  die  Gesetzgebung  zum  Selbst 
ausgeführt  wurde;  sondern  es  hat  hier  der  intelligible 
Charakter  sich  als  Hemmniss  erwiesen.  Zwar  ist  er  nur  eine 
Idee;  aber  er  wird  nicht  als  solche  in  strenger  Nachdrücklichkeit 
und  Einschränkung  bezeichnet.  Vielmehr  steht  er  immer  unter 
dem  Nimbus  des  Ding  an  sich,  und  scheint  so,  als  homo 
noumenon,  die  Person  zu  umstrahlen.  Immer  wird  er,  wenn 
nicht  selbst  als  Person,  so  doch  wenigstens  als  ein  Gesetz  gedach  t 
welches,  als  solches,  seiend  ist.  Durch  dieses  intelligible  Sein 
entgleitet  jedoch  dem  Selbst  der  Autonomie  der  Charakter  der 
Aufgabe,  der  doch  allein  der  Idee  beiwohnen  kann.  Und  so  ent- 
steht und  befestigt  sich  die  Illusion,  als  ob  der  Autonomie  g  nug 
getan  würde,  wenn  ich  nur  aus  mir  selbst  das  Sitten  esetz 
schöpfe;  wenn  ich  es  nur  nicht  von  fremden  Mustern  entlehne, 
und  ihnen  nachahme;  wenn  ich  mich  nur  als  den  freien,  unab- 
hängigen, schöpferischen  Urheber  des  Sittengesetzes  betätige  und 
bezeuge. 

Im  Grunde  aber  ist  dieser  Bedeutung  der  Autonomie  schon 
durch  die  Methode  der  Reinheit  Genüge  geleistet.  Durch 
diese  Selbständigkeit  ist  der  reine  Wille  bedingt;  und  ebenso  das 
reine  Gesetz;  ebenso  die  reine  Handlung;  und  endlich  auch  das 
reine  Selbstbewusstsein.  Die  Selbstgesetzgebung  entwickelt  nun 
aber  die  Reinheit  zu  der  Höhe  und  Praegnanz,  dass  das  Selbst 
als  kraft   der  Gesetzgebung   sich   vollziehend   nunmehr   erkannt 


'>!• 


324  Die  politische  Freiheit. 


wird.  Dadurch  erst  wird  der  Zusammenhang  zwischen 
dem  reinen  Willen,  der  reinen  Handlung  und  dem 
reinen  Selbstbewusstsein  geschlossen.  Bei  Kant  hingegen 
bedeutet  die  Autonomie  im  Grunde  doch  nur  die  Freiheit  der 
Vernunft  gegenüber  der  Sinnlichkeit.  In  der  Vernunft  liegt  das 
Selbst.  Die  Vernunft  vertritt  das  Ding  an  sich  des  intelligibeln 
Charakters,  der  das  Gesetz,  die  Gesetzgebung  ermöglicht  und 
vollzieht.  Das  Selbst  wird  nicht  in  die  Aufgabe  auf- 
gelöst. 

So  wird  es  verständlich,  dass  die  Autonomie  bei  Kant  und 
bei  Schiller,  der  sie  besonders  populär  gemacht,  zunächst 
die  politische  Freiheit  zu  einer  ethischen  Bedeutung  bringt, 
die  ihr  vorher  noch  nicht  zuerkannt  war.  Spinoza  ist  in 
diesem  wichtigen  aktuellen  Punkte  theoretisch,  wie  praktisch, 
unklar.  Die  Sicherheit  dagegen,  mit  welcher  Kant  alle  die 
schönen  angeblichen  Prinzipien  der  Glückseligkeit  und  der  Voll- 
kommenheit einfach  als  Heteronomie  abweist,  und  Nichts  als 
sittliches  Grundgesetz  gelten  lässt  als  nur  die  Autonomie,  das  ist 
ein  Schlag  gegen  den  wohlwollenden  Absolutismus  aller  Art,  wie 
er  noch  niemals  geführt  worden  w^ar.  Eine  solche  durchgreifende 
Anwendung  auf  die  praktische  Politik  dürfte  auch  Piatons 
Republik  nicht  enthalten.  Aber  freilich  den  Zusammenhang  mit 
dem  Rechte  hat  Kant  nicht  im  Auge  behalten;  nicht  ins  Auge 
gefasst.  So  hat  er  auch  das  Selbst  nicht  als  die  Aufgabe  der- 
jenigen moralischen  Person  erkannt,  welche  in  der  juristischen 
Person  vom  Rechte  entwickelt  wird. 

Mehr  aber  noch  als  die  politische  Freiheit  ist  die  aesthe- 
tische  durch  diese  Autonomie  begründet  und  beleuchtet  worden. 
Es  besteht  ein  innerlicher  Zusammenhang  zwischen 
Kants  Ethik  und  seiner  Errichtung  der  Aesthetik.  Schon 
die  Natur-Teleologie  hat  diesen  Zusammenhang  erschlossen.  Von 
ihr  aus  hat  sich  Goethe  zu  Kant  hingefunden.  Es  ist  die  Frei- 
heit in  der  Kunst,  die  sich  so  für  ihn,  wie  für  Schiller,  aus 
einem  tiefen  Grunde  ergab.  Das  Land  der  Freiheit  stellt 
sich  vorzugsweise  dar  im  Reiche  der  Kunst.  Es  ist  das 
Reich  der  Schatten,  wo  die  reinen  Formen  wohnen.  Die  Idee 
ist  hier  vornehmlich  die  Gestalt,  und  als  solche  göttlich  unter 
Göttern.    Der  Menschheil   Götterbild   steigt   auf.    Die  Schöpfung 


Die  aesthetische  Freiheit.  325 


der  Idee  ist  das  Werk  des  Genius;  und  die  Freiheit  des  Genius 
verwirklicht  so  das  Gesetz  der  Freiheit.  Die  aesthetische  Freiheit 
soll  daher  die  Erziehung  und  Vorbedingung  bilden  zur  sittlichen 
Freiheit. 

So  ist  die  Autonomie,  als  schöpferische  Freiheit,  in  unserer 
classischen  Poesie  das  Sinnbild  nicht  nur,  sondern  die  Triebkraft 
der  geistigen  Kultur  geworden;  so  weit  sie  nicht  durch  den  Innern 
Rückgang  der  letzten  Jahrzehnte  verdunkelt,  verkrümmt  und 
verderbt  worden  ist.  Aber  darin  zeigt  sich  sogleich  die  Einseitigkeit, 
welche  die  absolute  aesthetische  Kultur  nicht  zu  überwinden  ver- 
mag. Ohne  wahrhafte  Freiheit  in  der  sittlichen  Kultur,  die  sich 
vorab  in  der  religiösen  Unbefangenheit  zu  erkennen  gibt;  und 
ohne  dass  die  ethische  Freiheit  in  einer  tiefen  Aufrichtigkeit  und 
Rückhaltlosigkeit  der  Politik  sich  kundgibt,  muss  der  aesthetische 
Sinn  verfallen.  Die  Klarheit,  das  sicherste  Kennzeichen  aesthetischer 
Wahrheit,  zerfliesst  in  Symbolismus;  und  über  den  allerlei 
Bedeutungen,  welche  das  falsche  Kunstwerk  darstellt,  waltet  ent- 
weder der  steife,  aber  feierliche  Trotz  einer  Unsittlichkeit,  die 
als  Freiheit  gilt,  weil  sie  die  Scheu  abgelegt  hat;  oder  aber  es 
kichert  aus  ihnen  die  Frivolität  heraus,  für  die  es  kein  Gesetz 
und  keine  Wahrheit  gibt. 

Die  wahre  Kunst  hat  die  Ethik  immerdar  zur  Voraussetzung. 
Und  die  Ethik  muss  die  Selbstgesetzgebung  schaffen.  Die  Ethik 
darf  aber  auch  den  Zusammenhang  mit  der  Metaphysik  nicht 
behalten,  der  im  absoluten  Ich  liegt.  So  wird  es  verständlich, 
dass  Schiller,  obwohl  er  über  das  Osmannstädter  Ich  spottete, 
dennoch  auf  Fichtes  Ich  sich  einlassen  konnte.  Das  Ich  der 
Ethik  aber  ist  und  bleibt  Aufgabe.  Aus  einer  Aufgabe  heraus 
kann  man  nicht  producieren;  nur  an  ihr  und  in  ihr  lässt  sich 
schaffen;  ihre  Lösung  schaffen;  welche  jedoch  stets  wieder  von 
Neuem  Aufgabe  wird. 

So  hat  es  sich  denn  immer  klarer  herausgestellt,  dass  die 
Selbstgesetzgebung  nicht  schon  das  Selbst  zur  Voraussetzung  hat; 
sondern  dass  in  der  Gesetzgebung  erst  die  Aufgabe  des  Selbst 
klar  herv'ortritt,  um  den  Entwicklungsgang  ihrer  Lösung  zu  be- 
schreiten. Wir  haben  schon  mehrfach  die  methodische  Bedeutung 
welche  der  Gesetzgebung  zusteht,  gegenüber  der  Handlung,  dem 
Willen  und  dem  Selbstbewusstsein  erwogen.  Wenn  der  Sokratische 


326  Der  Unterschied  zwischen  Gesetzgebung  und  Gesetz. 


Gedanke  durchgeführt  werden  soll;  wenn  Tugend  Wissen  ist,  nicht 
auf  der  Gunst  der  Natur  (eocpüia)  beruht;  noch  in  Uebung  und 
Routine  besteht;  noch  als  Temperament  abzutun  ist,  so  kann 
allein  der  Begriff  der  Gesetzgebung  den  Ausschlag  geben.  Die 
Gesetzgebung  macht  es  deutlich,  dass  nur  die  juristische  Person 
das  sittliche  Selbstbewusstsein  zu  bedeuten  und  darzustellen 
vermag. 

Indessen  auch  damit  wird  nur  erst  ein  Schritt  in  dem  Vollzug 
der  Methode  des  reinen  Willens  gethan.  Der  Schritt  beginnt  die 
Bahn,  die  zu  dem  Ziele  hinführt,  welches  in  dem  Selbst  der  sittlichen 
Person  vorgesteckt  ist.  Wir  müssen  jetzt  aber  die  weiteren 
Schritte  suchen.  Freilich  müssen  sie  mit  dem  ersten  Schritt 
zusammenhängen;  denn  die  Bahn  wird  als  eine  gerade  Linie  zu 
denken  sein.  Aber  wir  müssen  jetzt  uns  an  den  Begriff  der 
Handlung  halten;  denn  von  der  Handlung  wird  es  abhängen, 
ob  das  Ziel  erreicht  wird;  die  Handlung  wird  die  weiteren  Schritte 
zu  vollziehen  haben.  Wir  hatten  sie  bisher  nur  als  reine  Hand- 
lung ihrem  Begriffe  nach  betrachtet;  wie  das  Selbstbewusstsein 
durch  sie  bedingt  wird.  Jetzt  aber  kommt  es  darauf  an,  ihr 
Verhältniss  zur  Gesetzgebung  klarzustellen.  Da  handelt  es  sich 
nicht  mehr  nur  um  das  Problem  des  Gesetzes,  wie  es  von  der 
reinen  Handlung  lösbar  wird;  sondern  es  gilt  jetzt,  den  ein- 
zelnen Inhalt  des  reinen  Willens  zu  bedenken  und  zu  be- 
stimmen, wie  er  das  Problem  der  Gesetzgebung  bildet. 

Das  reine  Gesetz  kann  man  als  ein  allgemeines  Sittengesetz 
denken,  in  dem  die  einzelnen  Inhalte  zwar  enthalten  sein  müssen, 
aber  als  einzelne  nicht  entfaltet  zu  sein  brauchen.  Diese  Rück- 
sicht auf  den  einzelnen  Inhalt  drückt  sich  in  dem  Worte  Gesetz- 
gebung aus,  während  das  Gesetz  auf  den  allgemeinen  Inhalt 
hinweist.  Diese  Beziehung  auf  den  einzelnen  Inhalt  wohnt  auch 
der  Handlung  inne.  So  stehen  die  Handlung  und  die  Gesetz- 
gebung zusammen;  so  gehen  sie  zusammen,  um  das  Selbst,  das 
alleinige  Ziel,  zu  erreichen  und  zu  verwirklichen.  HicRhodus, 
hie  salta.  Die  Aufgabe  des  reinen  Willens  muss  in  der  Hand- 
lung zum  Vollzug  kommen.  Sie  widerlegt  die  These,  dass  der 
Wille  und  der  Intellekt  Dasselbe  seien. 

Wir  wissen,  dass  das  Denken  in  Bewegung  übergehen  kann; 
dass  die  Bewegung  dem  Denken  nicht  heterogen  ist.   Sie  braucht 


Die  einzelne  Handlung  und  der  einzelne  Inhalt.  327 

nicht  Reflexbewegung  zu  werden,  um  einen  Anfang  nehmen  zu 
können,  den  ihr  das  Denken  nicht  geben  könne.  Im  Denken 
selbst  vielmehr  nimmt  die  Bewegung  ihren  Ausgang;  hat  sie 
ihren  Ursprung.  Wenn  nun  aber  die  Bewegung  zur  Handlung 
auswächst,  so  wird  es  zweckmässig,  diesen  ethischen  Ursprung 
der  Handlung,  diesen  Ursprung  für  den  ethischen  BegriÄF  der 
Handlung  gesondert  und  eigentümlich  zu  bestimmen.  Die 
Tendenz  dient  nur  dem  logischen  Behufe,  und  dadurch  zum  Teil 
dem  psychologischen  Interesse.  Das  ethische  Problem  fordert 
ein  genaues  Analogon  zur  Selbstgesetzgebung.  So  kommen  wir 
zur  zweiten  Bedeutung  der  Autonomie. 

2.    Die  Selbstbestimmung. 

Bestimmung  erinnert  zunächst  an  die  Stimmung;  deren 
Willkür  und  Subjektivität  sie  zu  bewältigen  hat.  Dies  kann  ihr 
nur  gelingen  durch  den  Inhalt,  den  sie  erzeugt  und  gestaltet; 
der  der  Stimmung  versagt  bleibt.  Anderereeits  gemahnt  die  Be- 
stimmung auch  an  Schicksal  und  Verhängniss.  Aber 
wenn  dadurch  auch  die  Freiheit  bedroht  wird,  so  liegt  es  doch 
nicht  vom  Wege  ab,  bei  der  Handlung  sogleich  an  das  Schicksal 
zu  denken,  dem  die  Handlung  entgegengeführt  wird;  das  die 
Handlung  bereitet.  So  muss  die  Autonomie  zur  Selbstbe- 
stimmung werden. 

Vor  Allem  ist  hier  wieder  zu  bedenken,  dass  das  Selbst 
lediglich  Aufgabe  ist.  Es  ist  nicht  etwa  schon  vorhanden,  so 
dass  aus  ihm  die  Bestimmung  nur  zu  erfolgen  hätte.  Aber  es 
darf  freilich  auch  seine  Stelle  nicht  anderweit  eingenommen, 
oder  vorweggenommen  werden  von  fremden  Selbstern,  von 
fremden  Autoritäten,  welche  die  Handlung  zu  befehlen  und  zu 
leiten  sich  anmassen.  Sie  wäre  dann  nicht  Handlung.  Aber  es 
genügt  nicht  für  den  Begriff  der  Handlung  rücksichtlich  ihrer 
einzelnen  Verwirklichung,  dass  das  Selbst  als  ihre  Aufgabe  fest- 
gestellt wird.  Durch  das  Selbst  wird  immer  nur  der  allgemeine 
Inhalt  der  Aufgabe  bezeichnet;  jetzt  aber  handelt  es  sich  um  den 
einzelnen  Inhalt;  denn  jetzt  soll  die  Handlung  betrachtet  werden, 
wie  sie  sich  als  einzelne  Handlung  verwirklicht.  Wo  die 
Wirklichkeit  in  Frage  steht,   da   steht  die  Einzelheit  in 


828  Der  Vorsatz. 


Frage.  Das  haben  wir  aus  der  Logik  gelernt.  Das  Problem 
der  Wirklichkeit  ist  das  Problem  der  Einzelheit.  Die  Selbst- 
bestimmung soll  sich  für  die  einzelne  Handlung  bewähren. 

Die  Bestimmung  erinnert  demgemäss  auch  an  die  Be- 
stimmtheit. Durch  die  Selbstbestimmung  soll  die  Bestimmtheit 
der  Handlung  ins  Werk  gesetzt  werden.  Die  Bestimmtheit  ist 
nicht  nur  die  Bedingung  der  Einzelheit;  sondern  sie  bedeutet 
zugleich  die  Praecision  und  die  Klarheit  und  die  Sicherheit, 
welche  die  Kennzeichen,  die  unfehlbaren  und  untrüglichen  der 
reinen  Handlung  sind.  Da  bleibt  kein  Schwanken,  in  dem  die 
Handlung  hängen  bliebe.  Da  bleibt  keine  bange  Wahl;  sondern 
aus  der  Praecision  der  Wahl  geht  die  Bestimmtheit  der  Handlung 
hervor.  So  erkennen  wir  in  der  Selbstbestimmung  vor  Allem  das 
Specifische  des  Vorsatzes. 

Der  Vorsatz  ist  die  Vor>vahl,  die  Vorwegnahme,  die 
Vornahme  des  bestimmten  Inhalts  der  Handlung.  Der  Vorsatz 
ist  nicht  Ueberlegung,  sondern  Entscheidung;  Entscheidung  in 
der  Wirklichkeit,  in  der  einzelnen  Tatsache.  Daher  ohne  Vot- 
satz kein  Wille,  keine  Handlung.  In  dem  Vorsatze  aber 
scheinen  sich  Aufgabe  und  Wirklichkeit  zu  berühren.  Dies 
darf  nicht  auffallen;  das  ist  richtig  und  notwendig.  So  fordert 
es  der  Begriff  der  Aufgabe,  dass  sie  in  Lösung  übergehe;  und 
ebenso  wiederum  in  Aufgabe  zurückgehe.  Diesen  Weg  führt 
und  beschreitet  der  Vorsatz  in  der  Selbstbestimmung.  Die  Be- 
stimmtheit, die  Einzelheit  ist  der  Inhalt  der  wirklichen  Hand- 
lung, der  sich  verwirklichenden  Handlung. 

Man  kann  nun  fragen,  dass  es  doch  aber  nicht  lediglich 
auf  den  bestimmten  einzelnen  Inhalt  der  Handlung  ankomme, 
sondern  vor  Allem  und  über  Alles  auf  das  Selbst.  Die  Bestim- 
mung ist  ja  Selbstbestimmung.  Indessen  zeigt  sich  eben  darin 
die  eigene  Bedeutung  der  Autonomie,  als  Selbstbestimmung,  dass 
das  Selbst  in  dieses  Verhältniss  zu  der  Bestimmung  des  einzelnen 
Inhalts  der  Handlung,  zu  der  bestimmten  einzelnen  Handlung 
gesetzt  wird.  Jetzt  soll  es  sich  zeigen  und  erproben,  nicht  nur 
was  das  Selbst  wert  ist,  und  was  es  zu  leisten  vermag;  sondern 
auch,  was  die  Aufgabe  des  Selbst  bedeutet;  jetzt  soll  sich  ein 
eigener  Wert  und  eine  eigene  Bedeutsamkeit  dieser  Aufjgabe  des 


Die  Bestimmtheit.  829 


Selbst  darlegen.  Die  Selbstbestimmung  soll  eine  eigene  Stufe  in 
der  Entwickelung  der  Autonomie  bilden. 

Die  Selbstbestimmung  bringt  es  zur  Evidenz,  dass  es  sich 
bei  der  Autonomie  nicht  um  ein  schon  vorhandenes,  sondern 
schlechterdings  nur  um  ein  erst  zu  erzeugendes  Selbst  handelt. 
Erst  die  Bestimmtheit  der  einzelnen  Handlung  kann  das  Selbst 
zur  Erscheinung,  zur  Wirklichkeit  bringen;  genauer  ist  zu  sagen, 
dass  sie  allein  erst  die  Aufgabe  des  Selbst  zu  verwirklichen  ver- 
mag. Ohne  diese  Bestimmtheit  der  Handlung  wird  der  BegrifT 
der  Handlung  zur  Illusion;  und  mit  ihm  der  des  Selbst;  mit  ihm 
der  der  Aufgabe. 

Wir  erkennen  den  Fortschritt  von  der  Selbstgesetzgebung 
zur  Selbstbestimmung.  An  die  Selbstgesetzgebung  könnte  der 
Verdacht  herantreten,  als  ob  das  Gesetz,  welches  in  ihr  gegeben 
wird,  ohne  Inhalt  wäre.  Und  es  ist  dies  ja  der  allgemeinste 
Vorwurf,  unter  dem  die  Autonomie  bei  Kant  missverstanden 
wird.  Vielleicht  aber  kann  man  den  Fehler  des  Missverständ- 
nisses etwas  verkleinern  und  verbessern;  und  den  Missverstand 
dadurch  erklärlicher  machen.  Nicht  allen  Inhalt  überhaupt  hat 
man  in  der  allgemeinen  Gesetzgebung  vermisst,  sondern  eigent- 
lich wohl  nur  den  nicht  hinreichend  bestimmten  einzelnen 
Inhalt.  Da  mochte  es  denn  einerseits  scheinen,  dass  das  all- 
gemeine Gesetz  nicht  so  heissen  dürfte,  w^enn  es  nicht  allen 
einzelnen  Inhalt  der  Methode  nach  in  sich  enthielte,  andererseits 
aber  auch,  dass  es  diesen  einzelnen  Inhalt  nicht  zur  Entfaltung 
bringen  dürfe,  wofern  es  das  allgemeine  Gesetz  bleiben  soll. 
Man  empfand  das  Desiderat  der  Vermittelung  zwischen  dem  all- 
gemeinen und  allem  einzelnen  Inhalt;  man  durfte  diese  Ver- 
mittelung auch  in  der  Autonomie  fordern.  Diesem  Desiderat  soll 
die  Selbstbestimmung  gerecht  w^erden.  Auch  das  ethische  Selbst- 
bewusstsein  muss  vor  dieses  Problem  gestellt  werden;  seinBegriflF 
als  Aufgabe  muss  in  dieses  Verhältniss  zur  Bestimmtheit  der 
einzelnen  Handlung  hinausgeführt  werden:  in  der  Beschränkung 
der  Bestimmung  hat  das  Selbst  sich  zu  erzeugen;  als  Meister 
zu  erproben. 

Ohne  diesen  Schritt  in  die  Wirklichkeit  bliebe  das  Selbst, 
als  Aufgabe,  nur  Vorschrift  und  Musterbild;  und  wenn  es  so  auch 
nicht  mehr  lediglich   als  schon  vorhanden   gedacht  wird,   so  ist 


880  Gesinnung  und  Charakter. 

es  doch  im  Musterbilde  wenigstens  vorhanden.  Auch  das  i%\ 
vom  L'ebel:  auch  diese  idealere  Materialisierung  des  Selbst  muss 
beseitigt  werden.  Das  Selbst  muss  an  die  Selbstbestimmung 
gebunden  werden.  Ks  muss  demgemäss  also  an  den  Inhalt,  an 
die  Erzeugung  des  Inhalts  gebunden  werden,  in  der  und  somit 
in  dem  es  sich  zu  verwirklichen  und  zu  bewähren  hat.  Ks  kann 
also  letztlich  nicht  dabei  sein  Bewenden  haben,  wie  Kant  für 
die  Vorbereitung,  für  die  richtige  Instruktion  des  Problems  es 
fordern  durfte,  dass  es  nur  auf  die  Form  einer  allgemeinen 
(iesetzgebung  ankommt;  denn  es  stellt  sich  hierluM  das  Desiderat 
ein:  wie  aus  dieser  Form  der  einzelne  Inhalt  hervorgehe.  Ks 
genügt  nicht  zu  verstehen,  dass  er  daraus  hervorgehen  müsse 
und  könne;  man  will  auch  si*hen,  dass  und  wie  er  wirklich 
daraus  hervorgeht.  Diesen  Zusammenhang  der  Aufgabe  des 
Selbst  mit  der  Aufgabe  der  (iesetzgebung  in  Bezug  auf 
das  einzelne  (iesetz,  und  in  Bezug  auf  die  Entfaltung  di*^ 
Selbst  in  der  einzelnen  Handlung  stellt  die  Selbstbestimmung 
dar.  Sie  fuhrt  die  Freiheit  vor  die  Wahl  der  Bestimmtheit.  In 
der  Bestimmtheit  realisiert  sich  das  St*lbst. 

Der  Zusammenhang  zwischen  dem  Selbst  und  der  Bestimmt« 
heil  der  einzelnen  Handlung  ist  so  einleuchtend,  und  er  erscheint 
Ml  zwingend,  dass  die  Meinung  entstehen  kann,  die  Si*lbst- 
bestimmung  sei  ^era<lezu  gleichbedeutend  mit  der  Hy|iothese  di^ü 
niirmalen  Menschen,  des  normalen  Bewuvstseins.  Ks  kann 
scheinen,  als  ob  die  S«*! bst best immung  nichts  Anderes  zu  lM*sagen 
habe  als  den  alten  (ledanken  die  Freiheit  ist  die  Kinheit  der 
VtTnunft:  und  in  dirsrr  besteht  die  Kraft  des  (leistes.  l*nd  der 
(ieist  und  die  Vernunft  vollenden  sich  im  Willen.  Die  Kinheit 
des  B4*wusslN4*ins  ohne  den  Willen  ist  nicht  St'lbstbewusstsein 
^'om  Willen  aber  gilt  das  Wort  im  Anfang  war  die  Tat.  Vom 
reinrn  Willen  muss  es  heixsen  im  Anlang  ist  die  Handlung;  alv« 
die  IWstinimunu 

Dirser  KinwurI  alnT  wurzelt  in  einem  gelahrlichen  (truml* 
irrtuni.  nämlich  in  «ler  rnterscheidung  /w-is<*hen  dem  sogenannten 
(lliarakter,  iwler  M-heinbar  weniger  personilicierend,  der  all- 
^enieuxn  (iesinnunu  und  der  S<*hwaelie  im  Kin/elnen.  Würde 
diese  t  nterscheidun;;  m>  gemeint  sein,  «lass  Ausnahmen  in 
ein/«*liien  Handliingrn    >on    dem    \orwir;^enden  (iesamtbilde  des 


Der  neue  Anfang.  HSl 


Charakters  vorkommen  können,  so  möchte  sie  hingehen;  alsdann 
würde  der  Charakter  nur  gleichsam  ein  Ausdruck  des  statistischen 
Durchschnitts  sein.  Aber  das  ist  nicht  die  herrschende,  die 
innerlich  beherrschende  Ansicht  vom  Charakter.  Nach  dieser 
gilt  er  vielmehr  als  angeboren,  als  ererbt,  als  die  geheime 
Wurzelkraft  des  Menschen,  die  im  Dunkel  des  allgemeinen  Welt- 
grundes liege.  Und  wir  haben  gesehen,  dass  der  intelligible 
Charakter  als  dieser  Ansicht  verwandt,  als  die  tiefste  Bestätigung 
derselben  aufgefasst  wird.  Diesem  Mysticismus  tritt  das  Prinzip 
der  Selbstbestimmung  entgegen.  Und  es  ist,  als  ob  die  alte  Be- 
deutung von  dem  absoluten  Anfang  der  Freiheit  hier  zu  einer 
ganz  neuen  Geltung  gebracht  würde. 

In  jeder  einzelnen  Handlung  vollzieht  sich  ein 
neuer  Anfang.  Wie  sehr  die  Handlung  immer  mit  allen  vor- 
aufgehenden zusammenhängen  muss,  so  tritt  in  ihr  nicht  minder 
doch  eine  durchaus  neue  Bestimmung  ein.  Das  ist  der  Sinn 
dieses  Prinzips,  das  ist  die  Forderung,  die  es  stellt.  Ist  diese 
Forderung  eine  Illusion,  so  wird  das  ganze  Problem  des  reinen 
Willens  und  der  reinen  Ethik  damit  hinfällig.  Dann  gibt  es 
schlechterdings  keine  Freiheit;  und  zwar  auch  keine  Autonomie; 
auch  diese  in  keiner  Bedeutung.  Denn  es  wird  dann  zu  einer 
wertlosen,  unfruchtbaren  Ansicht,  dass  die  Sittlickeit  auf  Selbst- 
gesetzgebung beruhe.  Was  nützte  es,  dass  die  Gesetze  frei  ent- 
springen, wenn  sie  nicht  daraufhin  eben  frei  vollzogen  werden? 
Die  Selbstgesetzgebung  kann  nur  gleichsam  als  das  Ventil  be- 
trachtet werden,  die  Selbsthandlung  zu  entlassen  und  zu  ent- 
binden. So  sieht  man,  dass  Alles  auf  die  Selbstbestimmung 
hinausläuft.  Der  Wille,  die  Freiheit,  das  Selbst,  die  Handlung, 
sie  Alle  bleiben  in  der  Schwebe  der  allgemeinen  Abstraktion; 
die  bestimmte  einzelne  Handlung  erst  bringt  sie  zur  Anwendung 
und  zur  Realisierung. 

Die  Selbstbestimmung  hat  sonach  den  Vorzug,  dass  alle 
Bedingungen  des  reinen  Willens  in  ihr  sich  zusammenfassen. 
Die  Bestimmung  schliesst  das  Sprunghafte  des  scheinbaren  Willens 
aus;  als  ob  das  Plötzliche  ein  Symptom  der  Kraft  wäre.  Die 
Bestimmung  fordert  Praecision;  und  dieser  ist  die  Impetuosität 
widerstrebend.  Aber  auch  der  Wechsel,  wie  in  der  Stimmung, 
so  im  Wollen;  das  Schwanken  und  Flattern  von  einem  Ziel  zum 


880  Gesinnung  und  Charakter 

es  doch  im  Musterbiide  wenigstens  vorhanden.  Auch  das  i%t 
vom  Uebel:  auch  dit^se  idealere  Materialisierung  des  Selbst  muss 
l>eMMtiKt  werden.  Das  Selbst  muvs  an  die  Selbstiiestimmung 
gebunden  werden.  Ks  muss  demgemäss  also  an  den  Inhalt,  an 
die  Erzeugung  des  Inhalts  gebunden  werden,  in  der  und  somit 
in  dem  es  sich  zu  verwirklichen  und  zu  bewähren  hat.  Ks  kann 
also  letztlich  nicht  dabei  sein  Bewenden  haben,  wie  Kant  Tür 
die  Vorbereitung,  für  die  richtige  Instruktion  des  l^oblems  es 
fordern  durfte,  dass  es  nur  auf  die  Form  einer  allgemeinen 
(iesetzgebung  ankommt;  denn  es  stellt  sich  hierluM  das  Desiderat 
ein.  wie  aus  dieser  Form  der  einzelne  Inhalt  hervorgehe.  Ks 
genügt  nicht  zu  verstehen,  davs  er  daraus  her\'orgehen  müsse 
und  könne;  man  will  auch  sehen,  dass  und  wie  er  wirklich 
daraus  hervorgeht.  Diesen  Zusammenhang  der  Aufgabe  des 
Selbst  mit  der  Aufgabe  der  (iesetzgebung  in  Bezug  auf 
das  einzelne  (iesetz,  und  in  Bezug  auf  die  Kntfaltung  des 
Selbst  in  der  einzelnen  Handlung  stellt  die  Selbstbi*stimmung 
dar.  Sie  fuhrt  die  Freiheit  vor  die  Wahl  der  Bestimmtheit.  In 
<ler  Bestimmtheit  realisiert  sich  das  S4*lbst. 

Der  Zusammenhang  /wischen  dem  Selbst  und  der  Bestimmt- 
heit der  ein/einen  Han<llung  ist  so  einleuchtend,  und  er  ers(*heint 
so  z\Mn;;(*nd.  dass  die  Meinung  entstehen  kann,  die  Selbst- 
bestimmung si*i  geratle/u  gleichlM'deutend  mit  der  llypothesi*  des 
normalen  Menschen,  des  normalen  iWwuvstseins.  Ks  kann 
scheinen,  als  ob  die  St^ibst  best  immune  nichts  Änderte  zu  lM*sagen 
habe  iils  den  altrn  (ledanken  die  Freiheit  ist  die  Kinheit  der 
Vernunft;  um!  in  dirsrr  besteht  die  Kraft  des  (ieisles  Fnd  der 
(•eist  und  die  Vernunft  vollenden  sich  im  Willen.  Die  Kinheit 
des  Brwusstsrins  ohne  den  Willen  ist  nicht  St'lbstlM^wusstsein. 
\'om  Willen  aber  gilt  das  Wort  im  Anlang  war  die  Tat.  Vom 
mnrn  Willen  muvs  es  hrissen  im  Anfang  ist  die  Handlung;  alsi> 
«lie  B4*slimmun^ 

Dirsrr  Kinwurf  aber  \\ur/i*lt  in  einem  ^rlahrliclien  (irund- 
irrtuni,  n;inilirh  in  der  InterM-heidun;:  />^isclien  drni  sogenannten 
(.liarakler,  ihU-t  sclirinb.ir  wenimT  |»ersonilicierend,  «ler  all- 
;^fni('inrn  (irsinnun^  und  diT  .V*li>%a4*lie  im  Kin/elnen.  Wurde 
(tirsr  t'ntcrsiiicidun;;  so  ^rnieint  snn.  dass  Ausnahmen  in 
nn/flticn  llandliin;:rn    \4m    dem    \or\M<';;i-nd('ti  (iesamtbilde  des 


Der  neue  Anfang.  B8t 


Charakters  vorkommen  können,  so  möchte  sie  hingehen;  alsdann 
würde  der  Charakter  nur  gleichsam  ein  Ausdruck  des  statistischen 
Durchschnitts  sein.  Aber  das  ist  nicht  die  herrschende,  die 
innerlich  beherrschende  Ansicht  vom  Charakter.  Nach  dieser 
gilt  er  vielmehr  als  angeboren,  als  ererbt,  als  die  geheime 
Wurzelkraft  des  Menschen,  die  im  Dunkel  des  allgemeinen  Welt- 
grundes liege.  Und  wir  haben  gesehen,  dass  der  intelligible 
Charakter  als  dieser  Ansicht  v